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Margit Schreiner: "Das menschliche Gleichgewicht"
Die Balance von Tod und Leben

Seit 1983 legt Margit Schreiner beharrlich ihre Bücher vor: Romane und Erzählungen, in denen sie in trockener Sprache und doch mit subversivem Witz die tückischen Abgründe dessen beleuchtet, was man leichthin Leben nennt. 2015 erhielt sie den Johann-Beer-Preis für ihren Roman "Das menschliche Gleichgewicht".

Von Claudia Kramatschek | 06.04.2016
    Die Schriftstellerin Margit Schreiner auf der Frankfiurter Buchmesse 1997
    Die Schriftstellerin Margit Schreiner auf der Frankfiurter Buchmesse 1997 (dpa / picture alliance / Jörg Schmitt)
    Ein Ehepaar – beide gehören zur Generation der über 60-Jährigen – bricht auf in den wohlverdienten und lang ersehnten Urlaub auf eine einsame kroatische Insel. Sie, von Beruf notabene Schriftstellerin, will dort schreiben; er sucht Ruhe von den lieben Mitmenschen. Doch aus dem Traum der ungestörten Idylle wird nichts werden – schließlich befinden wir uns in einem Roman von Margit Schreiner. Und die liebt es, uns auf das grundsätzliche Unbehagen hinzuweisen, das im Bodensatz unserer eigenen menschlichen Natur lauert:
    "Ruhe und Abgeschiedenheit haben natürlich ihren Preis. Wir müssen sowohl Nahrung als auch Trinkwasser, Alkohol, Zigaretten, Zündhölzer, Abfallsäcke, Abwaschschwämmchen, Klopapier und so weiter zuerst beschaffen und dann auf die Insel mitnehmen. Und das alles für einen Monat Aufenthaltsdauer."
    Margit Schreiner: "Immer schon, seit es den Menschen gibt, greift er in die Natur ein, verändert sie damit – und wenn er sie verändert hat, steht er vor dem Desaster, dass er eine veränderte und keine ruhige, entspannte Natur mehr hat, wo er sich selbst entspannen kann. Er ruiniert ja eigentlich alles, der Mensch. Und ich hoffe, dass die Vernunft einmal so eine Stärke bekommen wird in unserem Zusammenleben, dass wir sehen, dass wir nicht alles zerstören können, weil wir uns dann selber zerstören. Insofern sind wir ja dann wieder Teil der Natur."
    Die Liste der technischen Hilfsmittel für alle möglichen Notfälle liest sich entsprechend lang: Schwimmschlangen, Solarpaneele, Pürierstab, Föhn, Mixer werden in einer schweißtreibenden Logistik an Bord des Schiffes gebracht, mit dem die Reisenden übersetzen auf die einsame Insel. Doch die diesjährige Reise – es ist die achte in Folge – wartet mit einer ganz anderen Unwägbarkeit auf. Kurz vor der Abreise steht eine junge Frau vor der Tür: Sie heißt Sarah, ist 20 Jahre, die Tochter von einstigen Freunden aus Israel – und bringt nicht nur ihren Hund mit, sondern auch schweres seelisches Gepäck.
    "Ihre Eltern, Jakob und Marieluise, sind vor fünf Jahren in Israel ermordet worden. Ihr Halbbruder Daniel tot. So einen Menschen schickt man nicht weg."
    Sarah und ihr Hund Habibi kommen kurzerhand mit auf die Insel – und werden das emotionale Gefüge der Reisenden auf eine harte Probe stellen.
    "Ich beschloss, mich so gut ich konnte abzugrenzen und mich wenigstens am Vormittag meiner Arbeit an dem anstehenden Romanprojekt zu widmen. Im Notfall waren ja zur Beruhigung immer noch die Lexotanil vorhanden."
    Provokanter Gestus des persönlichen Berichts
    Margit Schreiner schildert diese Reise retrospektiv, aus dem Munde ihrer empathischen Ich-Erzählerin, die sich in dem Buch, das wir in Händen halten, Gewissheit verschaffen will über das, was auf dieser Reise mit ihnen allen und vor allem in Sarahs Leben geschah. Der Roman selbst spielt dabei von der ersten Zeile an provokant mit dem Gestus des persönlichen, ja autobiografischen Berichts. Rasch fragt man sich also, inwieweit Margit Schreiner, bis dato nicht bekannt für Geschichten aus und über Israel, hier neues Terrain betreten hat oder mithilfe einer literarischen Doppelbelichtung Fakt und Fiktion gekonnt überlagert.
    Margit Schreiner: "Was Israel betrifft, ist nur soweit meine eigene Erfahrung, als ich dieses Paar, das nach Israel ausgewandert ist mit Kindern, aus meiner früheren Zeit gut kannte, und dann aber nachdem sie ausgewandert waren, den Kontakt mehr oder weniger verloren hatte, und dann erfuhr, dass die beiden in Israel ermordet worden sind. Und diese Geschichte hat mich sehr lange beschäftigt und auch immer wieder die Fragen, wie kann man so etwas literarisch überhaupt darstellen oder verarbeiten?"
    Margit Schreiner löst das Problem, indem sie uns Einblick in Sarahs Tagebuch erlaubt, das diese der Ich-Erzählerin eines Tages auf der Insel unaufgefordert zum Lesen auf den Nachttisch legt.
    Schreiner: "Sarah hat ja das Problem, dass sie sich nicht erinnert an diesen Mord, obwohl sie angeblich dabei war. Sie erinnert sich nicht – und sie will sich auch nicht erinnern. Und das war genau die Möglichkeit für mich, eine Situation zu schildern, die ich auf direkte Weise nicht schildern konnte. Es war auch das Interesse hauptsächlich darin, wie ein junger Mensch mit einem so unglaublichen Schicksal umgehen kann, ob er überhaupt damit leben kann."
    Fortan blendet der Roman zwischen dem blühenden Sommer auf der kroatischen Insel und den düsteren Geschehnissen in Israel kontrapunktisch hin und her. Wir lesen in achronologischer Folge von Sarahs Tagen in der Psychiatrie, erfahren vom Selbstmord ihres geliebten Bruders Noah in der Wüste Negev – und werden hinabgezogen in die Tiefen eines radikalen Denkens, aus dem heraus Sarah sich am Ende bewusst gegen die Erinnerung und damit bewusst für das Leben entscheidet.
    "Alles ist jetzt klar. Ich werde keiner Traumakonfrontation zustimmen. ... Ich weiß jetzt, was damals geschehen ist. Und genau daran will ich mich nicht erinnern."
    Obwohl Sarahs Erlebnisse einer Tragödie von griechischem Ausmaß gleich kommen, leidet der Roman selbst in keinem Moment unter einer dräuenden Schwere. Gekonnt spiegelt die Autorin stattdessen die heftigen Stimmungsschwankungen aller Figuren in den wechselnden Flirrbildern der Natur:
    "Es ist so schön auf unserer Insel. Die Luft klar oder durchsichtig oder fluoreszierend oder diesig, silbrig, reingewaschen, verschwommen, schlierig, mit einem Stich Blau, Grün, Lila, Rosa oder Gelb. Immer anders. Jeden Tag."
    ... so heißt es an einer Stelle. Und wenig später:
    "Es kommt immer auf das Licht an und es kommt immer auf den Blick an."
    Unausgesprochen versteht man: Gemeint ist damit auch ein gewaltsamer Tod, wie ihn Sarah zu verarbeiten hat. Und: Nichts hat Bestand, alles verändert sich. Leben und Tod sind – vielleicht – eins.
    Margit Schreiner: "Der Montaigne hat einmal gesagt: Wenn man den Tod ignorieren könnte, würde er das sofort tun. Aber dadurch, dass es ihn gibt, kann man ihn nicht ignorieren, und der Meinung würde ich mich anschließen. Weil je mehr man sich damit beschäftigt und über ihn nachdenkt – wer will schon ewig leben – desto mehr wird man ihn wahrscheinlich auch akzeptieren können."
    Was also nicht nur Sarah, sondern der Roman selbst in actu vollzieht, ist die Suche nach der Möglichkeit, wie der Tod und das Leben in eine ausgewogene Balance zu bringen sind: die Suche nach dem Titel gebenden ‚Gleichgewicht’ des menschlichen Lebens.
    Margit Schreiner: "Ja, ich glaube, es ist im Grunde die zentrale Frage, die sich uns allen stellt: Wie können wir das Gleichgewicht bewahren? Das Gleichgewicht zwischen unserem Selbst und unserer Umgebung, zwischen Gesellschaft und Individuum, Natur und Technik, zwischen Leben und Tod? Und das geht bis in jeden Bereich."
    Wenn das Boot zu voll beladen ist, kippt es
    Was das bedeutet, setzt Margit Schreiner vielfach und bewusst bildhaft in Szene: Delfine, die in synchroner Anmut aus dem Wasser auftauchen; das Boot, das kippt, als es zu voll beladen wird; ein Segelflugzeug, das vom Wind getragen über die Köpfe der Inselbewohner hinweg gleitet. Das könnte didaktisch wirken oder ermüdend seriell. Doch macht Margit Schreiner nichts anderes, als die Suche nach dem Gleichgewicht – die naturgemäß eine kreiselnde, quasi spiralförmige Bewegung des Hin und Her darstellt – bis in Sprache und Form dieses Romans hinein wirken zu lassen: Wieder und wieder ziehen auch die Sätze ihre Kreise um die gleichen Fragen – sprich, die Wiederholung ist hier bewusstes Stilmerkmal. Der Roman wirft eher ein anderes Fragezeichen auf: ob sein Thema – das menschliche Gleichgewicht – des immer auch ein wenig riskanten Umwegs über Israel bedarf?
    Margit Schreiner: "Ja, aber auch da geht es ums Gleichgewicht. Es geht sowohl in Deutschland als auch in Österreich um ein Gleichgewicht finden in dieser Schuld, die diese Länder auf sich geladen haben, die natürlich in vielen Generationen nachwirkt. Ich kann mich erinnern, als ich als ganz junger Mensch mit der Schule in das KZ Mauthausen geführt wurde, das in der Nähe von Linz ist, und ich das gesehen habe, da habe ich mir nachher gedacht: Ich will kein Mensch sein. Ich will das nicht, das will ich nicht. Das bin ich nicht, das will ich nicht. Man muss das auch lernen, anzunehmen und damit fertig zu werden."
    Ein versöhnliches Ende liefert der Roman dennoch nicht. Und doch ist "Das menschliche Gleichgewicht" ein tröstliches Buch geworden – dank der unnachahmlichen Kunst von Margit Schreiner.
    Margit Schreiner: "Düstere Romane schreibe ich nie. Weil ich immer versuche, auch bei ganz existentiellen Themen, diese Nähe von Tragödie und Komödie oder vielleicht auch von Himmel und Hölle mitspielen zu lassen, also nie nur in das Düstere zu gehen oder nur in das Komische. Ich glaube, das ist – und das ist das Mysterium – fast das Gleiche oft."