Dienstag, 19. März 2024

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Ljudmila Ulitzkaja: "Eine Seuche in der Stadt"
Ein Fundstück als Corona-Literatur

Moskau 1939: Häftlingstransporter schwärmen aus, Geheimpolizisten hämmern an Wohnungstüren, verängstigte Bewohner öffnen, werden abgeführt. Doch ausnahmsweise jagen sie nicht den Klassenfeind. Sie jagen die Lungenpest. "Eine Seuche in der Stadt" von Ljudmila Ulitzkaja liest sich als schwarzhumorige Groteske.

Yannic Han Biao Federer | 01.03.2021
Ein Portrait der Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja und das Cover ihres Romans „Eine Seuche in der Stadt. Szenario“
Die russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja setzt sich seit Jahrzehnten mit dem Erbe der Stalin-Zeit auseinander. Ihre aktuelle Erzählung nimmt sich einem kaum bekannten Ausbruch der Lungenpest im Moskau der ausgehenden 1930er Jahre an. (Buchcover Hanser Verlag / Portrait © Cato Lein )
Über die Covid-19-Pandemie zu schreiben, ist vermutlich nicht ganz einfach. Sie betrifft jede und jeden, mehr oder weniger, sie verändert alles, mehr oder weniger, und dringt als Thema nolens volens irgendwann in jedes berufliche oder private Gespräch ein. Wie da noch etwas sagen, das neu ist und anders, also: lesenswert? Die russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja wählt dafür statt Sars-Cov2 die ungleich tödlichere Lungenpest, und weder Homeoffice noch Lieferdienste spielen eine größere Rolle, denn die Handlung trägt sich im Moskau der 30er-Jahre zu.
"In einer Isolierkammer sitzt Rudolf Iwanowitsch Mayer. Er trägt Schutzanzug und -maske. Sein Gesicht ist nicht zu sehen, seine Hände stecken in Handschuhen. Mit einer langen Nadel verteilt er eine Zellkultur auf Petrischalen. […] Auf dem Tisch der Pförtnerin klingelt schrill und anhaltend das Telefon. […] 'Mayer! Telefon! Moskau für dich! Komm! Ein wütender Natschalnik ruft dich!' Mayer in seiner Isolierkammer legt die Nadel beiseite, hält inne. Das Klopfen ärgert ihn. 'Gleich! Gleich!' Seine Stimme klingt dumpf unter der Maske. Die Maske verrutscht ein wenig, die Kinnhalterung hat sich gelöst."

Infizierter Impfstoffforscher

Da ist es um Mayer schon geschehen, der Impfstoffforscher hat sich an seinen eigenen Pestkulturen angesteckt und zwar just in dem Moment, in dem ihm der politische Apparat zu Leibe rückt. Denn der ungeduldige Natschalnik sitzt im Kollegium des Volkskommissariats für Gesundheit, er zitiert Mayer nach Moskau, damit er Bericht erstattet über sein Vakzin gegen die Lungenpest. Dafür sei es noch zu früh, warnt der frisch infizierte Immunologe, sechs bis acht Wochen brauche es noch. Doch vergebens, der Apparatschik will nicht hören. Und so verbreitet Mayer zwischen Zugabteil, Hotel und Kommissariatssitzung jene Erreger, über deren Bekämpfung er doch eigentlich Rapport erstatten sollte. Er hustet, spuckt pinken Schaum, bald ist er tot.
Nun entfaltet Ulitzkajas schmaler Band, mit welch furchtbarer Effizienz sich die sowjetische Geheimpolizei auf die schnelle und lückenlose Nachverfolgung von Kontaktpersonen versteht. Das nämlich, nur aus anderen Anlässen, ist schließlich auch ihr hergebrachtes Kerngeschäft. Eine zynische Pointe, die dabei keineswegs subtil daherkommt. Denn als Diktator Stalin vom Volkskommissar um Unterstützung gebeten wird, ist dieser nur kurzzeitig irritiert, wie der Lage abzuhelfen sei.
"'Wenn binnen zwei Tagen nicht sämtliche Kontaktpersonen des Infizierten isoliert werden, könnte eine Seuche ausbrechen.'
'Haben Sie Listen aufgestellt?'
'Wir sind dabei. […]'
'Gut!' Der Mächtige Mann steht entschlossen auf. 'Wir helfen. Bei den Listen und auch bei der Liquidierung.'
Der Volkskommissar erstarrt. 'Nein, nein, es geht nur um Quarantäne. Nicht um Liquidierung.'
Der Mächtige Mann sieht den Volkskommissar von oben herab an und sagt ein wenig spöttisch: 'Auch dabei werden wir helfen. Wir haben da unsere Möglichkeiten…'"

Infektionsschutz mit Angst und Schrecken

Kaum einer ahnt, dass die Geheimpolizei nun in Sachen Infektionsschutz unterwegs ist und nicht, wie sonst, zur Verfolgung des Klassenfeindes, auch nicht die, vor deren Häusern die sogenannten Schwarzen Raben halten, dunkel lackierte Häftlingstransporter. Sie verbreiten Angst und Schrecken. Manch einer hat für diesen Fall schon vorgesorgt, zieht einen vorbereiteten Brief "[a]n den Genossen Stalin" aus der Schublade und erschießt sich. Andere haben Angehörige, die, kaum ist die Kontaktperson abgeführt, zum nächsten Büro der Geheimpolizei eilen, um den Abgeführten weiter zu belasten. Oder aber sie packen Hilfspakete, stellen sich in die langen Schlangen vor den Untersuchungsgefängnissen, erkundigen sich, ob der Ehemann hierher gebracht worden sei, ob man etwas für ihn abgeben dürfe. Am Ende hat die Lungenpest drei Opfer gefordert, abgesehen von den Kollateralschäden aus vorauseilendem Gehorsam, und einer der Entlassenen ruft freudig, als er nach Hause kommt: "Dina, es war die Pest! Nur die Pest!"
"Eine Seuche in der Stadt", scheint Ulitzkaja uns hiermit sagen zu wollen, ist das ungleich kleinere Übel im Vergleich zur totalen Herrschaft. Zweifellos ist dem so, und wer Ulitzkaja kennt, ihre jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, ihr Warnen vor dessen Rehabilitierung unter Putin, gegen dessen Autoritarismus sie sich häufig und mutig engagiert hat, der mag sofort einsehen, dass es sich hier um eine schwarzhumorige Groteske handelt, um eine scharfe Abrechnung mit dem Terror der Geheimpolizei. Geschrieben hat sie Ulitzkaja nicht erst heute, sondern bereits 1978.
42 Jahre später fiel Ulitzkaja das Skript nun wieder in die Hände, der Verlag befand, es sei verblüffend aktuell. Ob es aber wirklich als Beitrag zur nun anwachsenden Corona-Literatur taugt, ist eine andere Frage. Zumindest aus dem Zusammenhang gerissen könnte sich manch einer an diesem Text ergötzen, der schon in der Maskenpflicht das kalte Band des Terrors zu spüren glaubt.
Ljudmila Ulitzkaja: "Eine Seuche in der Stadt. Szenario"
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Hanser Verlag, München, 112 Seiten, 16 Euro