"Ich ... stehe unter dem Schicksalsgebot, alles innerhalb eines Menschenlebens zu vollenden. Mir steht nur eine nüchterne Weltanschauung zur Seite, auf Realitäten begründet, deren Versprechen greifbare Formen annehmen müssen und die mir verbietet, den Mond zu versprechen. Verhängnisvollerweise musste ich alles während der kurzen Spanne eines Menschenlebens vollenden. ... Dort, wo die anderen über eine Ewigkeit verfügen, habe ich nur einige armselige Jahre. Die anderen wissen, dass sie Nachfolger haben werden."
Weil seine Zeit knapp bemessen war, wollte Hitler den von ihm geplanten Krieg zur Eroberung von "Lebensraum" für das deutsche Volk so früh wie möglich vom Zaun brechen, eigentlich schon 1938, woran ihn nur die nicht kalkulierte Nachgiebigkeit der Westmächte hinderte. So musste er sein Vorhaben um ein Jahr aufschieben.
Sebastian Haffner hat Hitlers Zeitobsession, in welcher das Projekt des Raumgewinns letztlich unter dem des Zeitgewinns zurückstand, als "Unterordnung seines politischen Zeitplans unter seine persönliche Lebenserwartung" gedeutet. Psychoanalytisch gesprochen handelt es sich hier um eine grandiose narzißtische Phantasie, für die individuelle Lebenszeit und Weltzeit zusammenfallen. Ich bin der Vollender, nach mir kommt nichts - oder die Sintflut.
Das Provozierende von Lothar Baiers "18 Versuchen über die Beschleunigung", einer lockeren Reihe von Essays zum Thema "Zeit", von der wir bekanntlich alle zu wenig haben, liegt daran, dass ihr Autor die von ihm zitierten Hitlerschen Sätze nicht als die irren Aussagen eines erkennbar Größenwahnsinnigen abtut, sondern sie als erstaunlich gegenwartskonform qualifiziert. Der heiße Zeitkern von Hitlers Projekt, so Baiers These, sei auch der Zeitkern der globalisierten westlichen Zivilisation. In den höchstentwickelten Ländern, schreibt Baier, "verhalten sich die Menschen ... so, als rechneten sie eigentlich nicht mehr mit gattungsmäßigen Nachfolgern". Indem wir uns nur noch an kurzfristigen Vorteilen und Profiten orientieren, am Auf und Ab von Börsenkursen und Wertpapieren oder am schnellen Schnäppchen; indem wir zugunsten unseres Instantamüsements die Biosphäre selber in Mitleidenschaft ziehen und ohne Skrupel bereit sind, den nachfolgenden Generationen eine strahlende Müllhalde zu hinterlassen, deren Halbwertzeit jeden denkbaren Generationenvertrag aushebelt - indem wir dies tun, "vollenden" wir, wenn auch mit anderen Mitteln und vermutlich mit anderen Absichten, jenes Hitlersche Projekt, wonach unsere Lebenszeit mit der Weltzeit ineins fällt. Die schon ältere Beobachtung Walter Benjamins, wir sogenannten Zivilisierten seien kaum fähig, "über Saisonabschlüsse hinaus" zu denken und zu fühlen, ist heute zutreffender denn je. Und ist Baiers Diagnose, unsere Zivilisation sei in ihrem Innern apokalyptisch und suizidal, wirklich so abwegig?
Zum Bücherlesen, sagen viele Menschen heute, hätten sie keine Zeit mehr. Dabei können sie sich auf den französischen Schriftsteller Anatol France berufen, der, auf sein Verhältnis zu seinem Kollegen Marcel Proust angesprochen, antwortete:
"Was wollen Sie? Das Leben ist zu kurz und Proust ist zu lang."
"Dass die meisten von uns das Leben als "zu kurz" empfinden und Bücher als "zu lang", hängt, so mag es fast scheinen, mit jenem hochmodernen neuheidnischen Narzißmus zusammen, der es nicht erträgt, dass es außer der persönlichen Lebenszeit noch eine andere Zeit gibt, die über sie hinaus und damit in ihre Schranken weist - zum Beispiel die Zeit eines Buches. Bei der langsamen und genauen Lektüre von Baiers Essays könnten der geneigte Leser und die geneigte Leserin lernen, was es heißt, die eigene Lebenszeit einer anderen, gleichsam objektiveren Zeitökonomik zu unterstellen als der, die uns ständig dazu zwingen will, uns selbst und das Hier und Jetzt zum absoluten Maßstab zu nehmen.
Hans Martin Lohmann besprach "Keine Zeit! 18 Versuche über die Beschleunigung" von Lothar Baier. Erschienen ist der 223 Seiten starke Band im Verlag Antje Kunstmann und kostet 32,-- Mark. Wenn Sie, meine Damen und Herren, diese Sendung als Plädoyer für das Lesen gehört haben, hat die Sendung ihren Zweck erfüllt. Noch einmal Lothar Baier:
Unter dem Gesichtspunkt der Verbindung mit der Zeit betrachtet, bedeutet Bücherlesen keineswegs bloß einen vielleicht liebenswerten, aber letzten Endes marginalen Zeitvertreib; es kann nämlich auch als Metapher für den Umgang mit der Zeit aufgefasst werden, den die im Sinne ihrer Vordenker verstandene Demokratie verlangt... Eile schadet dem Denken, hatte bereits Platon eingesehen; sie fördert höchstens das Auftreten von Sophisten.