" Die Jugend aller Bevölkerungsteile hat Gefühl und Begriff der Bürgerlichkeit schlechthin verloren. "
Theodor Geiger stellte diese Diagnose in den späten Jahren der Weimarer Republik. Wohin der Verlust führte, ist bekannt. Und heute? Welches Gefühl und welchen Begriff von Bürgerlichkeit besitzt zum Beispiel der ehemalige Banker und Wirtschaftssenator der Hansestadt Bremen, der von einer öffentlichen Bühne herab einem Obdachlosen eine Flasche Sekt über den Kopf schüttete? Nun gut, der Mann musste zurücktreten. Dennoch kann man den Bremer Sektanschlag durchaus als Bild für den Zynismus sehen, der die Ideale bürgerlicher und bürgerschaftlicher Gesittung und Gesinnung und das Interesse an gesellschaftlicher Integration zu ersetzen droht.
"Die Regierenden und ökonomisch Mächtigen fühlen sich nicht länger an die Friedenspflicht gebunden und proben den Aufstand gegen die "Konsensgesellschaft"."
Schreibt der Berliner Kultursoziologe Wolfgang Engler.
"Ein Aufstand von oben, inspiriert und angetrieben vom Appetit der Satten. Unter dem Schlachtruf "Wir vertragen noch ein Kalb!" richtet er sich geradezu lüstern gegen die kollektiven Garantien des Arbeitsverhältnisses. Den Vertrag bis auf jene Ebene herunter zu brechen, auf der sich nur mehr Individuen begegnen und miteinander kontrahieren, hier der Unternehmer, dort der Arbeitssuchende, ist das Ziel des Angriffs. Die "neue Moral" der Arbeitnehmer erwächst aus der Unterwerfung unter zynische Umstände."
So Wolfgang Engler, auf den wir im Verlauf dieser Sendung zurückkommen. Zunächst aber wollen wir Ihnen einen Band vorstellen, der sich um eine Bestandsaufnahme bürgerlichen Lebens im Nachkriegsdeutschland bemüht und dessen Herausgeber im Klappentext ankündigen lassen, sie wollten "Neuformierungen und Wandlungen des bürgerlichen Wertehorizonts" rekonstruieren. "Bürgertum nach 1945" ist der Reader überschrieben, und Frank J. Heinemann stellt ihn vor.
"Erstaunliches ist zu vermelden: Seit einigen Jahren lässt sich eine stetig voranschreitende Verbreitung und durchweg positive Wahrnehmung des Begriffs "Bürger" beobachten. Doch zugleich bleibt der Begriff des Bürgers ebenso vage wie eine Antwort darauf, was es denn eigentlich heißt, bürgerlich zu sein."
Ja, was heißt es eigentlich? Manfred Hettling, dessen Einführung ins Thema mit den zitierten Sätzen beginnt, Professor in Halle-Wittenberg und gemeinsam mit dem Berliner Historiker Bernd Ulrich Herausgeber des Sammelbands, tastet sich im Verein mit 13 anderen Autoren recht mühsam durch einen zähen Begriffsnebel. Dass das Wort "Bürger" heute in aller Munde ist, erleichtert die Begriffsarbeit nicht. Zum Beispiel: Bürgerversicherung oder Bürgergeld. Mit "Bürger" sind bei beiden alle Einwohner des Landes gemeint. Beim einen sollen alle zahlen, beim anderen alle unterschiedslos etwas bekommen. Volksbeglückung hat Jan Philip Reemtsmas Hamburger "Institut für Sozialforschung" natürlich nicht im Sinn, wenn es nach Bürgerlichkeit im Nachkriegsdeutschland forschen lässt. Reemtsma hat sich sehr verändert: Aus dem öffentlichkeitsscheuen, zarten Intellektuellen, der einst auch gern linke Projekte unterstützte, ist ein den öffentlichen Auftritt suchender, konservativer Anti-Utopist geworden. Jüngst ist er in einem Bändchen über "Dutschke und die RAF" gar zu der Einsicht gelangt, dass in der "Idee eines nichtentfremdeten, authentischen Lebens" eine "Gewaltlockung" liege und "Solidarität" etwas für Leute sei, die "das bürgerliche Leben nicht aushalten". Gegen unbürgerliche Negativität hilft vielleicht das, was Herausgeber Hettling die "positive Besetzung" des Begriffs "Bürgerlichkeit" nennt:
"Ein positives und emphatisches Bürgerverständnis verlangt nach einer Wiederbelebung der verloren gegangenen politischen Ordnungsidee. In dieser politischen Aufladung wurzelt die Aktualisierbarkeit der Bürgerbegrifflichkeit. "
Man könnte es auch einfach sagen: Neue Bürger braucht das Land. In Reemtsmas Hamburgischer Politdramaturgie müssen sie tragende, staatstragende Rollen übernehmen, als Stützen einer Gesellschaft, die durch den angeblich unvermeidlichen Rückbau des Sozialstaats in eine bedrohliche Krise geraten könnte. Der "neue Bürger" geistert allerdings nur als Schattenbild durch Hettlings Einleitung, zur greifbaren Figur wird er auch in keinem der folgenden Beiträge. Aber vielleicht ist eine präzise Konzeption neuer Bürgerlichkeit auch zuviel verlangt. Ist die zuvor zu bewältigende zeithistorische Arbeit doch schon schwer genug. Nämlich das Knäuel von Kontinuität und Diskontinuität von deutscher Bürgerlichkeit zu entwirren, das in den sieben Jahrzehnten seit der Machtübergabe an Hitler entstanden ist. Da sind die Folgen der sozialen Dynamik der zwölf Hitler-Jahre, in denen die "Volksgemeinschaft" die bürgerliche Gesellschaft ersetzte; dann, nach 1945, neue soziale Verwerfungen und eine in Europa beispiellose Bevölkerungsverschiebung, die wiederum eine ungeahnte soziale Dynamik auslöste. Zu diesen Themenkreisen finden sich, wie das bei Sammelbänden nun einmal ist, interessante und weniger gelungene Beiträge. Auf den ersten Blick fällt auf, dass acht der 14 Texte personenbezogen sind, darunter nicht nur die vier, die durch die Überschrift "Lebenswege" verklammert werden, sondern auch weitere vier unter der Überschrift "Leitideen". Gern würde man ja etwas über die Ideen des Neoliberalismus und der Sozialen Marktwirtschaft lesen in einem auf die Sache bezogenen Essay, doch geboten wird nur ein Text über den Volkswirtschaftler Wilhelm Röpke, mit Fleiß zusammengestellt, aber im Grunde nur interessant für Liebhaber von Wissenschaftsgeschichte. Gänzlich unerfindlich bleibt, was im Kontext von Bürgerlichkeit das Porträt des Nazi-Professors Hans Freyer zu suchen hat. Frucht solider Archivarbeit ist die Darstellung des Wirkens zweier Altersgenossen Konrad Adenauers, der Bremer Senatoren Spitta und Apelt, die der Mitherausgeber Bernd Ulrich liefert. Aber müssen wir, um dem Phänomen "Bürgerlichkeit" näher zu kommen, wirklich bis in kleinste Einzelheiten wissen, wie nach 1945 hanseatische Pfeffersäcke und "Sozis", hier in Gestalt des alten Wilhelm Kaisen, gut miteinander zurande kamen. Von "Aktualisierbarkeit" jedenfalls kaum eine Spur. Das gilt auch für das Porträt der beiden wichtigen Nachkriegszeitschriften mit den programmatischen Titeln "Sammlung" und "Wandlung" und deren Herausgeber Herman Nohl und Dolf Sternberger. Altbackene Bürgerlichkeit einerseits, andererseits aber ein bereicherndes Abtauchen in die versunkene Denkwelt der fünfziger Jahre, zu dem der junge Historiker Kai Arne Linnemann einlädt.
Drei der Beiträge, die bürgerliche "Lebenswege" beschreiben, sind Selbstdarstellungen. Der 1923 geborene Historiker Reinhart Koselleck berichtet in einem Interview mit großer Offenheit über seinen vom Bildungsbürgertum bestimmten Weg. Kosellecks Vater, ein Pädagogikprofessor, konnte dem aus dem Krieg zurückgekehrten Sohn dank intakt gebliebener bürgerlicher Beziehungsnetze zu einem Studienplatz in Heidelberg verhelfen und sich auch um die ersten Stationen seines Berufswegs kümmern, bis Koselleck aus eigener Kraft Geschichtsprofessor und eine Leuchte seines Fachs wurde. Ein Blick zurück in goldene Zeiten eines weitgefächerten Studiums, zu dem auch eine frühe Begegnung mit Carl Schmitt gehörte. Dem Mephisto des deutschen Staatsrechts stand Koselleck lange Zeit unkritisch gegenüber, als unpolitischer Bürger sozusagen. Politisch wurde er, als er sich, gerade als Schlesier, für die Oder-Neiße-Grenze engagierte. Dank seiner souveränen Offenheit vermitteln sich die Schwachpunkte und Glanzlichter eines deutschen Bürgerlebens überzeugend.
Auf solche Weise Allgemeines durch Persönliches anschaulich zu machen, schaffen die anderen "Lebensweg"-Beschreibungen leider nicht. Das größte Ärgernis des Bandes liefert der bekannteste Mitarbeiter des Instituts, der Soziologe Heinz Bude. Professor Bude macht zunächst einen fahrigen Streifzug durch die Begriffsgeschichte der Bürgerlichkeit und nennt drei traditionelle Merkmale des Bürgers:
"Erstens: Familienstolz / Zweitens: Ständischer Instinkt / Drittens: Gemeinschaftsverpflichtung, Denken ans Allgemeine."
Statt die prekäre Kontinuität dieser Merkmale in der Nachkriegsgesellschaft analytisch zu untersuchen und zu erkunden, was davon für den gesuchten "neuen Bürger" Bestand hätte, macht Bude es sich bequem. Er greift mal wieder in die Generationen-Kiste und stellt drei Pappkameraden auf, die er mit angeblich generationstypischen Merkmalen ausstaffiert:
"Erstens: Hellmut Becker, Jahrgang 1913, einflussreicher Bildungsreformer in der jungen Bundesrepublik / Zweitens: Joachim Fest, Jahrgang 1926, Journalist und Hitler-Biograph, einflussreicher Mitherausgeber der FAZ bis 1993 / Drittens: Joschka Fischer, Jahrgang 1948."
Spätestens beim Auftauchen von Musterbürger Numero drei möchte man das Buch in die Ecke werfen. Ausgerechnet das Chamäleon Fischer, das sich seit 1968 immer genau jenes Erscheinungsbild zulegte, das für einen weiteren Schritt nach oben nötig war, als angeblich "praktisches Vorbild" für Bürgerlichkeit ... So etwas lässt sich nicht mehr ernsthaft diskutieren. Die anderen angeblichen Prototypen, Becker und Fest, sind zwar interessante Persönlichkeiten mit mancherlei "bürgerlichen" Zügen, stehen doch aber jeder für sich selbst und repräsentieren nicht ganze "Bürgertumsgenerationen" in der Bundesrepublik, wie es der Titel von Budes Beitrag verspricht.
Wohltuend solide ist demgegenüber, was Burkart Lutz beiträgt. Der Altmeister der Industriesoziologie räumt mit der Vorstellung auf, der berühmte "rheinische Kapitalismus" habe schon in den bundesdeutschen Gründerjahren für soziale Harmonie gesorgt. Lutz überprüft betriebssoziologische Studien aus den fünfziger Jahren und stellt mit dem Blick von heute erhebliches Konfliktpotential fest, beispielsweise große Unzufriedenheit unter jungen Arbeitern im Ruhrgebiet. Anders als eigentlich zu erwarten, wurde der Sprengstoff jedoch entschärft - durch technische Modernisierung. Nun gab es wie in der industriellen Frühzeit wieder Plätze für nur angelernte Kräfte mit geringer Bildung. Die Anwerbung von Gastarbeitern rollte an, und ein großer Teil der unzufriedenen jungen deutschen Arbeiter rückte in Techniker- und Ingenieurspositionen auf. Die Aufsteiger übernahmen auch privat bürgerliche Verhaltensweisen. Lutz weist allerdings auf die Zeitgebundenheit des Verbürgerlichungsprozesses hin, heute seien die Voraussetzungen für solchen Aufstieg nicht mehr gegeben. Beiträge wie diesen, der sozialen Wandel neu beleuchtet, hätte man sich mehr gewünscht. Stattdessen wird sehr viel Bekanntes ausgebreitet: Über Etikettefragen bei der jungen Bundeswehr, über das Schwanken des Adels zwischen Distanz und Anpassung an die Nachkriegsgesellschaft, über bürgerliche Restbestände in der antibürgerlichen DDR und über den nicht gar so langen Marsch der jungen Anti-Bürger von 68 in die Bürgerlichkeit. Schließlich eine Betrachtung über den Massenkonsum, der angeblich zur "Individualisierung" beigetragen hat. Bei der Selbstbedienung sei der Konsument zu Herr und Knecht in einer Person geworden, philosophiert der Historiker Michael Wildt allen Ernstes und begibt sich unter das Niveau, das er mit seiner bahnbrechenden Studie über die kalten Jung-Technokraten im Reichssicherheitshauptamt erreicht hatte. Von Wildt hätte man lieber eine Analyse der Denkstrukturen junger Technokraten von heute gelesen, etwa der coolen Boys und Girls bei McKinsey oder Roland Berger, die Menschen als "Kosten auf zwei Beinen" durchkalkulieren. Doch Kritik an entfremdetem Leben fällt anscheinend schwer in einem Institut, in dem der Hausherr fürchtet, davon könnte eine Verlockung zu verderblicher Gewalt ausgehen.
Sie hörten eine Rezension von Frank J. Heinemann. Der Sammelband "Bürgertum nach 1945" wird von Manfred Hettling und Bernd Ulrich herausgegeben. Er ist erschienen in der Hamburger Edition, hat 438 Seiten und kostet 35 Euro.
Theodor Geiger stellte diese Diagnose in den späten Jahren der Weimarer Republik. Wohin der Verlust führte, ist bekannt. Und heute? Welches Gefühl und welchen Begriff von Bürgerlichkeit besitzt zum Beispiel der ehemalige Banker und Wirtschaftssenator der Hansestadt Bremen, der von einer öffentlichen Bühne herab einem Obdachlosen eine Flasche Sekt über den Kopf schüttete? Nun gut, der Mann musste zurücktreten. Dennoch kann man den Bremer Sektanschlag durchaus als Bild für den Zynismus sehen, der die Ideale bürgerlicher und bürgerschaftlicher Gesittung und Gesinnung und das Interesse an gesellschaftlicher Integration zu ersetzen droht.
"Die Regierenden und ökonomisch Mächtigen fühlen sich nicht länger an die Friedenspflicht gebunden und proben den Aufstand gegen die "Konsensgesellschaft"."
Schreibt der Berliner Kultursoziologe Wolfgang Engler.
"Ein Aufstand von oben, inspiriert und angetrieben vom Appetit der Satten. Unter dem Schlachtruf "Wir vertragen noch ein Kalb!" richtet er sich geradezu lüstern gegen die kollektiven Garantien des Arbeitsverhältnisses. Den Vertrag bis auf jene Ebene herunter zu brechen, auf der sich nur mehr Individuen begegnen und miteinander kontrahieren, hier der Unternehmer, dort der Arbeitssuchende, ist das Ziel des Angriffs. Die "neue Moral" der Arbeitnehmer erwächst aus der Unterwerfung unter zynische Umstände."
So Wolfgang Engler, auf den wir im Verlauf dieser Sendung zurückkommen. Zunächst aber wollen wir Ihnen einen Band vorstellen, der sich um eine Bestandsaufnahme bürgerlichen Lebens im Nachkriegsdeutschland bemüht und dessen Herausgeber im Klappentext ankündigen lassen, sie wollten "Neuformierungen und Wandlungen des bürgerlichen Wertehorizonts" rekonstruieren. "Bürgertum nach 1945" ist der Reader überschrieben, und Frank J. Heinemann stellt ihn vor.
"Erstaunliches ist zu vermelden: Seit einigen Jahren lässt sich eine stetig voranschreitende Verbreitung und durchweg positive Wahrnehmung des Begriffs "Bürger" beobachten. Doch zugleich bleibt der Begriff des Bürgers ebenso vage wie eine Antwort darauf, was es denn eigentlich heißt, bürgerlich zu sein."
Ja, was heißt es eigentlich? Manfred Hettling, dessen Einführung ins Thema mit den zitierten Sätzen beginnt, Professor in Halle-Wittenberg und gemeinsam mit dem Berliner Historiker Bernd Ulrich Herausgeber des Sammelbands, tastet sich im Verein mit 13 anderen Autoren recht mühsam durch einen zähen Begriffsnebel. Dass das Wort "Bürger" heute in aller Munde ist, erleichtert die Begriffsarbeit nicht. Zum Beispiel: Bürgerversicherung oder Bürgergeld. Mit "Bürger" sind bei beiden alle Einwohner des Landes gemeint. Beim einen sollen alle zahlen, beim anderen alle unterschiedslos etwas bekommen. Volksbeglückung hat Jan Philip Reemtsmas Hamburger "Institut für Sozialforschung" natürlich nicht im Sinn, wenn es nach Bürgerlichkeit im Nachkriegsdeutschland forschen lässt. Reemtsma hat sich sehr verändert: Aus dem öffentlichkeitsscheuen, zarten Intellektuellen, der einst auch gern linke Projekte unterstützte, ist ein den öffentlichen Auftritt suchender, konservativer Anti-Utopist geworden. Jüngst ist er in einem Bändchen über "Dutschke und die RAF" gar zu der Einsicht gelangt, dass in der "Idee eines nichtentfremdeten, authentischen Lebens" eine "Gewaltlockung" liege und "Solidarität" etwas für Leute sei, die "das bürgerliche Leben nicht aushalten". Gegen unbürgerliche Negativität hilft vielleicht das, was Herausgeber Hettling die "positive Besetzung" des Begriffs "Bürgerlichkeit" nennt:
"Ein positives und emphatisches Bürgerverständnis verlangt nach einer Wiederbelebung der verloren gegangenen politischen Ordnungsidee. In dieser politischen Aufladung wurzelt die Aktualisierbarkeit der Bürgerbegrifflichkeit. "
Man könnte es auch einfach sagen: Neue Bürger braucht das Land. In Reemtsmas Hamburgischer Politdramaturgie müssen sie tragende, staatstragende Rollen übernehmen, als Stützen einer Gesellschaft, die durch den angeblich unvermeidlichen Rückbau des Sozialstaats in eine bedrohliche Krise geraten könnte. Der "neue Bürger" geistert allerdings nur als Schattenbild durch Hettlings Einleitung, zur greifbaren Figur wird er auch in keinem der folgenden Beiträge. Aber vielleicht ist eine präzise Konzeption neuer Bürgerlichkeit auch zuviel verlangt. Ist die zuvor zu bewältigende zeithistorische Arbeit doch schon schwer genug. Nämlich das Knäuel von Kontinuität und Diskontinuität von deutscher Bürgerlichkeit zu entwirren, das in den sieben Jahrzehnten seit der Machtübergabe an Hitler entstanden ist. Da sind die Folgen der sozialen Dynamik der zwölf Hitler-Jahre, in denen die "Volksgemeinschaft" die bürgerliche Gesellschaft ersetzte; dann, nach 1945, neue soziale Verwerfungen und eine in Europa beispiellose Bevölkerungsverschiebung, die wiederum eine ungeahnte soziale Dynamik auslöste. Zu diesen Themenkreisen finden sich, wie das bei Sammelbänden nun einmal ist, interessante und weniger gelungene Beiträge. Auf den ersten Blick fällt auf, dass acht der 14 Texte personenbezogen sind, darunter nicht nur die vier, die durch die Überschrift "Lebenswege" verklammert werden, sondern auch weitere vier unter der Überschrift "Leitideen". Gern würde man ja etwas über die Ideen des Neoliberalismus und der Sozialen Marktwirtschaft lesen in einem auf die Sache bezogenen Essay, doch geboten wird nur ein Text über den Volkswirtschaftler Wilhelm Röpke, mit Fleiß zusammengestellt, aber im Grunde nur interessant für Liebhaber von Wissenschaftsgeschichte. Gänzlich unerfindlich bleibt, was im Kontext von Bürgerlichkeit das Porträt des Nazi-Professors Hans Freyer zu suchen hat. Frucht solider Archivarbeit ist die Darstellung des Wirkens zweier Altersgenossen Konrad Adenauers, der Bremer Senatoren Spitta und Apelt, die der Mitherausgeber Bernd Ulrich liefert. Aber müssen wir, um dem Phänomen "Bürgerlichkeit" näher zu kommen, wirklich bis in kleinste Einzelheiten wissen, wie nach 1945 hanseatische Pfeffersäcke und "Sozis", hier in Gestalt des alten Wilhelm Kaisen, gut miteinander zurande kamen. Von "Aktualisierbarkeit" jedenfalls kaum eine Spur. Das gilt auch für das Porträt der beiden wichtigen Nachkriegszeitschriften mit den programmatischen Titeln "Sammlung" und "Wandlung" und deren Herausgeber Herman Nohl und Dolf Sternberger. Altbackene Bürgerlichkeit einerseits, andererseits aber ein bereicherndes Abtauchen in die versunkene Denkwelt der fünfziger Jahre, zu dem der junge Historiker Kai Arne Linnemann einlädt.
Drei der Beiträge, die bürgerliche "Lebenswege" beschreiben, sind Selbstdarstellungen. Der 1923 geborene Historiker Reinhart Koselleck berichtet in einem Interview mit großer Offenheit über seinen vom Bildungsbürgertum bestimmten Weg. Kosellecks Vater, ein Pädagogikprofessor, konnte dem aus dem Krieg zurückgekehrten Sohn dank intakt gebliebener bürgerlicher Beziehungsnetze zu einem Studienplatz in Heidelberg verhelfen und sich auch um die ersten Stationen seines Berufswegs kümmern, bis Koselleck aus eigener Kraft Geschichtsprofessor und eine Leuchte seines Fachs wurde. Ein Blick zurück in goldene Zeiten eines weitgefächerten Studiums, zu dem auch eine frühe Begegnung mit Carl Schmitt gehörte. Dem Mephisto des deutschen Staatsrechts stand Koselleck lange Zeit unkritisch gegenüber, als unpolitischer Bürger sozusagen. Politisch wurde er, als er sich, gerade als Schlesier, für die Oder-Neiße-Grenze engagierte. Dank seiner souveränen Offenheit vermitteln sich die Schwachpunkte und Glanzlichter eines deutschen Bürgerlebens überzeugend.
Auf solche Weise Allgemeines durch Persönliches anschaulich zu machen, schaffen die anderen "Lebensweg"-Beschreibungen leider nicht. Das größte Ärgernis des Bandes liefert der bekannteste Mitarbeiter des Instituts, der Soziologe Heinz Bude. Professor Bude macht zunächst einen fahrigen Streifzug durch die Begriffsgeschichte der Bürgerlichkeit und nennt drei traditionelle Merkmale des Bürgers:
"Erstens: Familienstolz / Zweitens: Ständischer Instinkt / Drittens: Gemeinschaftsverpflichtung, Denken ans Allgemeine."
Statt die prekäre Kontinuität dieser Merkmale in der Nachkriegsgesellschaft analytisch zu untersuchen und zu erkunden, was davon für den gesuchten "neuen Bürger" Bestand hätte, macht Bude es sich bequem. Er greift mal wieder in die Generationen-Kiste und stellt drei Pappkameraden auf, die er mit angeblich generationstypischen Merkmalen ausstaffiert:
"Erstens: Hellmut Becker, Jahrgang 1913, einflussreicher Bildungsreformer in der jungen Bundesrepublik / Zweitens: Joachim Fest, Jahrgang 1926, Journalist und Hitler-Biograph, einflussreicher Mitherausgeber der FAZ bis 1993 / Drittens: Joschka Fischer, Jahrgang 1948."
Spätestens beim Auftauchen von Musterbürger Numero drei möchte man das Buch in die Ecke werfen. Ausgerechnet das Chamäleon Fischer, das sich seit 1968 immer genau jenes Erscheinungsbild zulegte, das für einen weiteren Schritt nach oben nötig war, als angeblich "praktisches Vorbild" für Bürgerlichkeit ... So etwas lässt sich nicht mehr ernsthaft diskutieren. Die anderen angeblichen Prototypen, Becker und Fest, sind zwar interessante Persönlichkeiten mit mancherlei "bürgerlichen" Zügen, stehen doch aber jeder für sich selbst und repräsentieren nicht ganze "Bürgertumsgenerationen" in der Bundesrepublik, wie es der Titel von Budes Beitrag verspricht.
Wohltuend solide ist demgegenüber, was Burkart Lutz beiträgt. Der Altmeister der Industriesoziologie räumt mit der Vorstellung auf, der berühmte "rheinische Kapitalismus" habe schon in den bundesdeutschen Gründerjahren für soziale Harmonie gesorgt. Lutz überprüft betriebssoziologische Studien aus den fünfziger Jahren und stellt mit dem Blick von heute erhebliches Konfliktpotential fest, beispielsweise große Unzufriedenheit unter jungen Arbeitern im Ruhrgebiet. Anders als eigentlich zu erwarten, wurde der Sprengstoff jedoch entschärft - durch technische Modernisierung. Nun gab es wie in der industriellen Frühzeit wieder Plätze für nur angelernte Kräfte mit geringer Bildung. Die Anwerbung von Gastarbeitern rollte an, und ein großer Teil der unzufriedenen jungen deutschen Arbeiter rückte in Techniker- und Ingenieurspositionen auf. Die Aufsteiger übernahmen auch privat bürgerliche Verhaltensweisen. Lutz weist allerdings auf die Zeitgebundenheit des Verbürgerlichungsprozesses hin, heute seien die Voraussetzungen für solchen Aufstieg nicht mehr gegeben. Beiträge wie diesen, der sozialen Wandel neu beleuchtet, hätte man sich mehr gewünscht. Stattdessen wird sehr viel Bekanntes ausgebreitet: Über Etikettefragen bei der jungen Bundeswehr, über das Schwanken des Adels zwischen Distanz und Anpassung an die Nachkriegsgesellschaft, über bürgerliche Restbestände in der antibürgerlichen DDR und über den nicht gar so langen Marsch der jungen Anti-Bürger von 68 in die Bürgerlichkeit. Schließlich eine Betrachtung über den Massenkonsum, der angeblich zur "Individualisierung" beigetragen hat. Bei der Selbstbedienung sei der Konsument zu Herr und Knecht in einer Person geworden, philosophiert der Historiker Michael Wildt allen Ernstes und begibt sich unter das Niveau, das er mit seiner bahnbrechenden Studie über die kalten Jung-Technokraten im Reichssicherheitshauptamt erreicht hatte. Von Wildt hätte man lieber eine Analyse der Denkstrukturen junger Technokraten von heute gelesen, etwa der coolen Boys und Girls bei McKinsey oder Roland Berger, die Menschen als "Kosten auf zwei Beinen" durchkalkulieren. Doch Kritik an entfremdetem Leben fällt anscheinend schwer in einem Institut, in dem der Hausherr fürchtet, davon könnte eine Verlockung zu verderblicher Gewalt ausgehen.
Sie hörten eine Rezension von Frank J. Heinemann. Der Sammelband "Bürgertum nach 1945" wird von Manfred Hettling und Bernd Ulrich herausgegeben. Er ist erschienen in der Hamburger Edition, hat 438 Seiten und kostet 35 Euro.