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Man reist ja nicht um anzukommen

"Mobilität ist die früheste, prähistorische Conditio Humana, die Seßhaftigkeit der menschlichen Rasse ist ein historisch erst sehr viel später zu verortendes Phänomen. In frühester Zeit zogen Jäger und Sammler umher; Händler sind die ersten Reisenden, von denen wir wissen. Die Geschichte der Zivilisation ist eine Geschichte der Ortsveränderungrn, großen Wanderungen und neuerlichen Seßhaftigkeit". So programmatisch Karin Hlavin-Schulze in ihrem Buch "Man reist doch nicht, um anzukommen". Ein kühnes Modell - denn daß Zivilisationen oft erst erblühten, nachdem der Schutz der Seßhaftigkeit und der entsprechenden Institutionen gewährleistet war - mit all der hochdifferenzierten Arbeitsteilung, Schichtung und Vernetzung der Gesellschaft - bezeugen nicht zuletzt die antiken Stadtkulturen: erst in den Städten entstand, was wir heute Zivilisation nennen. Die Dialektik von Wanderung und Seßhaftigkeit ist das Steckenpferd der Autorin, das Leitmotiv, das in zahllosen Varianten den Text durchzieht. Dankenswerterweise hält sie sich nicht an ihr eigenes Programm:

Eike Gebhardt |
    "Der Verlust des Paradieses geht ganz ursächlich auf den menschlichen 'Erfahrungshungerl zurück. ... Hänschen Klein aus dem Kinderlied ging allein in die weite Welt hinein - und wird erst dadurch zum Mann. ... Volkswe-I!sheiten wie die, daß alle Wege nach Rom führen, implizieren, daß gerade die Irr- und Umwege und die Erfahrungen, die dabei gemacht werden können, uns ans Ziel bringen."

    Nur: "Man reist doch nicht, um anzukommen", heißt es im Untertitel, d.h. um an ein Ziel zu kommen - auch wenn das Ziel kein Michaux und Kerouac und viele andere Klassiker fehlen wohl nicht zufällig in der Literaturliste. In diesem Sinne spricht der US-Soziologe Robert Liftan von einer "Dialektik der äußeren und inneren Mobilität": "Kick your ass and your mind will follow", sagt der Volksmund dort. Die absichtliche Selbstentwurzelung, die gezielte Desorientierung - aus der Soziologen denn auch eine ausgefeilte Methodik der Umgangsformen gemacht haben - verlangt demnach, daß wir auf unvertraute Impulse mit improvisierten und immer wieder neu entworfenen Orientierungsformen reagieren - etwas, daß im eigenen Zimmer (in dem die Autorin nur eine Schrumpfvariante des Archteyps des Reisens, nicht aber einen qualitativen Unterschied sieht) schwerlich denkbar ist.

    Ein wenig leidet das Buch an seiner klassifikatorischen Form. In ihrer enzyklopädischen Absicht, alle Arten und Motive des Reisens zu versammeln, hat die Autorin Kompromisse bei der psychologischen und sozialkritischen Durchleuchtung eingehen müssen, teilweise bis zu Kurzschlüssen und stereotypen Pauschalisierungen. "Vagabund und Tourist", schreibt sie zum Beispiel in Anlehnung an Zygmunt Bauman, "sind Darstellungen von Lebenstrategien, wie sie für die Postmoderne typisch sind: Beziehungen bleiben fragmentiert und diskontinuierlich; feste Bindungen, langfristige Konsequenzen und dauerhafte Netzwerke, basierend auf gegenseitiger Verantwortung, sind "out".

    Das ist nun entweder tautologisch - oder schlicht falsch. Natürlich sind kurzfristige Begegnungen "fragmentiert und diskontinuierlich" - doch heißt das keineswegs automatisch, daß langfristige Konsequenzen "out" sind, im Gegenteil: eine reiche Literatur belegt die Initialzündung von Zufallsbekanntschaften übrigens bis hin zu Internet-Freundschaften, die in virtuellen Diskussionsräumen beginnen.

    Und so wird die Autorin dieser eindrucksvollen Materialsammlung letztlich doch ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht, eine Art Kulturkritik des Reisens zu entwerfen - sozusagen eine Gegenmatrix, auf der eine seßhafte Gesellschaft sich selber reflektiert: "Reisebeschreibungen beinhalten implizit auch immer die kulturelle Selbstdarstellung der Ausgangskultur - weshalb sie sich als ein wesentlicher Beitrag zur Erforschung kultureller Selbstverständlichkeiten erwiesen haben."

    Das ist unbestreitbar, blendet aber einen wesentlichen Aspekt der modernen Reiseerfahrung und Reiseliteratur aus: Jene, für die Reisen gar kein Reisen mehr ist, weil sie überall zu Hause sind, es also im strengen Sinne gar keine rechte "Ausgangskultur" mehr gibt. Seit ca. einem Vierteljahrhundert gibt es z.B. jene Kulturnomaden, jene freiwilligen E- oder Immigranten, die nicht aus politischen, religiösen oder wirtschaftlichen Gründen die Kultur wechseln, die auch nicht nur Neugier treibt, sondern die einfach eine Zeit ihres Lebens in New York, in Peru oder Indien, in Dublin oder Tel Aviv leben und nichts als Heimweh nach der Fremde kennen.

    "Gerade dort, wo das Reisen als der Versuch zu sehen ist, sich provisorisch 'andere' Realitäten zu konstruieren, ist es vergleichbar mit anderen kulturellen Praktiken wi denen des Spiels, des Festes oder des Rituals." Ob diese in der Tat wohl essentielle Frage mit einer systematischen Katalogisierung einserseits, der interpretatorischen Zurückhaltung andererseits zu beantworten ist? Das Buch von Hlavin-Schulze ist eine gut lesbare und manchmal vergnüglich zu durchblätternde Kartei der Reisetypen und typische Reisemotive. Jetzt müßte jemand eine Philosophie des Reisens daraus machen: Stoff genug hat sie ja vorgelegt.