Donnerstag, 18. April 2024

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Linke Sammlungsbewegung "Aufstehen"
"Es geht darum, den Sozialstaat zu verteidigen"

Viele Menschen fühlten sich mit ihren Sorgen von den Parteien nicht mehr vertreten, sagte Fabio de Masi, Linke, im Dlf. Tausende würden sich für Politik begeistern, wenn man ihnen ein überzeugendes Angebot mache. In drei Tagen habe es mehr Mitgliederanträge für die Sammlungsbewegung gegeben als die AfD Mitglieder habe.

Fabio de Masi im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 06.08.2018
    Der Spitzenkandidat der Linken in Hamburg, Fabio De Masi, spricht am 01.09.2017 auf einer Bühne in Hamburg. Foto: Daniel Reinhardt/dpa | Verwendung weltweit
    Der stellvertretende Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag, Fabio de Masi (dpa / Daniel Reinhardt)
    Dirk-Oliver Heckmann: Sahra Wagenknecht hat geschrieben, seit der Bundestagswahl klaffe zwischen Politikern und deren Wählerschaft eine solche Vertrauenslücke, dass Wahlen zur Farce und demokratische Rechte substanzlos würden. Weshalb, Herr de Masi, beteiligt sich die Linke daran, Demokratie und Rechtsstaat in Deutschland schlechtzureden. Ist das nicht purer Populismus?
    Fabio de Masi: Nein. Es ist so, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung sich für bezahlbare Mieten, für gute Pflege, gegen Armutsrenten, für eine Steuergerechtigkeit und auch gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr ausspricht, dass diese Mehrheiten aber keine Mehrheiten im Parlament haben. Und das kann die Linke eben allein nicht verändern.
    Heckmann: Wenn die Wähler halt anders wählen und eben nicht der Linken beispielsweise ihre Stimmen geben, ist das nicht Demokratie?
    de Masi: Das Problem ist ja, dass viele Menschen sich von der Demokratie auch daher abwenden, weil sie keine Erwartungen an die Parteien mehr haben. Das heißt, sie gehen erst gar nicht mehr zur Wahl, oder sie werden eben von den Demagogen der AfD angesprochen. Und das erkennen wir daran, dass ja zum Beispiel kurzzeitig beim Antritt von Martin Schulz ein Umfragehoch da war und all diese Wählerinnen und Wähler sind wieder verschwunden. Die sind auch nicht zur Linken gekommen. Das heißt, da wurden offenbar Erwartungen geweckt, die dann aber wieder enttäuscht wurden, als die Wählerinnen und Wähler erkannt haben, dass dort kein Wechsel bevorsteht.
    "Wir leisten einen großen Beitrag zur Demokratie"
    Heckmann: So ist es in der Demokratie, dass Wählerinnen und Wähler sich überlegen, mal die eine Partei, mal die andere zu wählen. Sie stellen das Ergebnis demokratischer Wahlen infrage.
    de Masi: Nein, ich stelle nicht das Ergebnis demokratischer Wahlen infrage, sondern wir haben ja erlebt, zum Beispiel in den USA mit der Bewegung um Bernie Sanders, wir haben erlebt mit den Entwicklungen in der Labour Party in Großbritannien und Jeremy Corbyn, dass sich wieder Tausende für Politik begeistern, wenn man ihnen ein überzeugendes Angebot macht. Insofern leisten wir einen großen Beitrag zur Demokratie. Und entscheidend ist nicht, was Frau Baerbock sagt, entscheidend ist übrigens auch nicht, was Herr Stegner sagt, zu 'Aufstehen' Herr Stegner. Der hat auch die Auswechslung von Toni Kroos gegen Schweden gefordert, kurz danach machte der ein Tor. Das ist dann eher ein gutes Omen. Entscheidend ist, was die Taxifahrer, Krankenschwestern oder Leiharbeiter sagen, die uns täglich auf diese Bewegung ansprechen. Wir haben in drei Tagen mehr Beitritte zu dieser Bewegung verzeichnet als die AfD an Mitgliedern hat. Das ist ein gutes Zeichen für die Demokratie.
    Heckmann: Jetzt sagen Sie, entscheidend ist nicht, was Annalena Baerbock sagt. Trotzdem möchte ich sie zitieren. Sie hat nämlich gesagt, die Linke solle sich erst mal klar machen, ob sie auf nationalistische Töne verzichten will. Will das die Linke?
    de Masi: Ich weiß nicht, was Frau Baerbock damit meint. Ich erlebe, dass wir eine Europapolitik beispielsweise haben, die dazu führt, dass durch Kürzungen von Löhnen und Renten Europa und der europäische Zusammenhalt zerfällt, dass die deutsche Wirtschaftspolitik gegenüber Griechenland beispielsweise eine Katastrophe war. Das nenne ich eine Form des Nationalismus. Da haben sich übrigens auch führende Grüne an diesen europapolitischen Entscheidungen beteiligt. Wenn man aber sagt, wir möchten keine Armutsrenten in Deutschland, wir möchten zum Beispiel, dass es eine bestimmte Zahl an Pflegekräften in den Krankenhäusern gibt, die vorgehalten wird, wie in anderen europäischen Ländern, dann ist das nicht nationalistisch, sondern es geht einfach darum, den Sozialstaat zu verteidigen, und auch die Demokratie. Und mit solchen Kampfbegriffen kann ich leider nichts anfangen, und das ist auch etwas lächerlich. Wer zum Beispiel meine Familiengeschichte kennt, als Enkel eines italienischen Widerstandskämpfers – da habe ich überhaupt keine Bringschuld gegenüber Frau Baerbock.
    "Das sind Begriffe, die die politische Kultur vergiften"
    Heckmann: Haben Sie sicherlich nicht, aber es ging ja jetzt um Äußerungen von Sara Wagenknecht beispielsweise auch.
    de Masi: Auch Sara Wagenknecht ist keine Nationalistin.
    Heckmann: Ja, aber würden Sie in Abrede stellen …
    de Masi: Das sind Begriffe, die die politische Kultur vergiften. Man sollte sich doch mal um jene kümmern, die beispielsweise wie die Alternative für Deutschland Menschen gegeneinander aufbringen. Aber indem man Menschen, die sagen, wir stehen für eine andere Politik, wir wollen Parteispenden von Unternehmen verbieten, wir finden den Abstieg, den jemand durch Hartz-VI machen kann – Hartz-IV war ja auch ein Beitrag zum Drücken der Löhne –, dass das den sozialen Zusammenhalt in Deutschland gefährdet, dann ist man doch bitte schön kein Nationalist, sondern das sind demokratische Forderungen.
    Heckmann: Herr de Masi, es gibt eine Äußerung beispielsweise von Sara Wagenknecht, sie hatte den Anschlag von Ansbach mit der Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin in Verbindung gebracht und hat ja auch innerhalb ihrer eigenen Partei deutlichsten Widerspruch geerntet. Das ist doch nicht aus der hohlen Luft geholt.
    de Masi: Frau Wagenknecht ist der Überzeugung, wie übrigens auch Sozialdemokraten und Grüne, die sich unserer Bewegung derzeit anschließen, dass wir die Bekämpfung von Fluchtursachen in den Mittelpunkt stellen müssen, nämlich deutsche Waffen, die überall in Spannungsgebiete exportiert werden, dass wir die unfaire Handelspolitik in den Mittelpunkt stellen müssen. Es ist ja keine gute Sache, wenn Menschen ihre sozialen Beziehungen, ihre Heimat aufgeben müssen. Und dass wir für die Menschen, die hier sind, gute Integration leisten müssen, daran ist überhaupt nichts rechts. Nur, dass man eben auch darüber sprechen muss, dass, wenn Menschen zu uns kommen, man Geld in die Hand nehmen muss, um in Schulen, in Krankenhäuser zu investieren, und dass das Frau Merkel nicht gemacht und dass sie damit mit dazu beiträgt, dass Menschen ohne Perspektive hier sind und soziale Ghettos entstehen, weil es eben nicht gelingt, Integration gut zu finanzieren, die Investitionen zu tätigen, die wir in Deutschland bräuchten. Das ist doch nicht rechts.
    "Man braucht eine hohe innere Toleranz"
    Heckmann: Und Sie spielen damit nicht die Interessen der Flüchtlinge gegen die der deutschen Bevölkerung, der einheimischen Bevölkerung aus?
    de Masi: Nein, im Gegenteil, denn sowohl die Flüchtlinge als auch die Menschen, die bereits hier leben, die haben ja ein Interesse daran, dass wir gute Schulen, gute Universitäten, gute Krankenhäuser haben. Und diejenigen, die dafür sorgen, dass zum Beispiel Flüchtlinge ausgebeutet werden zu geringen Löhnen und sie hier gegen die Beschäftigten ausspielen, die spielen Flüchtlinge aus. Deswegen hat ja zum Beispiel ganz schnell der Bundesverband der Deutschen Industrie Forderungen gestellt, dass bestimmte Lohnuntergrenzen für Flüchtlinge nicht mehr gelten sollten. Das sind doch die Leute, die das politische Klima vergiften, und nicht die Flüchtlinge selbst oder Menschen, die sich Sorgen um ihre Löhne machen.
    Heckmann: Herr de Masi, Sara Wagenknecht nimmt ja für sich in Anspruch, das linke Lager zusammenführen zu wollen. Faktisch tut sie genau das Gegenteil, kann man jedenfalls beobachten oder zumindest so interpretieren, denn sie stellt ja die Vorbedingung, dass die SPD beispielsweise ihren Agenda-2010-Kurs ändern müsse. Das heißt, das ist das Gegenteil von Zusammenführen, oder?
    de Masi: Die Frage ist, was ist denn das linke Lager? Wenn man eine Politik wie die Agenda 2010 macht, die zu Leiharbeit, zu Befristung ohne sachlichen Grund, zu Hartz-IV geführt hat, wenn man die Rentenformel in Deutschland zerstört, dann gehört man ja nicht mehr dem linken Lager an. Ansonsten sind ja Begriffe wie "links" oder "rechts" völlig bedeutungslos. Und deswegen geht es eben darum, die vielen Tausende anständige Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die nicht mit dem Kurs sagen wir von Olaf Scholz oder Andrea Nahles einverstanden sind, dass die eine Möglichkeit haben, sich gemeinsam mit Mitgliedern der Linken, mit Mitgliedern von Grünen, aber auch Parteilosen in einer Bewegung zu engagieren, bei der es nicht darum geht, ob man jetzt einen Schriftführer wählt in einem verrauchten Hinterzimmer einer Kneipe, sondern in der man sich für Themen engagiert. Denn Parteien sind ja kein Selbstzweck. Und wir wollen all die vielen Menschen gewinnen, die sagen, wir haben hier Gemeinsamkeiten. Das schließt übrigens nicht aus, dass man zu Europa oder auch in der Flüchtlingspolitik im Detail unterschiedliche Auffassungen hat. Man braucht eine hohe innere Toleranz. Aber wir sind uns einig, dass wir diese sozialen Themen wieder in den Mittelpunkt der Politik stellen müssen, und von daher ist es mir relativ egal, ob dies Projekt Herrn Scholz passt. Solange es dem Handwerker, der Krankenschwester, dem Taxifahrer passt, und das zeigen die Reaktionen, bin ich sehr glücklich.
    Heckmann: Der stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Linke, Fabio de Masi, war das live hier im Deutschlandfunk. Danke Ihnen für Ihre Zeit, Herr de Masi!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.