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Machtkampf im Unterhaus
"Das bedeutet das Aus für Boris Johnson"

Die Entscheidung Boris Johnsons, das Parlament "vor einer der wichtigsten Entscheidungen der britischen Geschichte" zu suspendieren, sei ein Schritt zu viel gewesen, sagte die britische Europaabgeordnete Irina von Wiese im Dlf. Durch seine diktatorische Verhaltensweise habe er nun die Mehrheit verloren.

Irina von Wiese im Gespräch mit Christiane Kaess | 04.09.2019
Ein Brexit-Gegner steht in die britische und die EU-Flagge gehüllt vor dem Parlamentsgebäude in London.
Sie habe keine Sekunde geglaubt, dass Boris Johnson an einem geordneten Brexit interessiert sei, sagte die Europaabgeordnete Irina von Wiese im Dlf (dpa/Sputnik/Justin Griffiths-Williams)
Christiane Kaess: Eine dramatische Nacht war das im britischen Unterhaus in London. Das was sich gestern den Tag über schon abzeichnete, trat letztendlich auch ein: Eine aufgeheizte Sitzung, in der Premierminister Johnson seine parlamentarische Mehrheit verloren hat, als Konsequenz nun Neuwahlen ankündigt und die Abgeordneten den Weg bereitet haben für ein Gesetz, das den Brexit ohne Abkommen verhindern soll. Es ist beim Austritt Großbritanniens aus der EU wieder alles offen.
Ich habe darüber vor wenigen Minuten mit Irina von Wiese gesprochen. Sie sitzt für die britischen Liberaldemokraten im Europäischen Parlament. Ich habe sie zuerst gefragt, was nach dieser Nacht im britischen Unterhaus jetzt gewonnen ist.
Irina von Wiese: Sie werden es heute beschließen, und das zeigt ganz klar, der Versuch eines ungewählten Premierministers, ein Parlament wenige Wochen vor einer der wichtigsten Entscheidungen der britischen Nachkriegsgeschichte zu suspendieren. Das war ein Schritt zu weit. Das ist ein klarer Angriff auf die Demokratie und diesmal hat Mr. Johnson sich da wirklich verkalkuliert. Mit seiner diktatorischen Verhaltensweise hat er jetzt seine eigenen konservativen Abgeordneten verloren, die gegen ihn gestimmt haben, und das heißt das Aus für Boris Johnson.
Kaess: Aber im Kern, Frau von Wiese, geht es ja für Sie alle um den Brexit, und die Taktik von Johnson war ja, die EU unter Druck zu setzen. Aber wenn die Abgeordneten jetzt das Gesetz gegen den harten Brexit beschließen, dann hat Johnson, so wie er selber sagt, keinen Hebel mehr, um die EU noch zum Einlenken zu bewegen.
Haben Ihre Parteikollegen in London zusammen mit den anderen Parlamentariern die Chance ruiniert, doch noch einen Deal mit Brüssel zu bekommen?
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von Wiese: Ich bin hier in Brüssel. Ich spreche viel mit meinen Kollegen aus den anderen Mitgliedsstaaten. Ich habe persönlich gesprochen mit Michel Barnier, mit Ursula von der Leyen und anderen der EU-Verhandlungspartner, und ich kann Ihnen sagen, dass diese Verhandlungen einfach nicht stattfinden, dass es keinerlei neue Vorschläge gegeben hat seitens der britischen Regierung, dass es keinerlei Alternative zu dem Backstop gibt.
Insofern denke ich, dass das alles ein Vorwand ist, dass Mr. Johnson nie vorhatte, wirklich ernsthaft Neuverhandlungen zu starten. Er will einfach nur, dass das Parlament nicht im letzten Moment seinen katastrophalen No-Deal-Brexit stoppt.
"Diese Verhandlungsposition gibt es einfach nicht"
Kaess: Wenn von Johnson in den letzten Tagen immer wieder zu hören war, seine Verhandlungsposition in Brüssel sei sehr gut, dann hat er schlichtweg gelogen?
von Wiese: Dann hat er schlichtweg gelogen. Diese Verhandlungsposition gibt es einfach nicht.
Von Wiese: Keine Chance, dass es einen neuen Deal geben wird
Kaess: Sie sagen, auch in Brüssel tut sich nicht wirklich was, von dem, was Sie aus Ihren Eindrücken schildern?
von Wiese: Ich denke, dass unsere europäischen Partner durchaus bereit sind, sich ernsthaft wieder an den Verhandlungstisch zu setzen. Nur der Backstop der irischen Grenze, da gibt es einfach keine alternativen Lösungen, und ohne den Backstop gibt es auch keinen Deal. Das ist Mr. Johnson klar und deshalb gibt es auch keine Chance, dass es nun wieder plötzlich durch irgendein Wunder innerhalb der nächsten paar Wochen doch noch einen neuen Deal geben wird.
Kaess: Aber, Frau von Wiese, es muss ja langfristig eine Lösung für den Backstop geben. Warum ist es denn falsch, Brüssel jetzt schon unter Druck damit zu setzen, denn es müsste ja auch eine Lösung gefunden werden mit einem Abkommen? Wenn Großbritannien nicht ewig in der Zollunion mit der EU hängen will, dann müsste man sich eine Lösung für diese Grenze zu Irland einfallen lassen.
von Wiese: Es gibt nur eine Lösung für die Grenze in Irland, und das ist: Großbritannien bleibt in der EU oder zumindest in einer Zollunion. Wir sind als Liberaldemokraten natürlich für ersteres.
"In dem Referendum ging es in keiner Weise um die Einzelheiten"
Kaess: Aber das ist nicht das, was in einem Referendum von der Mehrheit der Menschen beschlossen worden ist.
von Wiese: Das sehe ich nicht so. In dem Referendum wurde beschlossen, dass Großbritannien die EU verlassen sollte. In dem Referendum ging es in keiner Weise um die Einzelheiten, ging es um eine Zollunion. All das war nicht Teil des Referendums.
Deshalb wollen wir ein weiteres Referendum, in dem genau diese Fragen geklärt werden, in dem das britische Volk noch einmal die Möglichkeit hat zu sagen, was für einen Brexit sie denn nun wollen, oder ob sie angesichts dieser Schwierigkeiten vielleicht nun doch in der EU bleiben wollen. Wir sind überzeugt, dass die Mehrheit der britischen Bevölkerung, wenn sie jetzt wieder gefragt wird, in der EU bleiben will.
Kaess: Jetzt will Boris Johnson Neuwahlen. Wie werden die ausgehen?
von Wiese: Zunächst mal steht nicht fest, ob es Neuwahlen geben wird. Ich persönlich bezweifele sehr, dass er die dazu erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Unterhaus bekommen wird.
Kaess: Warum glauben Sie das? Denn Labour hörte sich ja schon so an, als wäre das in Ordnung.
von Wiese: Das wird sich wohl im Laufe des heutigen Tages herausstellen. Falls es Neuwahlen geben würde, brauchen wir natürlich die Versicherung, dass diese Neuwahlen mindestens zwei Wochen vor dem jetzigen Brexit-Datum vom 31. Oktober stattfinden. Wenn es Neuwahlen geben wird, denke ich, werden wir das Ende des Zwei-Parteien-Systems in Großbritannien sehen. Wir haben große Hoffnung für die Liberaldemokraten als starke dritte Kraft und wir hoffen, dass das Ergebnis dieser Neuwahlen sein wird, dass zumindest mehr Zeit für Verhandlungen stattfinden kann, oder möglicherweise der Brexit doch noch gestoppt wird.
"Ich glaube, dass das Wahlergebnis positiv für uns ausfallen wird"
Kaess: Aber es könnte auch sein, dass Johnson als großer Sieger aus diesen Neuwahlen, wenn sie denn kommen sollten, hervorgeht und dass er dann den Brexit durchzieht wie er will und dann eventuell und vielleicht sogar wahrscheinlich ohne Vertrag.
Jetzt hätten die Abgeordneten in London noch die Chance gehabt, doch noch zu einem Vertrag zu kommen. Also muss man doch sagen, diese Chance ist verspielt worden.
von Wiese: Das sehe ich anders. Ich glaube, dass das Wahlergebnis positiv für uns ausfallen wird. Sollte es so sein, wie Sie sagen, und Johnson bekommt wieder eine Mehrheit, dann wäre der Stand der Dinge in keinster Weise schlechter, als er jetzt ist, denn wie ich schon gesagt hatte: Ich glaube keine Sekunde daran, dass Johnson ernsthaft an einem Deal interessiert ist.
"Wir möchten, dass die Demokratie in Großbritannien wieder hergestellt wird"
Kaess: Jetzt muss man im Rückblick, Frau von Wiese, sagen, die Abgeordneten haben ja schon mehrere Optionen gehabt. Sie hätten jetzt zuletzt ein Misstrauensvotum ansetzen können. Das ist daran gescheitert, dass man sich nicht auf Corbyn von der Labour-Partei als Übergangspremier einigen konnte. Es hätte schon längst unter Theresa May noch zu einer Zustimmung zu dem Abkommen kommen können, das sie ausgehandelt hatte mit der EU.
Letztendlich ist es doch im Moment so, dass Premier Johnson versucht, den Willen des Volkes nach diesem Referendum, das vor drei Jahren stattgefunden hat, durchzuziehen. Ist er nicht mittlerweile der bessere Volksvertreter als die Abgeordneten?
von Wiese: In drei Jahren kann viel passieren. Die Liberaldemokraten in Großbritannien haben von vornherein gesagt, dass sie jeden Deal wieder einem Volksentscheid unterlegen wollen.
Wir möchten einfach, dass die Demokratie in Großbritannien wiederhergestellt wird. Wir sind diejenigen, wir wollten von Anfang an, dass jede Art von Deal wiederum vom Volk entschieden wird. Das ist eigentlich alles. Wir glauben ganz fest daran, dass kein Deal so gut ist wie der, den wir jetzt haben, und das ist als volles Mitglied der EU, und wir denken, dass die meisten der britischen Bevölkerung heute auch so denken. Ich persönlich vertrete London. London hat ganz überwältigend gegen den Brexit gestimmt, nicht nur im Referendum, sondern indirekt auch in den Europawahlen, und ich denke, dass für London, aber auch für den Rest von Großbritannien ein Brexit katastrophal ist, und die meisten Menschen sehen das mittlerweile auch so.
Kaess: Aber noch mal die Frage. Dieses Schlamassel, das wir jetzt im Moment sehen, sind da auch nicht die Abgeordneten des britischen Unterhauses ein Stück weit dran schuld? Denn es gab wie gesagt mehrere Optionen, ich habe sie gerade aufgezählt.
von Wiese: Ich denke, es war von vornherein klar, dass keine dieser Optionen jemals eine Mehrheit im Unterhaus finden würde. Die Attacken auf das Theresa-May-Agreement waren ja nicht nur von Seiten der Remainer, derjenigen, die bleiben wollen, sondern auch von Seiten der Leavers. Keiner wollte dieses Agreement, und zwar immer aus unterschiedlichen Gründen. Und es war meiner Ansicht nach von vornherein klar, dass es nirgendwo eine Mehrheit geben würde und dass es deshalb das Sinnvollste wäre, zum Volk zurückzugehen.
"Es gab diese Möglichkeit nie"
Kaess: Nirgendwo eine Mehrheit, sagen Sie, um das umzusetzen, wofür die Mehrheit der Menschen in Großbritannien gestimmt hat?
von Wiese: Nirgendwo eine Mehrheit dafür, wie man diese Entscheidung umsetzen könnte in einer Weise, die die offene Grenze und den Frieden in Irland garantiert, aber auch den Menschen in Großbritannien und in der Rest-EU – wir dürfen nicht vergessen, wir haben auch über eine Million britische Bürger im Rest der EU – eine Chance gibt. Insofern nein, es gab diese Möglichkeit nie.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.