Auffallend lustlos leierte Zhu Rongji seine Rede herunter, als er am Vorabend des 1. Oktober im Bankettsaal der Großen Halle des Volkes die geladenen Gäste begrüßte. Vielleicht, weil es sein letzter offizieller Auftritt zu diesem Anlass war. Auf dem anstehenden Parteitag sollen die wichtigsten Posten in Chinas Einheitspartei neu besetzt werden, und auf dem Volkskongress im nächsten März auch die höchsten Regierungsämter. Zhus Tage an der Spitze sind gezählt – als chinesischer Ministerpräsident und als Mitglied im Politbüro, dem innersten Machtzirkel der Kommunistischen Partei. Immerhin ist der beliebte Premier 73 Jahre alt und nähert sich selbst nach kommunistischem Verständnis unweigerlich der Altersgrenze. Im vergangenen Jahr konnte Zhu auf einer Pressekonferenz darüber noch Witze machen:
Ich habe kürzlich einige Berichte gelesen, unter anderem in der Financial Times, worin es hieß, Premier Zhu ist ziemlich alt. In anderen Worten, er ist zu nichts mehr nütze. Sie haben recht damit, dass ich alt bin, vielleicht älter als Sie alle hier. Ich kann Ihnen nur bestätigen, dass meine Amtszeit bis 2003 dauert. Aber es ist zu früh, um Ihnen zu sagen, wer mir als Ministerpräsident nachfolgen wird.
Der Mann mit dem starken südchinesischen Akzent ist zweifellos der beliebteste chinesische Politiker. Boss Zhu nennt man ihn. Er gilt als Macher - und als einziger, der die Probleme beim Namen nennt. Als vor vier Jahren die große Flut am Jangtse viele Dämme zerstörte, prangerte Zhu Rongji öffentlich die "Tofu-Bauten" korrupter Kader an. Das Volk sieht ihn als Saubermann inmitten eines Sumpfes an Korruption, der sich bis in die höchsten Führungsebenen erstreckt. Mit diesem Pfund kann er wuchern und andere Genossen in Zugzwang bringen. Wenn Zhu trotz seiner Beliebtheit abtritt, dann müssen sich alle an die Regel halten. Die heißt: mit 70 ist Schluss! Und wurde von Parteichef Jiang Zemin persönlich aufgestellt, der – nebenbei gesagt - bereits 76 ist. Zwar steht sie nirgends schwarz auf weiß, doch im Olymp der Macht rechnet sich derzeit jeder potentielle Nachfolger seine Chancen aus. Zum Beispiel Xü Kuangdi, der als Bürgermeister von Shanghai und "Vater des Transrapid" als einer der Aufsteiger in Chinas Führungsriege galt. Bis er vor einem Jahr unter mysteriösen Umständen abtrat und als Chef einer unbedeutenden Pekinger Wissenschaftsakademie wieder auftauchte. Xü erklärte dies mit chinesischer Polit-Arithmetik:
Wir haben das Prinzip abgeschafft, dass Beamte ihre Ämter auf Lebenszeit ausüben dürfen. Das heißt, als Minister oder Provinzgouverneur kann man nicht mehr als zwei Amtszeiten ausüben, also maximal 10 Jahre. Zudem gibt es die Regel, dass man mit 65 alle Positionen auf Ministerebene aufgeben muss. Das galt auch für mich als Shanghaier Bürgermeister. Aber dadurch, dass ich mit 64 Jahren und 3 Monaten abberufen wurde und nun in einer akademischen Stellung tätig bin, kann ich noch etwas für mein Land tun.
"Mit mir ist noch zu rechnen!" sollte Xü’s Botschaft wohl heißen. Im Grunde aber bleibt alles Spekulation in einem System, in dem Transparenz ein Fremdwort ist. Zudem ist noch kein Machtwechsel in China geordnet abgelaufen. Maos designierter Nachfolger Liu Shaoqi fiel in Ungnade und starb im Gefängnis. Der damalige Armeechef Lin Biao floh, als sein Attentats-Versuch gegen Mao entlarvt wurde und stürzte auf der Flucht mit dem Flugzeug ab. Deng Xiaoping, Chinas großer Wirtschafts-Reformer, kam erst zum Zug, als er die Viererbande und den von Mao eingesetzten Statthalter Hua Guofeng entmachtet hatte. Jiang Zemin wurde von Deng nach der blutigen Niederschlagung der Studentenbewegung 1989 nach Peking geholt, um den gestürzten Parteichef Zhao Ziyang zu ersetzen. Nun soll Jiang einem Mann Platz machen, den ebenfalls sein Mentor Deng Xiaoping auserkoren hatte. Hu Jintao durfte als einziges Politbüromitglied in dem Flugzeug sitzen, mit dem 1997 die Asche Deng Xiaopings über dem Südchinesischen Meer verstreut wurde. Nach kommunistischer Lesart war das seine Weihe für höhere Aufgaben.
Im Mai 1999 verteidigte Hu Jintao im chinesischen Staatsfernsehen die Attacken gegen US-Einrichtungen in China. Überall im Land war es zu gewaltsamen Übergriffen gekommen, nachdem NATO-Bomber Chinas Belgrader Botschaft zerstört hatten. Hu, nicht Jiang Zemin, verlieh der Empörung medienwirksam Ausdruck. Und trat damit zum ersten Mal international in Erscheinung. Als Vizepräsident und Stellvertreter Jiang Zemins war er noch weitgehend unbekannt. Obwohl der 59-jährige eine steile Karriere hinter sich hat. Hu Jintao war das jüngste je ins kommunistische Zentralkomitee gewählte Mitglied und mit 44 Jahren der jüngste Parteisekretär in der chinesischen Provinz. Der gelernte Wasserbau-Ingenieur ist laut offizieller Biografie Theater-Fan und hat angeblich ein fotografisches Gedächtnis. Davon erfuhr die Öffentlichkeit jedoch erst, als er vor einem Jahr zur Rundreise nach Europa antrat. Weil er international als unbeschriebenes Blatt galt, fragte man sich in Deutschland und kurz darauf auch in Amerika: "Who is Hu?" Der Hongkonger Politikwissenschaftler Joseph Cheng meint:
Hu Jintao ist offensichtlich ein Politiker, der sich aufs Überleben versteht. Da er von Deng erwählt wurde und damit viel Missgunst der Shanghai-Clique um Jiang Zemin auf sich zieht, muss er sich sehr zurückhalten, um niemanden zu verprellen. Genau das verstand er bisher sehr geschickt. Er macht sich keine Feinde, indem er öffentlich nicht Stellung bezieht. Deshalb wissen wir auch nicht, wo genau er steht.
Allerdings deutet nichts darauf hin, dass der designierte Kronprinz ein heimlicher Revoluzzer ist. Seinen kometenhaften Aufstieg hat er wohl der Tatsache zu verdanken, dass er sich als Mann fürs Grobe verdient gemacht hat: 1989, als Parteisekretär in Tibet, ließ er das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten in Lhasa eröffnen und verhängte dort den Ausnahmezustand. Später sagte man ihm Gesundheitsprobleme nach, weil er die meiste Zeit von Peking aus regierte, wo auch seine Familie wohnen blieb. Sein Nachfolger in Tibet, der amtierende Parteisekretär Guo Jinlong, wies das als Unterstellung zurück:
Hu hat lange Zeit in Tibet gelebt und nur seinen Urlaub in Peking verbracht. Während dieser Dienstzeit hatte er auch manchmal Sitzungen im Partei-Zentralkomitee. Es ist ein bösartiges Gerücht, dass er unter Höhenkrankheit gelitten hat. Hu Jintao ist ein fortschrittlicher Parteikader, er fühlt sich als Diener des Volkes und ist sehr besorgt um dessen Wohlergehen. Er ist bekannt für sein Wissen und seine reformorientierte Haltung und genießt großen Respekt. Aber in grundlegenden Fragen wie der Bekämpfung von Hochverrat musste er hart bleiben.
Ihr Machtmonopol verteidigt die KP bis aufs Messer, doch die neue Führungs-Generation muss künftig die Prioritäten anders setzen. Nach den Jahren des Wirtschaftsbooms gilt es, Chinas soziale und strukturelle Probleme zu bewältigen, Arbeitslosigkeit und Verarmung entgegen zu steuern. Die neuen Köpfe haben durchweg eine Universitäts-Ausbildung, sind nicht nur Technokraten, sondern Experten mit Auslands-Erfahrung und verstehen die Funktionsweise einer modernen, global orientierten Marktwirtschaft. Allerdings verdanken sie ihre Ämter der alten Elite, die ihnen nicht kampflos das Feld überlassen wird. So stehen Hu und Genossen vor einer schwierigen Gratwanderung, glaubt Politikwissenschaftler Cheng:
Hu Jintao ist nicht unbedingt ein Ja-Sager, aber er wird sich in den ersten beiden Führungsjahren sehr vorsichtig verhalten. Er muss Veränderungen einleiten, sonst kann er die anstehenden Probleme nicht lösen. Er muss die Frage politischer Reformen angehen. Etwa, woher die Partei ihre Legitimation beziehen soll. Wie müssen sich ihre Führer künftig, wenn schon nicht dem Volk verantworten, so zumindest den Bedürfnissen des Volkes anpassen? Wie kann man die Korruption stoppen? Wir brauchen Antworten!
Um die zu finden, muss die gesamte Führungsspitze verjüngt werden. Alle, die jünger als 60 Jahre sind und Minister- oder Gouverneursposten bekleiden, werden ins Partei-Zentralkomitee einziehen, prophezeien Experten. Dessen innerstem Zirkel, dem Ständigen Ausschuss des Politbüros mit derzeit sieben Mitgliedern, droht ebenfalls eine Verjüngungskur: Hu Jintao, der im Dezember 60 wird, soll mindestens vier neue Mitstreiter bekommen: den gleichaltrigen Wen Jiabao, jüngster Vizepremier und designierter Nachfolger von Ministerpräsident Zhu Rongji. Auch er wird derzeit auffallend oft im Staatsfernsehen präsentiert:
Wen Jiabao, Vizepremier des Staatsrates, leitete heute morgen eine gemeinsame Konferenz der drei Länder China, Japan und Korea über Kapitalströme und Kapital-Management," erklärt die Nachrichtensprecherin im typischen Stakkato der kommunistischen Propaganda-Sprache. Wen hatte zu Beginn des Jahres angeblich intern seinen Rücktritt angeboten, nachdem er von Jiang Zemin wegen der Unmenge fauler Kredite in Chinas marodem Bankensystem kritisiert worden war. Das Rücktritts-Angebot wurde jedoch abgelehnt, so heißt es. Die Staatspresse zeichnet weiter unbeirrt das Bild eines Politikers, dem Stabilität und vorsichtiges Kapitalmanagement am Herzen liegen .....
Weitere Kandidaten für das oberste Führungsgremium sind Wu Bangguo, der sich als Reformer der Staatsbetriebe bewährt hat oder möglicherweise auch Zeng Qinghong, der als engster Vertrauter von Staatschef Jiang Zemin gilt. Als einzige Frau ist Wu Yi, ehemalige Handelsministerin, im Gespräch. Natürlich nicht öffentlich – Chinas Parteispitze fürchtet solche Spekulationen als Unruhefaktor und hat den staatlichen Medien einen Maulkorb verpasst. Berichte über Personalfragen sind seit Monaten tabu. Nur auswärtige Experten wie Joseph Cheng können sich dazu äußern:
Da die 7 oder 8 Namen wie Hu Jintao oder Wen Jiabao den Chinesen bereits gut bekannt sind, wird es kaum Überraschungen geben. Das Ganze konzentriert sich auf 3 Fragen: a) wann wird Jiang Zemin zurücktreten? b) wird er künftig hinter den Kulissen die Fäden ziehen? Und c) wer wird welche Position übernehmen in der neuen Führungsriege?
Eines ist sicher: laut Verfassung muss Staatspräsident Jiang Zemin diesen Posten im März nächsten Jahres, wenn der Volkskongress tagt, aufgeben. Chinas Verfassung begrenzt Regierungsämter auf zehn Jahre, und die hat Jiang dann erfüllt. Für das höchste Parteiamt allerdings gibt es keine solche Vorschrift. Nur Vernunft und Altersgrenzen sprachen dafür, das designierte Staatsoberhaupt Hu Jintao gleichzeitig als Parteichef einzusetzen. Doch schon im letzten Oktober, auf dem APEC-Gipfel, reagierte der 76-jährige Jiang mehr als ungehalten auf die Frage nach seiner Nachfolge:
Wie, Sie wollen wissen, wann ich zurücktrete? Habe ich das richtig verstanden? .. Das werden Sie früh genug erfahren. Ich kann Ihnen nur sagen, dass diese Frage den chinesischen Gesetzen entsprechend geregelt wird.
Plötzlich schien wieder vieles offen. Gerüchten zufolge weigerte sich nun auch Li Peng abzutreten. Der 73-jährige Parlamentsvorsitzende ist eine der umstrittensten Figuren der kommunistischen Führung – weil ihm noch das Blut vom Tiananmen-Massaker 1989 an den Händen klebt. Li Peng war damals Premier und mitverantwortlich für den Schießbefehl gegen die Pekinger Demonstranten. Zudem muss er fürchten, dass ihn im politischen Ruhestand Korruptionsvorwürfe einholen, erklärt Politikwissenschaftler Cheng:
Es ist sehr wahrscheinlich, dass er sich bedroht fühlt. Jüngst forderten Demonstranten in Peking ihr Geld zurück, das sie beim Zusammenbruch einer Schwindelfirma verloren hatten, die Li Pengs Sohn leitete. Viele Top-Politiker müssen mit solchen Anschuldigungen rechnen und geben ihre Posten deshalb nur widerwillig auf. Selbst Ministerpräsident Zhu Rongji, der bereits das Ende seiner Amtszeit angekündigt hatte, machte plötzlich einen Rückzieher. Im Kampf um die politische Balance zwischen verschiedenen Fraktionen der Kommunistischen Partei Chinas will sich offenbar keiner eine Blöße geben. So hielt sich Zhu in einem ARD-Interview auf Nachfrage bedeckt:
Beim letzten Mal habe ich gesagt: ich sei zu alt. Da war ich vielleicht zu freimütig. Ich fand die Antwort von Staatspräsident Jiang Zemin viel intelligenter: die Nachfolge wird gemäß den gesetzlichen Vorschriften geregelt. Aber seien Sie versichert, alles wird reibungslos verlaufen. (Haha) ... daran erkennen Sie unsere sozialistische Demokratie und Rechtsordnung!
Parteichef Jiang Zemin strickt jedenfalls fleißig an seiner Legende für die Nachwelt. Seit Monaten sind die Staatsmedien zu einer massiven Propaganda-Kampagne verpflichtet und porträtieren Jiang unermüdlich auf einer Stufe mit seinen großen Vorgängern Mao und Deng. Täglich zur besten Fernseh-Sendezeit, mitten in den Abend-Nachrichten, trompetet eine Fanfare Jiangs Polit-Philosophie in die chinesische Welt. Verklausuliert als die "Drei Vertretungen":
Den Inhalt von Jiangs Theorie kann zwar kaum ein Chinese erklären. Die Propaganda wird jedoch nicht müde, ihre gesellschaftliche Relevanz zu unterstreichen. Selbst in den entlegensten Winkeln des Landes spreche das Volk über nichts anderes, behauptete Tibets Parteisekretär Guo Jinlong gegenüber Journalisten:
Der Kern dieser Theorie der "3 Vertretungen" wurde auch in Tibet sehr positiv aufgenommen. Dem gemäß bemühen sich die Regierungsbeamten und –kader noch stärker, die Probleme der Bevölkerung zu lösen und das hat ihre Beziehung zum Volk verbessert. Ich selbst habe vor kurzem einige Mönche besucht, die am Fuße des Himalaya leben. Auch sie kannten bereits die Theorie der "3 Vertretungen" und waren sich ihrer Auswirkungen und Vorteile voll bewusst.
"Drei Vertretungen" – gemeint ist, dass die Partei nicht mehr nur Arbeiter und Bauern vertreten soll, sondern auch die wirtschaftliche, kulturelle und populäre Avantgarde: die Reichen und Berühmten, Schauspieler und Privatunternehmer – kurz: das ganze Volk. Sonst verliert sie jede Glaubwürdigkeit, hat Jiang Zemin erkannt, und somit den ersten Versuch zu einer politischen Reform in der Kommunistischen Parteigeschichte gestartet. Chinas Politiker stehen unter Erfolgszwang, was ihre Reformfähigkeit angeht, meint der Experte Joseph Cheng:
Die Partei braucht neue Quellen der Legitimation. Bisher hat sie das geschafft, indem sie Wirtschaft und Wohlstand gefördert hat. Aber das wird immer schwieriger. Deshalb versucht sie krampfhaft, ihre Basis zu verbreitern, und fördert die Idee, Unternehmer als Parteimitglieder aufzunehmen. Sie steht unter enormem Druck, die Korruption zu bekämpfen. Dennoch wird die KP Chinas nicht vollends demokratisch werden, sondern höchstens ihrem Volk mehr Alternativen anbieten, also einige Kandidaten mehr zur Auswahl, so dass man das kleinste Übel wählen kann.
Das wird nicht ausreichen, fürchten selbst reformorientierte Parteimitglieder. Die Einheitspartei verspielt ihr Machtmonopol, wenn sie das Dilemma zwischen wirtschaftlicher Freiheit und politischen Daumenschrauben nicht löst. Einer der prominentesten Kritiker ist der Pekinger Professor Shang Dewen, selbst Mitglied der Kommunistischen Partei und seit Jahren unerschrockener Verfechter für demokratische Reformen in China. So deutlich wie er in einem ARD-Interview wagte es bisher keiner seiner Parteigenossen auszusprechen:
Chinas System ist korrupt und schafft Korruption. Das politische System ist aus Russland importiert, das Wirtschaftssystem aus dem Westen – die beiden passen nicht zusammen. Eine Marktwirtschaft braucht Pluralismus. Ich denke auch, China braucht die Führung durch die Kommunistische Partei. Aber die Partei und die Regierungsgewalt müssen klar getrennt werden.
Aber noch ist das die reinste Zukunfts-Musik.
Ich habe kürzlich einige Berichte gelesen, unter anderem in der Financial Times, worin es hieß, Premier Zhu ist ziemlich alt. In anderen Worten, er ist zu nichts mehr nütze. Sie haben recht damit, dass ich alt bin, vielleicht älter als Sie alle hier. Ich kann Ihnen nur bestätigen, dass meine Amtszeit bis 2003 dauert. Aber es ist zu früh, um Ihnen zu sagen, wer mir als Ministerpräsident nachfolgen wird.
Der Mann mit dem starken südchinesischen Akzent ist zweifellos der beliebteste chinesische Politiker. Boss Zhu nennt man ihn. Er gilt als Macher - und als einziger, der die Probleme beim Namen nennt. Als vor vier Jahren die große Flut am Jangtse viele Dämme zerstörte, prangerte Zhu Rongji öffentlich die "Tofu-Bauten" korrupter Kader an. Das Volk sieht ihn als Saubermann inmitten eines Sumpfes an Korruption, der sich bis in die höchsten Führungsebenen erstreckt. Mit diesem Pfund kann er wuchern und andere Genossen in Zugzwang bringen. Wenn Zhu trotz seiner Beliebtheit abtritt, dann müssen sich alle an die Regel halten. Die heißt: mit 70 ist Schluss! Und wurde von Parteichef Jiang Zemin persönlich aufgestellt, der – nebenbei gesagt - bereits 76 ist. Zwar steht sie nirgends schwarz auf weiß, doch im Olymp der Macht rechnet sich derzeit jeder potentielle Nachfolger seine Chancen aus. Zum Beispiel Xü Kuangdi, der als Bürgermeister von Shanghai und "Vater des Transrapid" als einer der Aufsteiger in Chinas Führungsriege galt. Bis er vor einem Jahr unter mysteriösen Umständen abtrat und als Chef einer unbedeutenden Pekinger Wissenschaftsakademie wieder auftauchte. Xü erklärte dies mit chinesischer Polit-Arithmetik:
Wir haben das Prinzip abgeschafft, dass Beamte ihre Ämter auf Lebenszeit ausüben dürfen. Das heißt, als Minister oder Provinzgouverneur kann man nicht mehr als zwei Amtszeiten ausüben, also maximal 10 Jahre. Zudem gibt es die Regel, dass man mit 65 alle Positionen auf Ministerebene aufgeben muss. Das galt auch für mich als Shanghaier Bürgermeister. Aber dadurch, dass ich mit 64 Jahren und 3 Monaten abberufen wurde und nun in einer akademischen Stellung tätig bin, kann ich noch etwas für mein Land tun.
"Mit mir ist noch zu rechnen!" sollte Xü’s Botschaft wohl heißen. Im Grunde aber bleibt alles Spekulation in einem System, in dem Transparenz ein Fremdwort ist. Zudem ist noch kein Machtwechsel in China geordnet abgelaufen. Maos designierter Nachfolger Liu Shaoqi fiel in Ungnade und starb im Gefängnis. Der damalige Armeechef Lin Biao floh, als sein Attentats-Versuch gegen Mao entlarvt wurde und stürzte auf der Flucht mit dem Flugzeug ab. Deng Xiaoping, Chinas großer Wirtschafts-Reformer, kam erst zum Zug, als er die Viererbande und den von Mao eingesetzten Statthalter Hua Guofeng entmachtet hatte. Jiang Zemin wurde von Deng nach der blutigen Niederschlagung der Studentenbewegung 1989 nach Peking geholt, um den gestürzten Parteichef Zhao Ziyang zu ersetzen. Nun soll Jiang einem Mann Platz machen, den ebenfalls sein Mentor Deng Xiaoping auserkoren hatte. Hu Jintao durfte als einziges Politbüromitglied in dem Flugzeug sitzen, mit dem 1997 die Asche Deng Xiaopings über dem Südchinesischen Meer verstreut wurde. Nach kommunistischer Lesart war das seine Weihe für höhere Aufgaben.
Im Mai 1999 verteidigte Hu Jintao im chinesischen Staatsfernsehen die Attacken gegen US-Einrichtungen in China. Überall im Land war es zu gewaltsamen Übergriffen gekommen, nachdem NATO-Bomber Chinas Belgrader Botschaft zerstört hatten. Hu, nicht Jiang Zemin, verlieh der Empörung medienwirksam Ausdruck. Und trat damit zum ersten Mal international in Erscheinung. Als Vizepräsident und Stellvertreter Jiang Zemins war er noch weitgehend unbekannt. Obwohl der 59-jährige eine steile Karriere hinter sich hat. Hu Jintao war das jüngste je ins kommunistische Zentralkomitee gewählte Mitglied und mit 44 Jahren der jüngste Parteisekretär in der chinesischen Provinz. Der gelernte Wasserbau-Ingenieur ist laut offizieller Biografie Theater-Fan und hat angeblich ein fotografisches Gedächtnis. Davon erfuhr die Öffentlichkeit jedoch erst, als er vor einem Jahr zur Rundreise nach Europa antrat. Weil er international als unbeschriebenes Blatt galt, fragte man sich in Deutschland und kurz darauf auch in Amerika: "Who is Hu?" Der Hongkonger Politikwissenschaftler Joseph Cheng meint:
Hu Jintao ist offensichtlich ein Politiker, der sich aufs Überleben versteht. Da er von Deng erwählt wurde und damit viel Missgunst der Shanghai-Clique um Jiang Zemin auf sich zieht, muss er sich sehr zurückhalten, um niemanden zu verprellen. Genau das verstand er bisher sehr geschickt. Er macht sich keine Feinde, indem er öffentlich nicht Stellung bezieht. Deshalb wissen wir auch nicht, wo genau er steht.
Allerdings deutet nichts darauf hin, dass der designierte Kronprinz ein heimlicher Revoluzzer ist. Seinen kometenhaften Aufstieg hat er wohl der Tatsache zu verdanken, dass er sich als Mann fürs Grobe verdient gemacht hat: 1989, als Parteisekretär in Tibet, ließ er das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten in Lhasa eröffnen und verhängte dort den Ausnahmezustand. Später sagte man ihm Gesundheitsprobleme nach, weil er die meiste Zeit von Peking aus regierte, wo auch seine Familie wohnen blieb. Sein Nachfolger in Tibet, der amtierende Parteisekretär Guo Jinlong, wies das als Unterstellung zurück:
Hu hat lange Zeit in Tibet gelebt und nur seinen Urlaub in Peking verbracht. Während dieser Dienstzeit hatte er auch manchmal Sitzungen im Partei-Zentralkomitee. Es ist ein bösartiges Gerücht, dass er unter Höhenkrankheit gelitten hat. Hu Jintao ist ein fortschrittlicher Parteikader, er fühlt sich als Diener des Volkes und ist sehr besorgt um dessen Wohlergehen. Er ist bekannt für sein Wissen und seine reformorientierte Haltung und genießt großen Respekt. Aber in grundlegenden Fragen wie der Bekämpfung von Hochverrat musste er hart bleiben.
Ihr Machtmonopol verteidigt die KP bis aufs Messer, doch die neue Führungs-Generation muss künftig die Prioritäten anders setzen. Nach den Jahren des Wirtschaftsbooms gilt es, Chinas soziale und strukturelle Probleme zu bewältigen, Arbeitslosigkeit und Verarmung entgegen zu steuern. Die neuen Köpfe haben durchweg eine Universitäts-Ausbildung, sind nicht nur Technokraten, sondern Experten mit Auslands-Erfahrung und verstehen die Funktionsweise einer modernen, global orientierten Marktwirtschaft. Allerdings verdanken sie ihre Ämter der alten Elite, die ihnen nicht kampflos das Feld überlassen wird. So stehen Hu und Genossen vor einer schwierigen Gratwanderung, glaubt Politikwissenschaftler Cheng:
Hu Jintao ist nicht unbedingt ein Ja-Sager, aber er wird sich in den ersten beiden Führungsjahren sehr vorsichtig verhalten. Er muss Veränderungen einleiten, sonst kann er die anstehenden Probleme nicht lösen. Er muss die Frage politischer Reformen angehen. Etwa, woher die Partei ihre Legitimation beziehen soll. Wie müssen sich ihre Führer künftig, wenn schon nicht dem Volk verantworten, so zumindest den Bedürfnissen des Volkes anpassen? Wie kann man die Korruption stoppen? Wir brauchen Antworten!
Um die zu finden, muss die gesamte Führungsspitze verjüngt werden. Alle, die jünger als 60 Jahre sind und Minister- oder Gouverneursposten bekleiden, werden ins Partei-Zentralkomitee einziehen, prophezeien Experten. Dessen innerstem Zirkel, dem Ständigen Ausschuss des Politbüros mit derzeit sieben Mitgliedern, droht ebenfalls eine Verjüngungskur: Hu Jintao, der im Dezember 60 wird, soll mindestens vier neue Mitstreiter bekommen: den gleichaltrigen Wen Jiabao, jüngster Vizepremier und designierter Nachfolger von Ministerpräsident Zhu Rongji. Auch er wird derzeit auffallend oft im Staatsfernsehen präsentiert:
Wen Jiabao, Vizepremier des Staatsrates, leitete heute morgen eine gemeinsame Konferenz der drei Länder China, Japan und Korea über Kapitalströme und Kapital-Management," erklärt die Nachrichtensprecherin im typischen Stakkato der kommunistischen Propaganda-Sprache. Wen hatte zu Beginn des Jahres angeblich intern seinen Rücktritt angeboten, nachdem er von Jiang Zemin wegen der Unmenge fauler Kredite in Chinas marodem Bankensystem kritisiert worden war. Das Rücktritts-Angebot wurde jedoch abgelehnt, so heißt es. Die Staatspresse zeichnet weiter unbeirrt das Bild eines Politikers, dem Stabilität und vorsichtiges Kapitalmanagement am Herzen liegen .....
Weitere Kandidaten für das oberste Führungsgremium sind Wu Bangguo, der sich als Reformer der Staatsbetriebe bewährt hat oder möglicherweise auch Zeng Qinghong, der als engster Vertrauter von Staatschef Jiang Zemin gilt. Als einzige Frau ist Wu Yi, ehemalige Handelsministerin, im Gespräch. Natürlich nicht öffentlich – Chinas Parteispitze fürchtet solche Spekulationen als Unruhefaktor und hat den staatlichen Medien einen Maulkorb verpasst. Berichte über Personalfragen sind seit Monaten tabu. Nur auswärtige Experten wie Joseph Cheng können sich dazu äußern:
Da die 7 oder 8 Namen wie Hu Jintao oder Wen Jiabao den Chinesen bereits gut bekannt sind, wird es kaum Überraschungen geben. Das Ganze konzentriert sich auf 3 Fragen: a) wann wird Jiang Zemin zurücktreten? b) wird er künftig hinter den Kulissen die Fäden ziehen? Und c) wer wird welche Position übernehmen in der neuen Führungsriege?
Eines ist sicher: laut Verfassung muss Staatspräsident Jiang Zemin diesen Posten im März nächsten Jahres, wenn der Volkskongress tagt, aufgeben. Chinas Verfassung begrenzt Regierungsämter auf zehn Jahre, und die hat Jiang dann erfüllt. Für das höchste Parteiamt allerdings gibt es keine solche Vorschrift. Nur Vernunft und Altersgrenzen sprachen dafür, das designierte Staatsoberhaupt Hu Jintao gleichzeitig als Parteichef einzusetzen. Doch schon im letzten Oktober, auf dem APEC-Gipfel, reagierte der 76-jährige Jiang mehr als ungehalten auf die Frage nach seiner Nachfolge:
Wie, Sie wollen wissen, wann ich zurücktrete? Habe ich das richtig verstanden? .. Das werden Sie früh genug erfahren. Ich kann Ihnen nur sagen, dass diese Frage den chinesischen Gesetzen entsprechend geregelt wird.
Plötzlich schien wieder vieles offen. Gerüchten zufolge weigerte sich nun auch Li Peng abzutreten. Der 73-jährige Parlamentsvorsitzende ist eine der umstrittensten Figuren der kommunistischen Führung – weil ihm noch das Blut vom Tiananmen-Massaker 1989 an den Händen klebt. Li Peng war damals Premier und mitverantwortlich für den Schießbefehl gegen die Pekinger Demonstranten. Zudem muss er fürchten, dass ihn im politischen Ruhestand Korruptionsvorwürfe einholen, erklärt Politikwissenschaftler Cheng:
Es ist sehr wahrscheinlich, dass er sich bedroht fühlt. Jüngst forderten Demonstranten in Peking ihr Geld zurück, das sie beim Zusammenbruch einer Schwindelfirma verloren hatten, die Li Pengs Sohn leitete. Viele Top-Politiker müssen mit solchen Anschuldigungen rechnen und geben ihre Posten deshalb nur widerwillig auf. Selbst Ministerpräsident Zhu Rongji, der bereits das Ende seiner Amtszeit angekündigt hatte, machte plötzlich einen Rückzieher. Im Kampf um die politische Balance zwischen verschiedenen Fraktionen der Kommunistischen Partei Chinas will sich offenbar keiner eine Blöße geben. So hielt sich Zhu in einem ARD-Interview auf Nachfrage bedeckt:
Beim letzten Mal habe ich gesagt: ich sei zu alt. Da war ich vielleicht zu freimütig. Ich fand die Antwort von Staatspräsident Jiang Zemin viel intelligenter: die Nachfolge wird gemäß den gesetzlichen Vorschriften geregelt. Aber seien Sie versichert, alles wird reibungslos verlaufen. (Haha) ... daran erkennen Sie unsere sozialistische Demokratie und Rechtsordnung!
Parteichef Jiang Zemin strickt jedenfalls fleißig an seiner Legende für die Nachwelt. Seit Monaten sind die Staatsmedien zu einer massiven Propaganda-Kampagne verpflichtet und porträtieren Jiang unermüdlich auf einer Stufe mit seinen großen Vorgängern Mao und Deng. Täglich zur besten Fernseh-Sendezeit, mitten in den Abend-Nachrichten, trompetet eine Fanfare Jiangs Polit-Philosophie in die chinesische Welt. Verklausuliert als die "Drei Vertretungen":
Den Inhalt von Jiangs Theorie kann zwar kaum ein Chinese erklären. Die Propaganda wird jedoch nicht müde, ihre gesellschaftliche Relevanz zu unterstreichen. Selbst in den entlegensten Winkeln des Landes spreche das Volk über nichts anderes, behauptete Tibets Parteisekretär Guo Jinlong gegenüber Journalisten:
Der Kern dieser Theorie der "3 Vertretungen" wurde auch in Tibet sehr positiv aufgenommen. Dem gemäß bemühen sich die Regierungsbeamten und –kader noch stärker, die Probleme der Bevölkerung zu lösen und das hat ihre Beziehung zum Volk verbessert. Ich selbst habe vor kurzem einige Mönche besucht, die am Fuße des Himalaya leben. Auch sie kannten bereits die Theorie der "3 Vertretungen" und waren sich ihrer Auswirkungen und Vorteile voll bewusst.
"Drei Vertretungen" – gemeint ist, dass die Partei nicht mehr nur Arbeiter und Bauern vertreten soll, sondern auch die wirtschaftliche, kulturelle und populäre Avantgarde: die Reichen und Berühmten, Schauspieler und Privatunternehmer – kurz: das ganze Volk. Sonst verliert sie jede Glaubwürdigkeit, hat Jiang Zemin erkannt, und somit den ersten Versuch zu einer politischen Reform in der Kommunistischen Parteigeschichte gestartet. Chinas Politiker stehen unter Erfolgszwang, was ihre Reformfähigkeit angeht, meint der Experte Joseph Cheng:
Die Partei braucht neue Quellen der Legitimation. Bisher hat sie das geschafft, indem sie Wirtschaft und Wohlstand gefördert hat. Aber das wird immer schwieriger. Deshalb versucht sie krampfhaft, ihre Basis zu verbreitern, und fördert die Idee, Unternehmer als Parteimitglieder aufzunehmen. Sie steht unter enormem Druck, die Korruption zu bekämpfen. Dennoch wird die KP Chinas nicht vollends demokratisch werden, sondern höchstens ihrem Volk mehr Alternativen anbieten, also einige Kandidaten mehr zur Auswahl, so dass man das kleinste Übel wählen kann.
Das wird nicht ausreichen, fürchten selbst reformorientierte Parteimitglieder. Die Einheitspartei verspielt ihr Machtmonopol, wenn sie das Dilemma zwischen wirtschaftlicher Freiheit und politischen Daumenschrauben nicht löst. Einer der prominentesten Kritiker ist der Pekinger Professor Shang Dewen, selbst Mitglied der Kommunistischen Partei und seit Jahren unerschrockener Verfechter für demokratische Reformen in China. So deutlich wie er in einem ARD-Interview wagte es bisher keiner seiner Parteigenossen auszusprechen:
Chinas System ist korrupt und schafft Korruption. Das politische System ist aus Russland importiert, das Wirtschaftssystem aus dem Westen – die beiden passen nicht zusammen. Eine Marktwirtschaft braucht Pluralismus. Ich denke auch, China braucht die Führung durch die Kommunistische Partei. Aber die Partei und die Regierungsgewalt müssen klar getrennt werden.
Aber noch ist das die reinste Zukunfts-Musik.