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Manuskript: Wider die Zerlegung der Welt

Viele Physiker gehen davon aus, dass sich die Mannigfaltigkeit der Natur im Prinzip auf einige wenige Bausteine und Gesetzmäßigkeiten reduzieren lässt. Im Laufe der Jahrhunderte hat dieser Ansatz – Reduktionismus genannt – beachtliche Erfolge gefeiert: Physikern gelang es, Atome und später Elementarteilchen als Bausteine  der Materie zu identifizieren. Dennoch gibt es Forscher, die nicht an die Existenz einer alles erklärenden Weltformel glauben.

Von Frank Grotelüschen | 03.10.2012
    "Ich möchte mich bei jedem hier bedanken, der an diesem großartigen Projekt beteiligt ist. Es ist unglaublich, dass ich das noch miterleben darf!"

    Genf, 4. Juli 2012. Im Hörsaal des Cern, des Europäischen Teilchenforschungszentrums. Sichtlich gerührt nimmt Peter Higgs die Ovationen seiner Kollegen entgegen. Es ist der späte Höhepunkt seiner Karriere – Higgs ist 83 alt. Fast fünf Jahrzehnte zuvor hatte der theoretische Physiker ein neues Elementarteilchen postuliert – das Higgs-Teilchen. Ein Teilchen, das erklärt, warum Materie überhaupt Masse besitzt. Jetzt scheint sicher: Es gibt das Higgs. Denn gerade hat Rolf Heuer, Direktor des Cern, die neusten Messdaten des LHC vorgestellt, des größten Beschleunigers der Welt.

    "Wir haben eine Entdeckung! Wir haben ein neues Teilchen gefunden. So wie es aussieht, ist es das Higgs-Teilchen!"

    Das Higgs war das letzte Element, das im theoretischen Fundament der Teilchenforschung noch fehlte – im Standardmodell. Mit der Entdeckung ist das Standardmodell endlich komplett. Für die Teilchenforscher eine Jahrhundert-Entdeckung. Für andere Physiker jedoch nur eine Entdeckung unter vielen. Robert B. Laughlin, Stanford University, USA. Physiknobelpreis 1998:

    "Ich habe zwar gewettet, dass das Higgs existiert. Aber es wäre viel interessanter gewesen, wenn es das Higgs nicht gegeben hätte!"

    "Das Standardmodell ist ein unglaublicher Erfolg eines 2000 Jahre langen Bestrebens, die Welt auf ihre Urbausteine zurückzuführen."

    David Gross, University of California, USA. Physiknobelpreis 2004.

    "Im Prinzip wird die Welt von einfachen Naturgesetzen bestimmt. So kurz und einfach, dass man sie auf ein T-Shirt drucken könnte."

    Materie in immer kleinere Bestandteile zerlegen, bis man bei den Urbausteinen angekommen ist. Sämtliche Regeln auf ein letztes, ein definitives Naturgesetz zurückführen – eine Weltformel, die das gesamte Universum beschreibt. Ein reduktionistisches Konzept. Für David Gross zieht es sich durch die Wissenschaft wie ein roter Faden. Sein Glaubenssatz: Die Welt gehorcht einem fundamentalen Gesetz. Je weiter man sie zerlegt, umso tiefer versteht man sie.

    "Es gibt vieles, was sich eben nicht aus diesen Grundgesetzen herleiten lässt,"

    Robert B. Laughlin,

    "Die Physik lehrt einen, dass es Dinge gibt, die sich grundsätzlich nicht berechnen lassen."

    Die Welt wird nicht nur durch ein paar fundamentale Gleichungen beschrieben. Denn immer wenn sich Elementarteilchen zu Atomen zusammentun, Atome zu Kristallen oder Einzeller zu Organismen, treten neue Naturgesetze auf den Plan. Gesetze, die unvermittelt auftauchen, wie aus dem Nichts, und die sich nicht aus tieferen Prinzipien ergeben. Emergent, so nennt Laughlin diese Gesetze. Sein Glaubenssatz: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Die Welt lässt sich nicht verstehen, indem man nur ihre kleinsten Bausteine betrachtet. Vor einiger Zeit hatte sich Laughlin mit einem Buch zu Wort gemeldet. Der provokante Titel: "Abschied von der Weltformel". Eine Abrechnung mit dem Reduktionismus.

    David Gross:

    "… governed by a very simple theory.""

    ...gegen Laughlin.

    Laughlin: ""There are many things…"

    Nobelpreisträger...

    Gross: "…write down on one t-shirt."

    ...gegen Nobelpreisträger.

    Laughlin: "… you can’t calculate."

    Reduktionismus gegen Emergenz. Ein Gefecht zweier Wissenschaftskulturen. Ein Gesinnungsstreit zwischen Festkörperphysikern und Teilchenforschern.

    1964, das Caltech, das California Institute of Technology bei Los Angeles. In seinem Büro tüftelt der Theoretiker Murray Gell-Mann über einem Problem, das die Physiker seit Jahren quält: Mit Beschleunigern haben sie Hunderte von Teilchen gefunden, die scheinbar elementar sind, also unteilbar. Verzweifelt sprechen die Experten von einem Teilchenzoo. Doch dann kommt Gell-Mann ein Geistesblitz: Die Teilchen des Teilchenzoos sind gar nicht unteilbar. Nein, sie sind aus einigen wenigen Sorten von kleineren Grundbausteinen zusammengesetzt – den Quarks. Gell-Manns Quark-Hypothese darf als Geburtsstunde des Standardmodells gelten. Ein Triumph des Reduktionismus: Mit einem Schlag hat Gell-Mann einen Zoo aus Hunderten von Teilchen reduziert auf eine Handvoll Materiebausteine. David Gross:

    "In der Physik war es stets so, dass man immer kleinere und einfachere Strukturen entdeckte und damit immer mehr Phänomene erklären konnte – und zwar letztlich mit jenen Regeln, denen die Elementarbausteine der Materie gehorchen."

    David Gross ist Teilchenphysiker. Sein Ziel ist es, die Urbausteine der Materie zu finden und die Kräfte, die sie zusammenhalten. Aus diesen Grundelementen setzt sich dann die gesamte Welt zusammen – alles um uns herum und auch wir selbst.

    "Diese fundamentalen Gesetze können nicht nur die verschiedensten Phänomene präzise beschreiben. Sondern sie können auch konkrete Vorhersagen machen über Phänomene, die wir bislang noch gar nicht beobachtet haben."

    Neutrinos, Gluonen, das Top-Quark – und jetzt das Higgs. Alles Elementarteilchen, die die Physiker erfolgreich vorausgesagt haben. Für David Gross ein Beleg dafür, wie leistungsfähig eine reduktionistische Theorie wie das Standardmodell ist. Wie grundlegend und fundamental. Denn die Elementarteilchen, die das Standardmodell beschreibt, formen die Atome. Und aus Atomen besteht alle Materie um uns herum.

    "Die Atomphysik ist die Grundlage der gesamten Chemie und der Materialforschung. Den Leuten ist gar nicht klar, wie stark sich die Beschreibung unserer Umwelt auf ein paar Grundregeln reduzieren lässt. Denn die wesentlichen Eigenschaften der Atomphysik werden von einer im Prinzip sehr einfachen Theorie bestimmt, der Quantenmechanik. Und deren Grundgleichung – die Schrödinger-Gleichung – ist so kurz, dass man sie auf ein T-Shirt drucken kann."

    Und wenn die Chemie auf die Atomphysik zurückzuführen ist, meint Gross, dann auch die Biochemie: Also das Leben und damit auch unser Gehirn und alles, was darin passiert.

    "Die meisten Wissenschaftler sind sich sicher: Alles Leben, inklusive Gehirn und Bewusstsein, lässt sich auf biochemische Prozesse reduzieren. Die Biochemie wiederum lässt sich auf die Chemie zurückführen, die Chemie auf die Atomphysik und die Atomphysik auf eine einzige Gleichung, die Schrödinger-Gleichung. Und bislang hat niemand auch nur einen überzeugenden Hinweis gefunden, der dem widersprechen würde."

    Das Hochfeld-Magnetlabor in Grenoble, die Nacht zum 5. Februar 1980. Der Physiker Klaus von Klitzing will wissen, wie Strom durch einen Transistor fließt, wie sich der Widerstand verändert. Dazu hat er einige Transistoren auf minus 270 Grad Celsius abgekühlt und ein starkes Magnetfeld angelegt. Dadurch baut sich im Transistor eine elektrische Spannung auf, Hall-Spannung genannt. Doch plötzlich spielt die Messkurve verrückt: Statt gleichmäßig zu verlaufen, macht sie Sprünge, ähnlich wie bei einer Treppe. Auch bei anderen Transistoren findet sich dieses Treppenmuster – eine Überraschung, zunächst völlig unerklärlich. Dann, bei einem Glas Rotwein, kommt von Klitzing auf die Lösung: Es ist ein neues Gesetz, das quasi aus dem nichts auftaucht, das den Stromfluss durch den Transistor bestimmt.

    Quanten-Hall-Effekt, so heißt das Phänomen, das von Klitzing zufällig entdeckt hat. 1985 erhält er dafür den Physiknobelpreis. Heute liefert der Quanten-Hall-Effekt den internationalen Standard für eine wichtige elektrische Größe, den Widerstand. Laughlin:

    "Nimmt man eine zu kleine Probe, dann verschwindet der Quanten-Hall-Effekt ganz einfach. Doch je größer die Probe wird, umso präziser wird der Effekt. Das war einer der Fälle, bei denen sich niemand vorstellen konnte, dass so was überhaupt möglich ist. Und deshalb hat auch niemand diesen Effekt vorausgesagt."

    Robert Laughlin ist Festkörperphysiker. Für ihn ist der Quanten-Hall-Effekt ein Paradebeispiel für Emergenz. Denn: Der Effekt zeigt sich in verschiedensten Materialien – egal ob hochrein oder stark verunreinigt. Demnach muss der Effekt völlig unabhängig sein von den Atomsorten, aus denen ein Material besteht. Entscheidend ist etwas ganz anderes, meint Laughlin: Entscheidend ist, dass – wenn sich viele Atome zu einem Kristall zusammentun – sie ein einziges großes Kollektiv bilden. Und für dieses Kollektiv gelten dann neue Naturgesetze. Emergente Gesetze, wie sie die Selbstorganisation von Materie bestimmen – unabhängig, aus welchen Bausteinen diese Materie besteht.

    "Ein weiteres einfaches Beispiel ist die physikalische Eigenschaft der Härte. Sie wird durch ein allgemeingültiges Gesetz beschrieben, das durch zahllose Messungen bestätigt ist. Würde dieses Gesetz nicht stimmen, würden Sie niemals in ein Flugzeug steigen, um in zehn Kilometern Höhe Ihre Erdnüsse zu knabbern. Sie vertrauen darauf, dass das Metall, aus dem das Flugzeug besteht, hart bleibt. Sie vertrauen diesem Gesetz also Ihr Leben an. Doch wo kommt das Gesetz her? Sie werden sagen: 'Nun, das kommt durch die Atome, aus denen das Metall zusammengesetzt ist.' Von wegen: Untersucht man ein nanometerkleines Stückchen Aluminium, stellt man fest: Das ist gar nicht hart! Es gibt im Nano-Maßstab nämlich gar keinen Unterschied zwischen fest und flüssig! Nein, Härte ist ein emergentes Phänomen!"

    Es ist ähnlich wie beim Quanten-Hall-Effekt. Atome organisieren sich zu einem Kollektiv. Und dieses Kollektiv gehorcht ganz anderen Gesetzen als es seine Bestandteile tun, die Atome.

    "Es ist wie ein Gemälde von Monet: Steht man dicht davor, sieht man nichts als kleine Punkte. Was das Bild darstellen soll, erkennt man nicht. Erst wenn man weiter weg geht, sieht man nach und nach, was der Maler eigentlich dargestellt hat. Und am Ende sieht man ein perfektes und wunderschönes Bild."

    "We already know the laws that govern matter","

    Stephen Hawking, der populärste Physiker unserer Zeit,

    ""wir kennen bereits die Gesetze, denen Materie unter den verschiedensten Bedingungen gehorcht. Aber wir wissen nicht, warum diese Gesetze gelten und wie sie zusammenpassen."

    Stephen Hawking, ein erklärter Reduktionist. Ebenso wie Einstein, Heisenberg und andere Physikerlegenden.

    "Wir verstehen nicht, wie das Universum begann und warum es uns überhaupt gibt. Diese Fragen, haben die Menschheit schon immer bewegt. Eine Weltformel, eine allumfassende, einheitliche Theorie der Physik, wird all diese jahrhundertealten Fragen beantworten."

    Die Weltformel. Der Traum aller Reduktionisten. Eine Theorie, die in einer einzigen, knappen Formel alles beschreibt – Materie, Kräfte und alle offenen Fragen, die die Physiker derzeit beschäftigen: Was steckt hinter der ominösen dunklen Materie, was hinter der dunklen Energie? Warum gibt es im Weltall viel mehr Materie als Antimaterie? Und was genau passierte beim Urknall? Doch sollte es emergente Gesetze geben, so wie es Robert Laughlin glaubt – wäre die Suche nach einer Weltformel, die all diese Fragen beantwortet, dann nicht sinnlos? Laughlin:

    "Ich denke schon. Natürlich würde auch ich gerne wissen, was das Universum zum Laufen bringt. Aber das lässt sich deshalb nicht herausfinden, weil sich die Natur an einigen Stellen vor uns versteckt. Und wenn man trotzdem meint, ein Grundgesetz gefunden zu haben, ist man in Wirklichkeit vielleicht auf ein emergentes Phänomen gestoßen, das nur so aussieht wie ein Grundgesetz."

    Behält Laughlin Recht, wäre das definitive Ziel des Reduktionismus – die Weltformel – nichts als reine Illusion. Da ist es nur konsequent, dass Laughlin lebhaft gegen den meistgehandelten Weltformel-Kandidaten poltert – die Stringtheorie. Sie geht deutlich weiter als das Standardmodell, die derzeitige, experimentell bestätigte Theorie der Teilchenforschung. Das Standardmodell basiert auf einem guten Dutzend Elementarbausteinen, den Quarks und den Elektronen. Die Stringtheorie kennt nur noch einen Materiebaustein.

    "Wir haben es mit einem einzigen Elementarobjekt zu tun, nämlich dem String."

    Dieter Lüst, Max-Planck-Institut für Physik, München.

    "Eine Saite, eine Schlaufe, die schwingt. Und alle Elementarteilchen sind dann nur verschiedene Schwingungsmoden dieses einzigen Objekts. Wie eine Geigensaite harmonische Schwingungen ausführt, identifiziert man die Schwingungsmoden mit Teilchen."

    Demnach ließe sich alles auf der Welt reduzieren auf eine einzige Sorte von Urbausteinen – vibrierende Strings, unvorstellbar klein. Mehr Reduktion geht nicht – Stringtheoretiker sind die Fundamentalisten unter den Reduktionisten. Für Robert Laughlin aber sind die Strings nichts als reine Theorie. Eine mathematische Schönspielerei ohne experimentelle Bestätigung, ein Muster ohne Wert. Deshalb auch der Titel seines Buchs: "Abschied von der Weltformel".

    "Man kann leicht darin verfallen, seinen eigenen schönen Theorien blind zu glauben. Sie sind einem heilig, und weil das so ist, müssen sie wahr sein. Und warum sind sie heilig? Weil ich an sie glaube und weil die Theorie so schön logisch ist! Aber in Wirklichkeit beschreibt diese Theorie der Strings rein gar nichts!"

    Was Stringtheoretiker wie Dieter Lüst nicht davon abhält, an ihrer Vision festzuhalten. Denn Lüst ist sich sicher: Phänomene wie Magnetismus oder Supraleitung mögen heute noch emergent erscheinen. Irgendwann aber wird man schon verstehen, was dahintersteckt und wie sich diese Phänomene durch die fundamentalen Gesetze der Physik beschreiben lassen. Dann, glaubt Lüst, löst sich Emergenz schlicht in Wohlgefallen auf.

    "Deswegen wäre ich vorsichtig mit solchen Aussagen, dass es ganz grundsätzlich diese emergenten Prinzipien gibt. Dass man Sachen, die wir jetzt nicht verstehen, sofort auf neue emergente Sachen schiebt, halte ich nicht für sinnvoll."

    Das was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet, ist offenbar mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile. Eine Silbe ist nicht die Summe ihrer Laute: ba ist nicht dasselbe wie b plus a. Und Fleisch ist nicht dasselbe wie Feuer plus Erde.

    Aristoteles, 4. Jahrhundert v. Chr.

    Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben,
    sucht erst den Geist herauszutreiben.
    Dann hat er die Teile in seiner Hand,
    fehlt, leider! nur das geistige Band.


    Johann Wolfgang von Goethe, 1808.

    Dichtern und Denkern – und wohl den meisten von uns – ist der Reduktionismus eher suspekt: Man wittert Gefahr, dass sich irgendwann alles in der Natur berechnen lässt, bis hin zur kleinsten Gemütsregung. Wo aber bliebe in diesem mechanistischen Weltbild Platz für den freien Willen? Für die Seele? Für Mystisches und Spirituelles? Die Emergenz lässt da deutlich mehr Spielraum: Den Satz "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" wird fast jeder unterschreiben – vor allem auch in anderen Disziplinen als der Physik, etwa der Biologie.

    "In der Evolution der Organismen kam es immer wieder zum Hervortreten, also der Emergenz neuer Eigenschaften."

    Ulrich Kutschera, Professor für Pflanzenphysiologie und Evolutionsbiologie, Universität Kassel. In der Biologie hat die Emergenz ihren festen Platz, sagt er. Etwa bei der Endosymbiose. Einer Theorie, wie vor 800 Millionen Jahren aus Einzellern die ersten Mehrzeller wurden.

    ""Wir wissen, dass unsere Körperzellen Konstrukte sind aus Bausteinen archaischer Mikroben, einzelliger bakterienähnlicher Urformen."

    Schon vor 800 Millionen Jahren galt: fressen und gefressen werden – die Einzeller verspeisten sich gegenseitig. Irgendwann aber wurden manche der gefressenen Einzeller nicht verdaut, sondern überlebten im Innern ihrer Feinde. Sie wurden versklavt und dienten ihren Herren fortan als Kraftwerke, Fachbegriff Mitochondrien.

    "Irgendwann kommt ein Punkt, wo ein emergentes Phänomen zu konstatieren ist – nämlich die Aufnahme und Integration urtümlicher Bakterien. Und daraus wurden dann die Mitochondrien."

    Zwei Zellen, die sich symbiotisch zusammenfanden zu etwas Größerem. Einem Ganzen, das mehr war als die Summe seiner Teile – und zwar die Grundlage für mehrzellige, komplexe Organismen. Manche aber meinen, diese Emergenz sei der Beweis für die Existenz eines intelligenten Schöpfers. Denn wenn plötzlich etwas Unerwartetes und scheinbar Wundersames auftaucht wie die Symbiose zweier Zellen – dann muss doch jemand dahinterstecken. Kutschera:

    "Jetzt kann man argumentieren, dass das kein Zufall sein kann, sondern dass da Planung im Spiel war. Es gibt aber in der Natur ganz, ganz viele Fehlplanungen!"

    Ein Beispiel: Wenn die Mitochondrien, jene versklavten Unterzellen, Energie produzieren, bilden sie dabei zwangsläufig Sauerstoffradikale. Die aber greifen die Mitochondrien an. Die Mini-Kraftwerke der Zelle – sie zerstören sich letztlich selber.

    "Und das ist eine gigantische Fehlplanung. Da hat der intelligente Designer irgendwas völlig falsch gemacht. So gibt es viele Beispiele, die man erst in den letzten Jahren erkannt hat, die zeigen, dass man nicht von einer intelligenten Planung sprechen kann!"

    Ja, in der Biologie gibt es Emergenz, sagt Kutschera. Aber für ihn taugt sie nicht als Beleg für einen intelligenten Schöpfer. Auch bei den Physikern geht es letztlich um einen Glaubenskrieg. Wer ihn gewinnen könnte, ist kaum zu sagen. Denn hakt man genau nach, berufen sich beide Parteien im Grunde auf ein- und dasselbe Argument. Das Argument, dass es in der Praxis viel zu schwierig ist, alles in der Welt präzise zu berechnen – wenn man denn nur ihre kleinsten Bausteine kennt. David Gross:

    "Hätte man einen fantastischen Computer, könnten wir das Wetter für den 27. Juli 2013 exakt vorhersagen. Es ist aber höchst unwahrscheinlich, dass wir diese Berechnungen je machen können."

    Der Grund dafür: Materialien bestehen aus unvorstellbar vielen Atomen. Ein Stück Würfelzucker setzt sich aus ca. 10 hoch 23 Atomen zusammen – eine Zahl mit 24 Stellen. Das menschliche Gehirn besteht aus ca. 10 hoch 27 Atomen. Rein theoretisch wäre es zwar möglich, Zustand und Bewegung jedes einzelnen Atoms zu berechnen – und damit die detaillierte Form des Zuckerstückchens oder die genaue Gestalt des Gehirns. Praktisch aber ist das unmöglich. Gross:

    "Es wäre völlig sinnlos, die Schrödinger-Gleichung für Myriaden von Atomen lösen zu wollen, um die Eigenschaften des Gehirns auszurechnen. Das wäre absurd, und niemand würde das versuchen. Und darum geht es beim Reduktionismus ja auch gar nicht. Es geht darum, dass nichts von dem, wie sich das Gehirn verhält, dem Fakt widerspricht, dass es sich im Prinzip auf die Schrödinger-Gleichung reduzieren ließe."

    Emergenz-Verfechter Robert Laughlin greift auf dasselbe Argument zurück. Mag sein, sagt er, dass sich die Härte eines Metalls im Prinzip aus dem Verhalten der einzelnen Metallatome ausrechnen ließe. Aber:

    "In der Praxis wäre das viel zu schwierig. Angenommen, Sie rechnen etwas in ihrem Haushaltsbuch aus. Und nun stellen Sie sich vor, diese Rechnung sei nicht nur eine Milliarde mal schwieriger, sondern um Milliarden mal Milliarden mal Milliarden mal Milliarden mal Milliarden mal Milliarden. Das ist unlösbar, selbst mit dem besten Supercomputer. Man würde mit dem Rechnen einfach nicht fertig. Das ist das Problem: Die Rechnungen sind so gewaltig, dass man sie einfach nicht schafft – und niemals schaffen wird!"

    Die Reduktionisten sagen: Im Prinzip ließe sich jedes Phänomen aus den Grundregeln der Physik ausrechnen – auch wenn in der Praxis diese Berechnungen meist zu schwierig sind. Laughlin dreht das Argument um: Genau weil die Berechnungen zu schwierig sind, lässt sich eben nicht jedes Phänomen aus den Grundregeln der Physik ausrechnen. Stattdessen werden diese Phänomene durch mathematische Näherungen und empirisch gewonnene Gleichungen beschrieben. Und diese Näherungen und Gleichungen sind für Laughlin ebenso fundamental wie die Grundgesetze von Quantenmechanik und Teilchenphysik.

    Entscheiden lassen wird sich die Debatte wohl nie. Weder wird man eindeutig beweisen können, dass ein bestimmtes Gesetz tatsächlich emergent ist. Wer sagt denn, dass es ein schlauer Kopf nicht doch irgendwann auf fundamentale Formeln zurückführen kann? Noch dürfte jemals der Reduktionismus vollständig beweisbar sein. Dazu müsste man ja wirklich jedes noch so komplexe Phänomen mit den Regeln der Teilchenphysik ausrechnen können. Und wenn sich etwas nicht durch Fakten entscheiden lässt, wird es zur Glaubensfrage.

    "Vielleicht spielt auch die Soziologie eine Rolle","

    Hermann Nicolai, Stringtheoretiker, Albert-Einstein-Institut, Potsdam,

    ""in den letzten 20 Jahren wurde ja viel Lärm um die Stringtheorie gemacht und zum Teil auch überzogene Behauptungen aufgestellt, dass wir jetzt schon die Theorie von allem haben. Ich kann mir vorstellen, dass diese Leute sich einfach ärgern."

    In der Tat: Vor Jahren hatte sich Robert Laughlin über das Titelbild einer Zeitschrift geärgert. Darauf abgebildet: Stephen Hawking umringt von String-Physikern, Bildunterschrift: Die klügsten Leute der Welt. Laughlin dagegen ist – ebenso wie andere Emergenz-Befürworter – Festkörperphysiker. Offenbar steckt hinter der ganzen Debatte etwas anderes: Wer ist wichtiger für die Gesellschaft: Die Teilchenphysiker, die nach den Urbausteinen der Welt suchen? Oder die Festkörperforscher, die die Grundlagen für Computer, Handy und moderne Werkstoffe legen? Ein Kampf der Wissenschaftskulturen also. Und es geht nicht nur ums Renommee und um akademische Spitzfindigkeiten. Es geht auch um Forschungsgelder. Nicolai:

    "In den USA wird jetzt sicher ein großer Kampf entbrennen: Wie geht es weiter mit der Physik nach dem LHC? Es kann durchaus sein, dass in den Vereinigten Staaten viele Leute sagen: Die Hochenergiephysik ist am Ende mit dem LHC. Gebt das Geld jetzt lieber in die angewandte Festkörperforschung, oder in die medizinische Forschung oder in die Biologie. Das kann ich mir gut vorstellen. Natürlich geht's um Gelder für die Forschung."

    Jetzt, da am Cern in Genf das Higgs-Teilchen entdeckt wurde, hat die Teilchenphysik ihren vorläufigen Endpunkt erreicht: Mit dem Higgs ist das Standardmodell komplett, das Theoriegebäude hat seinen Schlussstein erhalten. Nun werden die Diskussionen beginnen: Lohnt es sich wirklich, dieses Weltbild weiter vertiefen zu wollen – zum Preis von immer größeren und kostspieligeren Beschleunigern? Oder sollte man unbedingt weitermachen, um die Chance zu wahren, eines Tages die wirklichen Urbausteine der Welt zu finden? Die Debatte zwischen Reduktionisten und Emergenz-Verfechtern – sie dürfte bald einen neuen Höhepunkt erreichen.

    David Gross: "Governed by a very simple theory."

    David Gross gegen...

    "There are many things…"

    Robert Laughlin. Nobelpreisträger...

    Gross: "…write down on one t-shirt."

    ... gegen Nobelpreisträger.

    Laughlin: "… you can’t calculate."