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Manuskript: Schön alt

Die Zahl der über Hundertjährigen steigt. Und erstaunlich viel Hochbetagte haben trotz vieler Einschränkungen und Verluste noch Spaß am Leben, nicht selten sogar Ziele. Welche psychologischen Fähigkeiten ihnen dies ermöglichen, haben Forscher der Universität Heidelberg in einer neuen Studie untersucht. Jetzt unterstützen die Wissenschaftler ein weiteres, ehrgeiziges Projekt: Der Genomics XPrize will das Genom von 100 über Hundertjährigen aus aller Welt sequenzieren lassen. Auf der Suche nach den genetischen Bedingungen für ein gesundes Altern.

Von Martina Keller | 31.03.2013
    "Sie kommen aus Hamburg? … Aber hoffentlich nicht heute, das wäre eine zu weite Fahrt"

    Gerta Scharffenorth empfängt mich in ihrer Heidelberger Wohnung. Sie lebt alleine, unterstützt von einer Betreuerin.

    "Die Hundertjährigen-Studie geht es an? Oder durch die haben Sie vielleicht gehört von mir, nicht?"

    Scharffenorth ist eine kleine Frau. Die hohe Stirn umrahmt von schneeweißem Haar. Als sie geboren wurde, stand der Erste Weltkrieg noch bevor.

    "Ich bin Journalistin, ich kann Ihnen die Sendung auch gerne schicken auf CD."

    Scharffenorth: "Ich weiß nicht, ob ich noch lebe, aber es würde mich sehr interessieren, wenn ich lebe."

    Präsent und immer noch sehr neugierig wirkt Gerta Scharffenorth mit ihren 101 Jahren. Damit ist sie keine Ausnahme.

    "Also, was mich besonders fasziniert ist eigentlich, dass die Hundertjährigen ja für uns so ein Modell darstellen für erfolgreiches Altern. Aber wenn man dann genauer hinguckt, sieht man, dass die zwar sehr alt geworden sind, aber im hohen Alter mit sehr vielen Verlusten konfrontiert sind, und das ist genau der Punkt, dass nämlich diese Personen trotz der Konfrontation mit diesen Verlusten und vor allem der Ressourcenrestriktion, die sie in ihrem Alltag erleben, doch sehr positiv und optimistisch sind."

    Daniela Jopp ist Professorin für angewandte Entwicklungspsychologie an der Fordham University in New York. Sie gehört zu den wenigen Wissenschaftlern weltweit, die sich mit Hundertjährigen beschäftigen. Die Lebenserwartung steigt, und damit wächst auch das Interesse an Menschen, die es schaffen, eine kaum vorstellbar lange Zeit zu leben

    "Ich hatte eine Großmutter, die leider sehr stark dement war, und einen Großvater, der sehr fit und aktiv war, und mich hat schon immer fasziniert, wie es dazu kommt, dass manche Leute sehr gut altern und anderen das leider nicht gegeben ist."

    Gerta Scharffenorth ist es gelungen zu altern, wie sie gelebt hat. Als eines von nur drei Mädchen besuchte sie in Schlesien ein Jungengymnasium. Noch während der Schulzeit teilte sie ihren Eltern ihren Berufswunsch mit:

    "Also ich möchte Medizin studieren, ich war sehr fasziniert und interessiert an der Medizin und ich wusste, dass es ein sehr langes ist, auch nicht ein leichtes Studium, aber ich war fest entschlossen."

    Scharffenorth machte das beste Abitur ihres Jahrgangs, doch die Eltern lehnten ihren Herzenswunsch ab – die Ausbildung der Brüder ging vor. Trotzdem hat sie ihren Weg gefunden, einen sehr ungewöhnlichen Weg. Mit 44 Jahren, als die geschiedene Frau drei Kinder groß gezogen hatte, begann sie Theologie und Politologie zu studieren, mit dem Abschluss Promotion.

    "Damals waren auch die Verhältnisse für Frauen in der Kirche noch sehr umstritten, da habe ich mir gesagt: Wenn Du erst mit 50 den Beruf anfängst, kannst Du Dir nicht – willst Du auch nicht - drei vier Jahre leisten, wo man hin und her geschoben wird, hier mal Religionslehrerin und da mal Vertretung und so. Ich hab gesagt: Wenn ich studiere, will ich auch Verantwortung tragen."

    Nach dem Studium leitete Scharffenorth für sechs Jahre den Evangelischen Gemeindedienst in Heidelberg. Danach war sie mehrere Jahrzehnte in der Friedensforschung tätig. 1970 wählte man sie als erste Frau überhaupt in den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Noch bis zu ihrem 80. Lebensjahr koordinierte sie ein Forschungs-Projekt. Nun ist sie wie andere ihres Jahrgangs selbst in den Blick der Forschung geraten. Daniela Jopp hat mit Kollegen ihrer alten Universität Heidelberg die zweite Heidelberger Hundertjährigenstudie initiiert. Für diese Untersuchung wurde auch Gerta Scharffenorth befragt, die Ergebnisse sind noch unveröffentlicht.

    "Wir haben jetzt gerade angefangen mit der Auswertung, das sind also noch vorläufige Ergebnisse, die wir haben, aber wir konnten schon feststellen bei der Rekrutierung, dass es heute dreimal so viele Hundertjährige gibt als noch vor zwölf Jahren, was schon ein ganz wichtiges Ergebnis ist. Alle anderen Annahmen gingen davon aus, dass es nur doppelt so viele sind - es sind aber dreimal so viele."

    Die Hochbetagten sind die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Als Gerta Scharffenorth 1911 als Gerta von Mutius geboren wurde, betrug die Wahrscheinlichkeit, dass sie einmal 100 Jahre alt würde, nur etwa ein Prozent. Ihre Urenkelinnen haben bereits eine Chance von 50 Prozent, dieses biblische Alter zu erreichen. Die nach 1990 Geborenen werden bereits als Generation C bezeichnet – C wie Centenarians, Hundertjährige. Bleibt es bei diesem Trend, wird es große Veränderungen geben, im Miteinander der Generationen, in den Sozialsystemen. Doch nicht nur die demographische Entwicklung ist spannend. Hochbetagte widerlegen auch manches Klischee, das sich mit ihrer Altersklasse verbindet. Die meisten über 90jährigen sind nicht dement und sie leben selbständig, wenngleich mit Hilfen und Einschränkungen. Von den Hundertjährigen aus der ersten Heidelberger Studie gingen viele noch bis zum 95. Lebensjahr ihren gewohnten Aktivitäten nach. Kann es sein, dass Hundertjährige über eine besonders robuste Natur verfügen? Daniela Jopp:

    "Es gibt von Tom Perls, dem Leiter der New England Centenarian Study, eine Unterscheidung in drei Gruppen: Es gibt die sogenannten Survivors, Leute, die eine schwere Erkrankung hatten, möglicherweise auch schon in der Kindheit, also die schwächlichen Kinder, die wenn sie das überwunden haben, ein sehr starkes Immunsystem haben. Es gibt die Delayers, das sind die Personen, die altersbezogene Erkrankungen zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt entwickeln, also das, was andere Leute zwischen 70 und 80 bekommen, bekommen die erst ab 90. Und es gibt die Escapers, nämlich Personen, die tatsächlich gar nicht betroffen sind von altersassoziierten Erkrankungen, sondern escapen, also davonlaufen, und dann innerhalb einer Woche sterben, ohne davor irgendwelche Krankheiten gehabt zu haben."

    Diese Escapers machen allerdings nur 15 Prozent der 1800 über Hundertjährigen aus, die Perls in seiner Studie einbezog. Das Bild vom unverwüstlichen Methusalem wird dem durchschnittlichen 100jährigen also nicht gerecht - ebensowenig allerdings das des vor sich hinsiechenden Dementen. Für die zweite Heidelberger Hundertjährigen-Studie haben Jopp und ihre Kollegen alle Hundertjährigen im Raum Mannheim, Karlsruhe und Heidelberg erfasst. Von 596 möglichen Kandidaten konnten sie 113 für ihre Untersuchung gewinnen.

    "Also die Hundertjährigen, mit denen wir es hier zu tun haben, die haben in der Regel vier bis fünf chronische Erkrankungen, die schränken natürlich in der Regel ihren Alltag sehr ein, die sind in der Regel auch damit konfrontiert, dass sie ihren Lebenspartner verloren haben, einige von ihnen haben zum Beispiel auch ihre Kinder schon verloren - die sterben manchmal halt früher als die Eltern. Aus dem Grund haben sie in ihrem Alltag sehr oft damit zu tun, dass Dinge, die früher funktioniert haben, plötzlich nicht mehr gehen und man Unterstützung braucht."

    Jopp meint hier Ressourcen insgesamt, also all das, was man braucht, um gut zu leben. Neben einer guten körperlichen Verfassung zählen dazu auch Familie, Freunde oder Alltagsinteressen. Die Ältesten der Gesellschaft müssen damit klar kommen, dass ihre Ressourcen weniger werden. Aber wie machen sie das? Welche psychologischen Stärken helfen ihnen dabei? Diese Frage stand für die Forscher um Jopp im Mittelpunkt. Man sollte annehmen, dass eine von Verlusten und Beschränkungen geprägte Lebenssituation sich stark auf das Wohlbefinden der Hochbetagten auswirkt, dass sie depressiv, mutlos oder sogar lebensmüde werden, doch das Gegenteil ist der Fall. Jopp spricht vom sogenannten Wohlbefindens-Paradox.

    "Wenn wir uns die Daten anschauen, sieht man sehr schön, dass trotz all der Einschränkungen die Hundertjährigen relativ zufrieden mit ihrem Leben sind. Sie sind in der Regel extrovertiert, das heißt, sie interessieren sich für andere Menschen und interagieren gern mit anderen Menschen und sie empfinden sich in Kontrolle, also sie haben, was wir Selbstwirksamkeit nennen, sie haben das Gefühl, dass sie in der Lage sind, ihr Leben zu kontrollieren."

    "Hier ist Frau Scharffenorth, Herr Feldgen, wann können Sie heute kommen?"

    Der Physiotherapeut von Gerta Scharffenorth ist am Telefon.

    "Das wäre die Möglichkeit, aber ich habe heute durch Besonderheiten …. ich bin gerade in einem Interview und hab heute Nachmittag einen Termin in der Stadt, also Viertel nach fünf würde gehen."

    Sie hat Probleme mit der Schulter, vor zwei Jahren ist sie gestürzt.

    "Ja, dann lassen wir aussetzen, nicht? Ja, also die Schulter würde es gebrauchen, dass mit ihr gearbeitet wird, aber dann muss das eben warten bis Montag, das ist nicht so tragisch."

    Ein klares Wort, der Termin ist abgesagt. Scharffenorth muss haushalten mit ihren Kräften. Die lädierte Schulter ist nicht die einzige Beschwernis, mit der sie sich plagt. Letztes Jahr machte ihr wochenlang ein Magen-Darmvirus zu schaffen. Auch die Beine wollen nicht mehr so. Früher hielt sie sich mit täglichen Spaziergängen fit, das geht jetzt nur noch mit Hilfe, und auch nicht an jedem Tag.

    "Was man gelernt hat, ist eben, dass man versucht mit den Behinderungen oder Erschwernissen auch so umzugehen, dass sie eben nicht total das Lebensgefühl bestimmen. Also das Gefühl, es wird schon halbwegs gehen, muss das Entscheidende bleiben und nicht: Meinje, mit diesen Schmerzen oder mit dieser Schwierigkeit geht es nicht weiter. Also, das lernt man ja auch schon beim Älterwerden, aber es gibt da doch sehr große Stufen des Lernens, wo es dann doch sehr viel schwerer fällt."
    Peter Fecht sind solche Herausforderungen bislang erspart geblieben.

    "Ja, ich steh morgens auf, wasch mich, mach ein bisschen Hampelei, ein bisschen Frühsport, und dann wasch ich mich, und dann arbeite ich ein bisschen und dann koche ich, ich mach alles selber bis jetzt, nicht."

    "Sie können auch kochen?"

    "Die üblichen Sachen, ganz einfach, aber gesund. Ich mach also grünen Salat und Suppe und verwende viele Haferflocken, Kartoffeln. Natürlich Fleisch, Fisch. Wurst esse ich wenig, viel Obst, jeden Tagt esse ich zwei Äpfel, ich lebe ganz einfach, nicht."

    Fecht lebt im selben Haus wie sein Sohn, aber in seiner eigenen Wohnung, ohne Betreuung.

    "Ich setze mein Leben fort, wie ich das immer geführt habe, auch im Alter. Nur kann ich nicht mehr lange laufen, und da lass ich mich jetzt massieren, durch die Frau, die ich jetzt eingestellt habe, da lass ich mich jeden Tag massieren, da haben wir jetzt vor drei Tagen angefangen, hier und hinten im Rücken, weil festgestellt worden ist, dass die Venen hier unten die eines Zwanzigjährigen sind, stellen Sie sich das mal vor, ist alles noch in Ordnung! Nur die Muskeln funktionieren nicht, und wahrscheinlich auch der Fluss des Blutes, das geht scheinbar auch ein bissl langsamer."

    Fecht ist Ingenieur, und eigentlich auch Erfinder. Als er eine Sperrholzfabrik leitete, ließ er das Rohmaterial nach einem von ihm selbst entwickelten Verfahren trocknen. Er gehörte zu den Ersten, die Holzabfälle aus der Möbelproduktion nutzten, um Abfälle zu verbrennen. Später half ihm dieses Wissen bei der Trommel-Trocknung von Kompostabfällen. Sein wichtigstes Projekt aber hat mit Krankenhaushygiene zu tun.

    "Das war vor 40 Jahren. Ich bin also ganz logisch vorgegangen, ganz einfach logisch: Ich muss die infektiösen Abfälle am Ort des Anfalls einsammeln und zwar so einsammeln, dass keine Keime mehr ausgestreut werden können, das heißt, ich muss die Spritzen in kleinen Behältern sammeln Und dann muss ich diese Beutel dann sammeln in einem größeren Behälter, und der größere Behälter darf aber nicht im Krankenzimmer oder im OP stehen, sondern im Entsorgungsraum, und dort werden diese einzelnen kleinen Behältnisse rein gegeben, also das ist eine sogenannte Doppelverpackung, nicht."

    Fecht holt einen Modellbehälter, der im Wohnzimmer bereit steht.

    "Die sind aus Karton, aus Karton, der Deckel ist nicht aus Kunststoff, das ist von einem späteren Behälter. Und das hab ich vielleicht fünf, sechs Jahre gemacht und habe das auch zum Patent angemeldet und habe ein ordentlich geprüftes Patent bekommen, und zwar nur für die doppelte Einpackung, nicht, die auf der ganzen Welt scheinbar nicht gemacht worden ist."

    Mehrfach steht Fecht während des Gesprächs auf, läuft durch die Wohnung, holt eine Zeichnung auf Millimeterpapier, Schokolade für mich. Beweglich ist er, und auch bei guter Kondition. Im Wohnzimmer steht ein Heimtrainer.

    "Also ich bin wahrscheinlich der Älteste, der in der Gegend rumläuft, ich lauf natürlich langsam am Stock, aber ich lauf noch rum. Wenn ich Zeit habe, geh ich noch so für ein zwei Stunden in die Stadt, man muss immer in Bewegung bleiben, nicht. Ich fahre jeden Tag mit dem Fahrrad hier, vier Kilometer, hier mit dem Ding, abends während ich Fernsehen guck, strampel ich mit dem Fahrrad, nicht."

    Peter Fecht gehört zu den sogenannten Escapern, legt man die Einteilung des Altersforschers Tom Perls zugrunde: Trotz seiner 104 Jahre ist er bislang von typischen Alterserkrankungen verschont geblieben. Was aber ist die Ursache dafür? Sind Menschen wie Fecht womöglich von der Natur anders und besser ausgestattet als die übrigen? Ein spektakuläres Projekt aus den USA will dies nun herausfinden. 100 gesunde über 100jährige aus aller Welt wurden als Probanden rekrutiert, auch Peter Fecht ist dabei.

    "Gene - der Schlüssel zu langem und gesundem Leben - sind in unserem genetischen Bauplan, und dieses Geheimnis tragen sie in sich, in jeder Zelle ihres Körpers. Wenn wir die Botschaft nur lesen und entziffern könnten"

    Das Projekt stellt sich auf einer eigenen Webseite vor - genomics.xprize.org. Noch bis Mai 2013 können sich Forscher-Teams für den Archon Genomics X-Prize bewerben. Benannt ist er nach seinem Stifter, dem Besitzer des Unternehmens Archon Minerals in Kanada

    "Warum kann nicht jeder Mensch länger und gesünder leben? Der Archon Genomics X-Prize … wird die Tür öffnen, um dieses menschliche Erbe zu entschlüsseln, ein Wettbewerb, der zehn Millionen Dollar an das erste Team vergibt, das 100 menschliche Genome in 30 Tagen sequenzieren kann - und nicht irgendwelche Genome, sondern solche von Menschen, die 100 Jahre oder länger leben."

    Ab September 2013 läuft die 30tägige Frist, an deren Ende das Genom der 100 über 100jährigen sequenziert sein soll. Das Konzept des Wettbewerbs stammt von Craig Venter, jenem Wissenschaftler, der vor mehr als zehn Jahren den Wettlauf um die Entzifferung des ersten menschlichen Genoms gewann. Venter, wegen seiner Geschäftstüchtigkeit viel kritisiert, aber stets für Ideen gut, hat sich auch für die Forschung zum hohen Lebensalter etwas einfallen lassen. Noch nie zuvor wurde das gesamte Genom einer vergleichbar großen Zahl über 100jähriger sequenziert. Mit dem Genomics X Prize soll die aufwändige Genomsequenzierung zudem schneller, verlässlicher und preiswerter werden, man will die Kosten von derzeit 5000 Dollar für das komplette Genom eines Menschen auf 1000 Dollar senken. Das ehrgeizige Projekt hat viele Unterstützer gewonnen. Altersforscher aus aller Welt halfen bei der Rekrutierung der Probanden. Und die wohl wichtigste Institution für biomedizinische Forschung in den USA leistet logistische Hilfe.

    "Das X-Prize-Komitee suchte einen Platz, um die Daten zu lagern, so dass sie später mit der allgemeinen Wissenschaftlergemeinde geteilt werden können, und sie entschieden sich für die Gen-Datenbank der National Institutes of Health. Wir waren sehr glücklich, dass das X-Prize-Komitee uns auswählte, um die Daten aufzubewahren und Anfragen von Forschern zu bearbeiten, die diese Daten nutzen wollen und auch die Technologie, die durch den Wettbewerb entwickelt und befördert wird."

    Winnie Rossi ist stellvertretende Direktorin einer Abteilung am Nationalen Institut für Altersforschung und Expertin für Langlebigkeit. Sie erhofft sich vom Genomics-X-Prize einen technologischen Schub.

    "Was wir durch den Wettbewerb bekommen werden ist wirklich bessere, genauere, verlässlichere, und kosteneffektivere Sequenzierung und genetische Information als wir jemals hatten. Wer zu gesundem Altern und Langlebigkeit forscht, wird große Mengen genetischer Information bekommen, die es vorher nicht gab: wie Gene miteinander interagieren, wo sich Gene befinden, die wir vielleicht noch nicht entdeckt haben, und wie sie zusammen arbeiten und mit anderen Teilen des Genoms zu dem außergewöhnlichen Überleben beitragen mögen, das die 100jährigen erreicht haben."

    Was neue Erkenntnisse für die Altersforschung angeht, bleibt Rossi allerdings Realistin. Sie weiß, der Weg zu genaueren Einsichten in das gesunde Altern ist noch weit.

    "Sequenzierung ist nur ein erster Schritt. Was die Basenpaare, also gewissermaßen die Buchstaben, bedeuten, wie wir sie lesen und interpretieren können, ist damit längst nicht geklärt. Was sagen sie uns darüber, wo Gene liegen, wie Gene miteinander interagieren und wie Gene mit anderen Teilen des Genoms interagieren, die außerhalb der chromosomalen Gene sind, zum Beispiel in regulatorischen Regionen, die verantwortlich dafür sind, Gene an- und abzuschalten? Das ist also ein erster Schritt, ein sehr positiver Schritt, aber es muss viel Arbeit geleistet werden, um zu interpretieren, was die Abfolge der Basenpaare bedeutet."

    Das Video auf der Webseite des Genomics X Prize formuliert die Erwartungen an den Wettbewerb weniger vorsichtig.

    "Der Archon Genomics X Prize wird der Zündfunke zu einem technologischen Durchbruch sein, der erstmals ein nahezu komplettes genetisches Protokoll von gesunden Hundertjährigen generieren wird. Dies wird uns endlich erlauben, die Zellgeheimnisse von außergewöhnlich langem und gesundem Leben zu enthüllen, und es wird medizinische Durchbrüche schaffen, die ein langes und aktives Leben möglich machen, nicht nur für einen unter 4000, sondern irgendwann für uns alle."

    Ein ehrgeiziges Programm: Das Genom der Hundertjährigen exakt und vollständig analysieren; die Gründe für ein langes und gesundes Leben daraus ablesen und Therapien entwickeln für diejenigen, denen es nicht von Natur aus gegeben ist, 100 Jahre alt zu werden. Was sagt ein unabhängiger Genforscher dazu?

    "Dagegen, einen Preis auszuloben, um die Qualität, die Schnelligkeit der Sequenzierung zu verbessern und damit auch noch die Kosten zu verringern, dagegen kann man ja nichts haben, dieses Ziel kann man nur unterstützen. Die Frage, ob man bei diesem Projekt wesentliche Erkenntnisse gewinnen wird im Hinblick darauf, warum manche Leute älter werden und andere nicht - darüber kann man geteilter Meinung sein."

    Hilger Ropers ist Facharzt für Humangenetik und seit 1984 Direktor des Max-Planck- Instituts für molekulare Genetik in Berlin. 13 Jahren ist es her, dass das erste menschliche Genom entschlüsselt wurde. Ropers weiß er um die Tücken der Interpretation.

    "Sie müssen sich vorstellen, dass jeder von uns, Sie und ich, uns in vielleicht vier Millionen DNS-Bausteinen unterscheiden, also jeder Tausendste DNS-Baustein ist bei Ihnen anders als bei mir. Sie sind aber gesund oder halten sich dafür, und ich halte mich auch für gesund, also in erster Linie würde man denken, dass diese vier Millionen Unterschiede an Stellen erfolgt sind, wo es einfach nicht wichtig ist, nicht wahr? Das Problem ist also bei der Analyse jetzt, bei der Suche nach Veränderungen, die vielleicht auch zu langem Leben führen oder dafür disponieren, dass wir dieses enorme Hintergrundrauschen haben, mit diesen vielen vielen Veränderungen hier. Und die Kunst wird sein, eben rauszufiltern, welche der wenigen Veränderungen tatsächlich klinisch und bezüglich dieses Merkmals Älterwerden relevant sind."

    Es gibt verschiedene Methoden, um wirklich relevante Veränderungen herausfinden. Eine ist die Familienforschung. Wenn Hundertjährige Brüder, Schwestern und Kinder haben, so leben die ebenfalls eher länger. Das könnte auch an den Genen liegen. Ropers:

    "Man ist immer gut beraten im Bereich der Genetik, wenn man sich auf Familienuntersuchungen abstützen kann, wenn man also vergleichen kann, wie sieht das Genom von diesem einen Familienmitglied aus im Vergleich zu anderen, die das Merkmal nicht tragen. Wenn der Hundertjährige mehrere Geschwister hat, die früher verstorben sind, wäre es interessant zu wissen, worin besteht der Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen. Wenn es darum geht, Langlebigkeit zu untersuchen, stehen die Vergleichspopulationen einem nicht zur Verfügung. Wenn man weiß, der Bruder ist früh verstorben, ist er halt früh verstorben, man wird die DNA nicht haben, genauso wenig wird man bei Hundertjährigen sich auf die Eltern abstützen können, die gibt es schon lange nicht mehr."

    Eine andere Methode sind epidemiologische Untersuchungen an Kranken und Gesunden, bei denen man im statistischen Vergleich nach Unterschieden in Basenpaaren sucht – besonders häufige Unterschiede könnten mit der Krankheit in Verbindung stehen. Solche Gen-Analysen hatte der Bostoner Forscher Tom Perls für die New England Centenarian Studie bei 800 Hochbetagten und einer Kontrollgruppe durchgeführt. Eine schwierige Aufgabe, wie sich herausstellte. Die erste Veröffentlichung im Jahr 2010 musste Perl zurückziehen. Die zweite, korrigierte Fassung 2012 ergab lediglich eine einzige Genveränderung, die klar mit dem hohen Lebensalter assoziiert war: Das sogenannte APOE-Gen sagt etwas über das Risiko, an Alzheimer zu erkranken. Bei weiteren Genveränderungen war der Zusammenhang deutlich schwächer, im Bereich der statistischen Schwankung. Aber selbst wenn ein Mensch eine risikoreiche Variante des APOE-Gens besitzt, können zig andere Genvarianten dem APOE entgegenwirken. Die genetischen Ursachen von alterstypischen Krankheiten sind weit komplexer, als man lange Zeit annahm. Ropers:

    "Es hat sich eben in den letzten Jahren herausgestellt, dass alle diese Krankheiten nicht so einfach sich vererben. Es gibt also, anders als man gedacht hat oder jedenfalls behauptet hat, bevor man mit dieser Forschung begonnen hat, es gibt also keine Hauptgene für Alzheimer, und es gibt kein Hauptgen für Herzkreislaufkrankheiten, und es gibt schon lange kein Hauptgen für Krebs. Sondern alle diese Krankheiten zerfallen eigentlich, wenn man genau hinguckt und es genauer untersucht, in viele einzelne diskrete Krankheiten, die alle, wenn sie überhaupt genetisch verursacht sind, diskrete genetische Ursachen haben."

    Schon so ein scheinbar simples Merkmal wie die Körpergröße wird mit mehr als 180 verschiedenen Genen in Verbindung gebracht. Eine so spezielle Krankheit wie Schizophrenie ist mit einer Vielzahl von Genveränderungen verbunden. Für chronisch-entzündliche Darmerkrankungen hat man 71 Risikogene identifiziert. Und Langlebigkeit? Ist ein äußerst komplexes Phänomen, bei dem viele Faktoren eine Rolle spielen. Nur im Tierversuch, beim Fadenwurm, ist es bislang gelungen, durch eine einzige Genveränderung die Lebenszeit zu verdoppeln. Ropers:

    "Dass man ein Medikament für Langlebigkeit entwickelt, daran glaub ich zunächst erst mal nicht. Ich bezweifele sogar sehr, ich bin jedenfalls sehr skeptisch, ob überhaupt hinterher ein Gen fassbar gemacht wird, was für sich eine Rolle spielt. Ich glaube eher, es wird so ausgehen, dass man feststellt, eine ganze Reihe von negativen Faktoren fehlen einfach bei den ganz alten Leuten. Ja, und dann? Man hat aber nun mal seine genetische Konstitution, tja, die Faktoren sind eben so, und die werden wir auch mit uns ins Grab nehmen. Und wir werden es vermutlich am meisten nach hinten schieben können, diesen Moment, wo wir den Löffel abgeben, wenn wir uns eben so benehmen, wie wir es für vernünftig halten, und eben ein bisschen frugales erfülltes Leben, wenn’s geht."

    Peter Fecht, der 104jährige Ingenieur, hat dieses Rezept offenbar beherzigt.

    "Ich war schon als Kind immer etwas skeptisch, ohne es zu wissen, ich habe also alles genau angeguckt, und dann nur das gemacht, was vernünftig war. Ich habe nie geraucht, ich war noch nie betrunken, ich trinke Wein, ich trinke Alkohol, nicht wahr. jeden Tag trink ich Wein, roten, weil der angeblich für Alte besser ist als weißer."

    Daniela Jopp und ihre Heidelberger Kollegen haben Fecht und drei weitere gesunde über Hundertjährige aus Deutschland als Probanden für den Genomics X Prize geworben. Jopp unterstützt den Wettbewerb, weil sie ihn als ersten Schritt betrachtet, etwas über die genetischen Ursachen des gesunden Alterns herauszufinden, auch wenn der Weg dahin noch weit ist. Die Ziele ihrer eigenen Heidelberger Hundertjährigen-Studie sind bescheidener. Die Untersuchung nimmt psychologische Faktoren in den Blick, die sich in den Genen wohl kaum finden lassen. Und sie will die Lebenssituation von 100jährigen realistisch darstellen. Tanzende und singende Stars wie Johannes Heesters oder marathonlaufende Konditionswunder wie der aus Indien stammende Brite Fauja Singh sind sicherlich Ausnahmen. Aber auch dement vor sich hindämmernde Hochbetagte im Pflegeheim sind nur ein Teil der Realität.

    "Wir haben Daten, die sehr schön zeigen, dass die Hundertjährigen sehr zukunftsorientiert sind, was erstaunlich ist, wenn man davon ausgeht, dass sie eigentlich per Definition kurz vor dem Lebensende stehen."

    Gerta Scharffenorth: "Ich bin dabei niederzuschreiben noch für meine Kinder zur Biographie ihres Vater, den sie ja kaum kennengelernt haben. Das ist also eins, was ich erwähnen kann, was mir wichtig ist, aber das wird nicht eine Sache von 50 Seiten, eine Sache von 20 Seiten, nicht?"

    Daniela Jopp: "Es könnte sein, dass die 100jährigen wirklich speziell sind, also dass die ein spezielles psychologisches Make-up haben, und deshalb so alt geworden sind, oder es kann sein, dass sie ab einem bestimmten Zeitpunkt Dinge hinter sich lassen können, also, gerade wenn man die 100jährigen nach ihrer Einstellung zu Sterben und Tod fragt, hab ich schon den Eindruck, sie haben das Gefühl, sie haben alles erlebt und der Tod könnte kommen. Sie sind sehr akzeptierend, das ist was, was sich erst einstellt, wenn man ein hohes Alter erreicht hat, was aber nicht heißt, dass sie sterben wollen. 97 Prozent finden das Lebensende nicht als bedrohlich, 90 Prozent sagen ganz klar, sie sehnen sich den Tod nicht herbei."

    So ist es auch bei Gerta Scharffenorth, der als Theologin der Gedanke an den Tod nicht fremd ist.

    "Ich weiß, dass es meine Realität ist, aber ich fürchte mich nicht vor dem Tod. Das ist die große Unbekannte, mit der man lebt, nicht, und da bin ich dankbar, dass es auch mir möglich gewesen ist, doch soviel, ich will es einmal so sagen, Gottvertrauen zu entwickeln, dass ich sage, ich weiß es nicht, was kommt nach dem Tod, ich bin aber überzeugt, dass der Tod nicht das totale Ende ist."

    Für den heutigen Tag hat sie aber noch einiges vor. Am Tag drauf kommt ihre Familie, um ihren 101. Geburtstag mit ihr nachzufeiern.

    "Ich habe eben heute Nachmittag einen Termin, der mir wichtig ist, einen Friseurtermin, weil ich morgen, wenn ich meine Gäste habe, will ich also anständig aussehen … Kein denkwürdiger letzter Satz, aber richtig."