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Mario Merz als Zeichner

Mario Merz war einer der bedeutenden europäischen Künstler der Nachkriegszeit. Seine Installationen und Malereien sind in den großen Museumssammlungen zu sehen. Nur die Zeichnungen bewahrte Merz sorgfältig für sich. Das Kunstmuseum Winterthur bringt sie an das Licht der Öffentlichkeit.

Von Christian Gampert |
    Mario Merz hat im Gefängnis zu zeichnen begonnen, 1944, als er als Mitglied einer antifaschistischen Widerstandsgruppe in Turin interniert war. Und auch später, als man ihn längst wegen seiner Malerei auf Tüchern und wegen seiner Leuchtskulpturen kannte, blieb die Zeichnung für ihn das wichtigste und persönlichste Medium - "il disegno", der Entwurf, die unmittelbarste Form, in der man, im Sinne der Renaissance, Gedanken zeichnerisch zu Papier bringen konnte, eine andere Form des Schreibens.

    Um die Archivierung hat sich der etwas sorglose und spontane Mario Merz allerdings kaum gekümmert. Zum ersten Mal sind diese virtuosen Zeichnungen, die vor allem aus dem Nachlass stammen, nun im Überblick ausgestellt, und der Winterthurer Museumsdirektor Dieter Schwarz hat noch bei der Vorbereitung der Ausstellung einige unbekannte Werke gefunden. Schwarz beschreibt Merz' Lebensleistung so:

    "Das Wichtige ist, dass er Mittel und Wege gefunden hat, die Natur in der Kunst sprechen zu lassen, diesen Bogen zu schlagen von einer sehr artifiziellen, sehr hochgezogenen, raffinierten Kunst zu den Phänomenen der Natur und sie miteinander in seinem Werk zu verbinden. Und damit trifft er sich mit anderen großen Künstlern von Klee an aufwärts, die alle ihre ganz eigenen Wege gegangen sind."

    Die chronologisch aufgebaute Ausstellung macht gleich anfangs klar, dass das Organische für Merz das Entscheidende war. Die erste Zeichnung von 1951 zeigt eine männliche Figur, die aus lauter kristallinen, energetischen Linien besteht. Dann werden Naturformen variiert, skurrile rote theatralische Figuren tauchen auf, und während sich die Kunstszene damals vor allem mit Action Painting und Informel beschäftigte, wurde für Merz das naturhafte Wachstum immer wichtiger. In den 90er Jahren abstrahierte er Blumen-, Blüten- und Blättergestalten. Wegen der kargen Sprache zählte man ihn zur Arte Povera. In den 70er Jahren entdeckte Merz die mathematische Fibonacci-Reihe als Geheimnis allen Werdens: Durch die Addition benachbarter Zahlen wird sehr schnell eine große Progression erreicht, und Merz überprüft dieses explosionsartige Wachstum nun zeichnerisch an der Natur. Zellen, Wurzeln, Schneckenhäuser, Tannenzapfen brechen spiralförmig auf und vervielfältigen sich, die Zahlenreihe selbst wird in den Bildern zitiert - eine Mischung aus Mystik und Biologie.

    Das zweite Paradigma für Merz' Denken war der Iglu mit seiner schützenden Form. Nur eine einzige Iglu-Skulptur aus Fett und Plastik ist in der Ausstellung zu sehen, aber der Iglu taucht dann in vielen Zeichnungen wieder auf: Auch der menschliche Kopf ist für Merz ein Iglu, eine konische Schädeldecke, unter der es denkt.

    Vieles in Merz' naturmystischen Tendenzen erinnert an Joseph Beuys, anderes ist streng konzeptuell durchkalkuliert oder schließt an die Studentenbewegung von 1968 an. "Objet, cache-toi" stand an Pariser Hauswänden, Gegenstand, versteck dich! Merz übernimmt die Parole und kittet Blätter auf seine Zeichnungen: Das Blatt im Blatt verdeckt das Wesentliche. Die Zeichnungen werden jetzt, in den experimentierfreudigen 70er Jahren, immer mehr zu Collagen, zum Teil mit organischen Stoffen wie Blättern und Holz, aber auch mit Lacken und mit Stahlwolle. Der optimistischen Wachstumsphilosophie des Frühwerks wird nun der Eindruck des Morosen, Schimmeligen, Verwesenden entgegengesetzt.

    Aber nicht lange: In den 8ger Jahren tauchen buntere Farben auf, die an Reptilien, Leguanen, Gekkos durchgespielt werden und die bisweilen wie Höhlenmalereien wirken. Es gibt chlorophyllhaftes Grün und verstrichelte Kleinstformen, Tusche, Aquarell, Farbkreide, starke Federzeichnungen mit picasso-artig verdrehten Gesichtsformen. Immer wieder wird die menschliche Hand spiralförmig gedreht oder ins Zangenhafte weiterkonstruiert.

    1997 kritzelt Merz in bester Cy-Twombly-Manier eine Art Wandparole als Manifest auf das Papier: "Entwurf für die 144 Freiheiten" (die Zahl 144 ist natürlich Teil der Fibonacci-Reihe). Die erste Freiheit ist "die Freiheit der Lektüre". Als Schreiber allerdings war Merz sich selbst nicht ganz geheuer: "lentomente poeta, velocemente pittore" heißt es in einem Schrift-Bild, langsam als Dichter, aber ein schneller Maler.

    Die Zeichnung als offener, unabgeschlossener Entwurf, als privates Experiment: diesem Prinzip blieb Merz bis zum Schluss treu. Sein letztes Werk von 2003 ist eine riesenhafte Zeichnung. Sie zeigt die hingesprenkelten Umrisse eines Reptils, die sich ins Weiße, ins Schemenhafte auflösen: in den Tod.