Dienstag, 30. April 2024

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"Man ist anders als die anderen"

Ulrike Draesner hat es am eigenen Leib erfahren: Hochbegabt zu sein heißt zunächst einmal, anders zu sein. Und das ist nicht unbedingt immer positiv besetzt. Die Schriftstellerin, die in ihrer Kindheit als "Professorin" beschimpft wurde, macht Vorschläge, wie man mit Hochbegabung umgehen kann - und sie im besten Fall fördert.

Moderation: Jochen Spengler | 31.07.2008
    Jochen Spengler: Heute wird Köln vier Tage lang zur schlausten Stadt Europas, meint jedenfalls recht selbstbewusst der Verein Mensa, der europaweit hochintelligente Menschen zusammenschließt. Mensa hat eingeladen nach Köln zum ersten europäischen Kongress der Hochbegabten. Rund 200 Schlaue haben sich zum Kongress angemeldet, auf dem Vorträge und Workshops, Kultur und Unterhaltung geboten werden. Anlass für uns, über Hochbegabung und Hochbegabte zu sprechen. Experten schätzen, dass ein bis zwei Prozent aller Kinder in Deutschland hochbegabt sind, aber allzu viel weiß man auch heute noch nicht über dieses Phänomen der Hochbegabung. Wir wollen uns Rat holen bei Ulrike Draesner. Sie ist freie Schriftstellerin und Essayistin in Berlin, und sie wurde nach ihrem Abitur Anfang der 80er Jahre als eine der ersten Frauen überhaupt in die Hochbegabtenstiftung Maximilianeum aufgenommen. Nun ist sie im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin. Guten Morgen, Frau Draesner.

    Ulrike Draesner: Guten Morgen.

    Spengler: Frau Draesner, was heißt eigentlich hochbegabt?

    Draesner: Ja, das weiß man als Hochbegabter natürlich ganz besonders nicht. Es heißt ja alles Mögliche, ganz verschiedene Dinge. Von meiner Lebenserinnerung her heißt es erstmal, man ist anders als die anderen.

    Spengler: Wie anders?

    Draesner: Man fällt auf, man ist schneller, aber das stößt vielleicht nicht immer auf Gegenliebe. Ich habe ja eine Schulerfahrung, die im Wesentlichen in den 70er Jahren liegt. Da war man in der Bundesrepublik also sehr, sehr auf Gleichheit aus. Und die eigene Schnelligkeit oder auch das Komische sein, dass man irgendwie dreimal um die Ecke gedacht hat, während die anderen die Ecke noch gar nicht sehen, war da jetzt nicht gerade sehr gefragt.

    Spengler: Sie haben das gemerkt, also, dass Sie schneller, im Kopf schneller waren als die anderen?

    Draesner: Ja, natürlich, weil man, man ist ein Kind und man beobachtet Erwachsene, man lernt natürlich auch von ihnen. Und dann merkt man manchmal, ich erinnere mich an Situationen, wo ich irgendwas sage, alle anwesenden Erwachsenen verstummen, gucken mich an, wissen überhaupt nicht, was sie damit machen sollen, was ich jetzt gesagt habe, und sprechen dann weiter. Aber es breitet sich im Raum so eine seltsame Atmosphäre aus, dieses Kind ist altklug, ich wurde als Professorin beschimpft oder so was.

    Spengler: Also, für Sie ist das eher unangenehm gewesen?

    Draesner: Ja, weil es gab gar keine Möglichkeit für mich, damit umzugehen, außer ich merke eben, wie auch in der Schule dann, ich bin anders. Manche Lehrer behandeln einen dann irgendwie besonders gut, man wird so zum Liebling, aber innerhalb der Klasse führt das jetzt zu großen Verwerfungen und da habe ich dann irgendwann beschlossen, ich muss da jetzt Maßnahmen ergreifen. Was macht man typischerweise? Man stellt sein Licht unter den Scheffel und/oder man macht es anderen zugänglich. Also, ich hatte eine echte kleine Wirtschaft sozusagen im Verteilen von Spickzetteln, im Ersinnen wahnsinniger Methoden, dass man von mir abschreiben kann, ohne dass es ein Lehrer merkt, im Nachhilfeunterricht geben, und das war für mich sozial sehr gut, weil mein Ansehen in der Klasse stieg, ich war auch nützlich für die anderen und dann ging das einigermaßen durch die Schule.

    Spengler: Frau Draesner, waren Sie ein Streber?

    Draesner: Nein, würde ich natürlich auf jeden Fall heftig ablehnen. In den Augen der anderen bestimmt. Das ist man ja einfach. Ich finde das ein interessantes Phänomen, weil es genau diese Außenseiterstellung eigentlich bezeichnet. Man ist etwas anderes, niemand weiß genau, was das ist. Ich war, ich sah nicht aus wie der typische Streber, also ich habe mich bemüht, die Brille wurde abgelegt, die Haare flott geföhnt und sofort, und man arbeitet aber immer gegen dieses Image natürlich an.

    Spengler: Streber heißt ja eigentlich auch, dass man sich bewusst bemüht um etwas, dass man also da nach etwas strebt. War das bei Ihnen so, oder flog Ihnen das wirklich einfach alles so zu?

    Draesner: Für mich hat Hochbegabung eigentlich zwei wesentliche Seiten. Das Eine ist ein Gedächtnis, das man mitbekommen hat. Ich habe das nie trainiert, das war einfach immer gut. Also, das ist das Zufliegen, wenn man so möchte. Und das Andere ist eine Grundneugier auf die Welt, also ich drücke es mal in großen Worten aus. Und das heißt, es ist vielleicht gar nicht das Streben nach dem bestimmten Ziel "Ich möchte jetzt da unbedingt eine Eins haben in der Bewertung oder das und das erreichen" oder "Ich möchte Medizin studieren". Bei mir war es eher so, mir hat dieses Ziel immer gefehlt. Ich wusste gar nicht, was ich werden möchte. Mich haben Dinge angezogen. Wie funktioniert diese Formel? Was heißt dieser Satz in dieser Sprache? Wie funktionieren, wie leben Menschen? Was sind die Formen, die sie sich ausdenken, was erfinden die?

    Spengler: Hatten Sie denn eine Eins?

    Draesner: Meistens, ja.

    Spengler: Und Ihr Abiturschnitt war wie?

    Draesner: 1,0. Sonst kommt man nicht ins Maximilianeum, muss man doch so ein paar Zusatzprüfungen machen. Da wird ausgesiebt.

    Spengler: Und dann, als Sie dort waren, haben Sie sich da geborgen gefühlt, anders als in den Schulen?

    Draesner: Ja, das fand ich sehr gut und das führt uns bestimmt auch zu dem Thema wie fördert man Eliten, wie geht man mit so etwas um. Ich kam dahin, ich war 19 und ich stieß auf Leute, die mir glichen. Ich habe mich also sehr wohl gefühlt, weil es plötzlich eine Gemeinschaft gab und ich nicht mehr die Einzige war, die da immer so herausragte, auf unangenehme Weise ja auch. Und zugleich war es extrem anregend, das Maximilianeum, da wohnt man einfach zusammen. Jeder studiert an der Universität München ganz sein Fach, aber man isst zusammen, man lebt zusammen und natürlich spricht man auch über die eigenen Fachgebiete aus dieser Neugier heraus. Ich habe sehr, sehr viel in dieser Zeit gelernt, ich war da sieben Jahre lang, über Mathematik, aber auch über Latein, über Physik, Biologie, man erklärt sich gegenseitig, man sieht auch, wie sind denn diese Menschen innerlich verfasst? Was für Typen sind das denn? Wer wird denn eigentlich Mathematiker oder Physiker? Was für ein Wertebild trägt so jemand auch herum? Und wie funktionieren deren Gehirne? Das war zum Teil faszinierend, weil da gab es auch ganz spezielle Begabungen, gerade in der Mathematik, die, ja, so dieses Moment, das da dann auftaucht, da ist jemand sozial merkwürdig, sehr langsam im Sprechen zum Beispiel und dann stellt sich heraus mit einiger Zeit, weil der dauernd alle Antworten wie so ein Schachcomputer irgendwie in die tausendste Variante vorberechnet, mit Gegenantworten, und sich dann überlegt, was ist jetzt strategisch am günstigsten. Wir hatten also wahnsinnig viel Spaß, weil der dann immer zehn Minuten später geantwortet hat und das groteske Verwerfungen ergab, wie das dann passte oder nicht.

    Spengler: Aber es war dann perfekt.

    Draesner: Für den sozialen Zusammenhang vielleicht nicht, aber mathematisch auf jeden Fall.

    Spengler: Frau Draesner, ist man, wenn man hochbegabt ist, für eine bestimmte Fachrichtung hochbegabt, oder ist man für alles hochbegabt?

    Draesner: Ja, ich denke, da gibt es genau diese zwei Typen. Die wirklich spezialisierte Hochbegabung, in Mathematik alles wunderbar, und Englischlernen unmöglich. Und die andere, die ich hatte, sozusagen breit auf alles verteilt, neugierig, überlegt sich, ob sie Sinologie studieren soll, oder vielleicht eben doch Medizin oder x und y, und kann sich nicht entscheiden, weil alles so spannend ist.

    Spengler: Und Sie sind dann Schriftstellern geworden. Warum?

    Draesner: Ja. Das klingt wie die richtige Antiklimax, nicht wahr? Ich denke, meine Eltern betrachten das immer noch so. Warum bin ich Schriftstellerin geworden? Da gibt es bestimmt viele Gründe, aber dieses alte Interesse, die Neugier für Menschen, und auch die Verbindung zwischen Wissen und Sprache, das sind für mich Kerne meiner Neugier und meiner Fragen an die Welt. Und als Schriftstellerin, das ist ja oft vergessen in der heutigen Gesellschaft, aber das Schreiben von Büchern und Wissen haben durchaus miteinander etwas zu tun. Bei Lichtenberg gibt es den schönen Satz "Der Schriftsteller ist ja derjenige, der es fertig bringt, das Wissen eines ganzen Buches, eines wissenschaftlichen Buches, in einem Absatz zu verstecken". Vielleicht hat es damit was zu tun.

    Spengler: Wunderbar. Sie haben Ihre Eltern angesprochen. Wie merken Eltern, woran merken Eltern, dass ihre Kinder hochbegabt sind?

    Draesner: Na, an komischen altklugen Kommentaren zum Beispiel, Kind nervt. Aber auch, ich denke, man merkt das sehr schnell an, und heute ist da ja auch die Aufmerksamkeit ganz anders, als ich das erlebt habe. Ich denke, das Wichtige ist dann eigentlich, wenn man es bemerkt hat, was macht man? Wie geht man da vor? Und ich glaube, ...

    Spengler: Was macht man denn?

    Draesner: Ja, ich glaube, das Hochbegabtenförderung am effektivsten sein kann, wenn es keinen festen Plan gibt, was tut man jetzt da und da, und dann geht der Schritt eins bis fünf los, sondern wenn die Förderung selbst intelligent ist, und intelligent heißt, sie ist beweglich und sie kann wirklich auf diesen Einzelfall eingehen. Und gerade bei Kinderförderung, man muss ja einfach auch gucken, dass die Seele oder die Psyche und auch der Körper nicht unbedingt im gleichen Tempo wachsen, wie dieses Gehirn da irgendwie so schnell durch Strukturen und durch logisches Denken galoppieren kann, ne.

    Spengler: Ja. Sind denn dann Spezialschulen richtig und wichtig, wie sie es ja heute ja immer mehr gibt?

    Draesner: Ich finde, dass es sehr gut ist, dass es dieses Angebot gibt und dass man das auch ausprobieren kann, aber dann eben auch schauen muss, ob das für dieses spezielle Kind, das man hat, das Richtige ist, ob alle Seiten sich entwickeln, oder wie man das fördern kann. Und auch ansonsten, ich meine, das ist ein intelligentes Kind. Ich finde ganz wichtig, das Kind entscheiden lassen, ausprobieren lassen. Denn das steckt da sozusagen in dieser Gehirnschale und in diesem Tempo und in diesen Denkmuster und Wahrnehmungsmustern und muss ja auch lernen, in seinem Leben damit umzugehen und sich selbst auch kennenlernen.

    Spengler: Ulrike Draesner, freie Schriftstellerin in Berlin, selbst hochbegabt, danke für das Gespräch.