Das vorliegende Buch kann als ein Beispiel für den generationell bedingten Wandel dieses Erinnerungsprozesses gelesen werden. Mit ihrer in der Schriftenreihe des Leo Baeck Instituts erschienenen Arbeit über Selma Stern schlägt die 1959 geborene Historikerin Marina Sassenberg im Rückgriff auf die "große alte Dame der deutsch-jüdischen Geschichtsforschung" einen Zugang zur Frage der Erinnerung vor, der sich wesentlich von den in den verschiedenen Historiker-, Politiker- und Literatenstreits vertretenen Positionen unterscheidet, die in der Vergangenheit den Umgang mit dem Holocaust wesentlich mitbestimmt haben.
Selma Stern war nicht nur eine professionelle Kennerin der deutsch-jüdischen Geschichte, sondern auch Zeitzeugin des schwierigsten und schlimmsten Abschnitts dieser Geschichte. 1890 in einem konservativ-liberalen Elternhaus in Südbaden geboren, machte sie als erstes und einziges Mädchen am Gymnasium in Baden-Baden 1909 das Abitur. Sie studierte Philologie und Geschichte in Heidelberg und München und begann nach einem gescheiterten Habilitationsversuch eine Karriere als wissenschaftliche Publizistin. In den zwanziger Jahren arbeitete sie an der 1920 in Berlin gegründeten Akademie für die Wissenschaft des Judentums, deren Leiter Eugen Täubler sie 1927 heiratete. Im Mittelpunkt ihres Schaffens an der Akademie stand die Bearbeitung einer umfassend angelegten Dokumentation zum Thema Der preußische Staat und die Juden, ein Projekt, das sie 1975 mit der erstmaligen Gesamtausgabe des siebenbändigen Werks abschloss. 1941 emigrierte das Ehepaar in die USA. Nach einem schwierigen Anfang fand Selma 1947 eine Stelle als Archivleiterin im Hebrew Union College in Cincinnati. 1955 wurde sie Gründungsmitglied des Leo Baeck Instituts in New York. In den fünfziger Jahren erschienen ihre vielbeachteten Studien über die Hofjuden im Zeitalter des Absolutismus und Josel von Rosheim, einen jüdischen Humanisten zur Zeit der Reformation. 1960 ließ sich Selma Stern in Basel nieder, wo sie 1981 starb.
Wie viele Juden ihrer Generation wurde auch Selma Stern erst gezwungenermaßen auf ihr Judentum wissenschaftlich und politisch aufmerksam. Hatte sie den Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch mit deutsch-nationalem Überschwang begrüßt, so demonstrierte ihr die "Judenzählung" von 1916, wie fragwürdig ihr Selbstverständnis war, das Selbstverständnis des sich für assimiliert oder akkulturiert haltenden, den "Traum von der deutsch-jüdischen Symbiose" träumenden deutsch-jüdischen Bürgertums. Es war diese schockartige Erfahrung, die ihrem historischen Interesse eine entschiedene Richtung gab.
Ihr historiographischer Ansatz, die deutsch-jüdische Geschichte auf dem Boden des Toleranzgedankens von Moses Mendelssohn und Lessing als zumindest partiell gelungene Integration der Juden in Staat und Gesellschaft zu schreiben, wurde durch die Erfahrung des Nationalsozialismus und des Holocaust zutiefst erschüttert. Eine Zeitlang verlor sie das Vertrauen in die wissenschaftliche Rationalität und widmete sich der Literatur. Aber, und da setzt Sassenbergs besonderes Interesse ein, mit ihrem Buch über den Hofjuden von 1950, schreibt Marina Sassenberg,
fand "Selma Stern zur Historiographie zurück. Gerade die Erfahrungen von Nationalsozialismus und Holocaust ließen sie für das Festhalten an der Geschichtswissenschaft plädieren:
... so dass wir diejenigen Kräfte unserer Geschichte begreifen, die uns geformt und schließlich verändert haben. ... Das Bewusstsein dieser Kräfte kann unser Schicksal nicht ändern. Aber wir können ihm etwas von seiner Schwere nehmen, indem wir unseren Weg durch die Jahrhunderte zu verstehen suchen.
Mit dieser identitätsgeschichtlichen Legitimation von Geschichtswissenschaft, die Nationalsozialismus und Holocaust einschloss, schreibt Sassenberg weiter, war die Voraussetzung geschaffen, an frühere Werke anzuknüpfen und neue zu konzipieren.
Der Autorin gelingt es, mit aller geschichtswissenschaftlichen Strenge und Bescheidenheit, die "Chronistenpflicht der Überlebenden", die Selma Stern als ihre Pflicht betrachtete, so herauszuarbeiten, dass "Historiographie als Instrument des Überlebens" sichtbar wird.
'Geschichte’ und 'Leben’ waren - und blieben - für die Historikerin aufs engste miteinander verbunden und doch getrennt durch das Medium 'Wissenschaft’. Diese Unterscheidung erlaubte ihr nach dem Holocaust, die eigene Geschichte für gescheitert zu erklären und dennoch an der Sinnhaftigkeit von Geschichte, das heißt, an ihrem Verständnis von der identitätsstiftenden und Erinnerungsfunktion von Geschichte und Geschichtsschreibung festzuhalten.
Sassenberg erinnert daran, dass deutsche Geschichte auch deutsch-jüdische Geschichte ist. Sie stellt mit Selma Stern einen Modus der Erinnerung vor, in dem die Juden nicht nur als Opfer vorkommen. Im Kontext der Diskussionen über die angemessene Erinnerung an den Holocaust und das Gedenken der Opfer kann eine Erweiterung des geschichtlichen Horizonts auf die deutsch-jüdische Geschichte, in die der Holocaust eingeschlossen ist, als Aufforderung verstanden werden, nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft zu blicken. Ob eine Art der Erinnerung, die nicht nur nach der Vergangenheit, sondern auch nach der Zukunft einer deutsch-jüdischen Geschichte fragt, vor dem "Vergessen" vor allem in der jungen Generation bewahrt, für die das Ereignis des Holocaust in geschichtliche Ferne rückt, ist fraglich. Aber gerade deshalb ist diese Überlegung eine Diskussion wert. Sassenbergs Arbeit über Selma Stern bietet wichtiges Material dafür.
Bernd Leineweber besprach: Selma Stern, Das Eigene in der Geschichte von Marina Sassenberg. Das Buch ist im Verlag Mohr Siebeck erschienen, hat 293 Seiten und kostet 69 Euro.