Archiv


Martin Pollack: Anklage Vatermord

In der Zwischenkriegszeit entwickelte sich in Österreich ein Kriminalfall zu einer Internationalen Affäre, in der viele Intellektuelle der Zeit Stellung bezogen: Sigmund Freud, Albert Einstein, Thomas Mann und Jakob Wassermann setzten sich für den Angeklagten Philipp Halsmann ein, der beschuldigt wurde, seinen Vater, den Zahnarzt Morduch Max Halsmann, auf einer Bergtour im Zillertal umgebracht zu haben. Martin Pollack, ein früherer Spiegel-Redakteur, hat diesen aufsehenerregenden Fall zu einem dokumentarischen Roman verarbeitet, der ein Licht auf die Verhältnisse der Zeit wirft.

Jochen Stöckmann |
    Zwei Männer, Vater und Sohn, wandern im September 1928 durch die Tiroler Berge – und sie fallen auf: Morduch "Max" Halsmann, Zahnarzt aus Riga, möchte gern als Alpinist gelten, will unbedingt einen Dreitausender besteigen. Philipp, Student in Dresden, sucht den herzschwachen Vater zurückzuhalten. Ein Hirtenbub beobachtet ihre gestenreiche Unterhaltung. Eine Wirtsfrau registriert verwundert, dass Vater Halsmann auf zwei getrennten Zimmern besteht. Der Bergführer kommt nur widerwillig Halsmanns Wunsch nach, einen Gipfelbesuch per Unterschrift zu quittieren. Immer wieder, ob bei der Rast im Freien oder im Wirtshaus, witzelt der Vater über seinen Sohn, der nur darauf warte, ihn zu "beerben".

    All das sind Kleinigkeiten, unbedeutende Episoden einer Bergtour. Aber dann wird Max Halsmann am späten Nachmittag des 10. September blutüberströmt, mit klaffenden Hieb- und Stichwunden tot an einem Bachufer aufgefunden. Philipp Halsmann sah den Vater in den Abgrund stürzen, holte Hilfe – und wird als "Vatermörder" verdächtigt. Der herbeigerufene Hüttenwirt entdeckt die blutige Schleifspur, den von Haarbüscheln verklebten Stein – und flugs fügt sich das Mosaik zum Täterbild: Das seltsame Verhalten der Fremden bekommt plötzlich einen Sinn – sie lagen miteinander im Streit, der Sohn trachtete nach dem Geld, er beging den "Vatermord".

    Wie der Regisseur Akira Kurosawa im Film "Rashomon", so setzt Martin Pollack in seinem Dokumentar-Roman die in drei Aufsehen erregenden Prozessen verhandelten Fakten immer neu zusammen.

    Der zwölfjährige Hüterbube Alois Graus erzählte dem Beamten von seiner Begegnung mit den beiden Fremden, von denen der eine später verunglückt sei. Er sei hinter ihnen hergegangen, habe sich aber nicht an sie herangetraut, weil sie lautstark gestritten hätten. Besonders der junge Mann habe dabei heftig mit den Armen herumgefuchtelt. Er habe sich vor ihm gefürchtet, sagte der Hüterbub.

    Aus dem Protokoll des Revisionsverfahrens, nachdem Philipp Halsmann in erster Instanz zu zehn Jahren Kerker verurteilt wurde, zitiert Pollack dann folgendes:

    Dann wird der zwölfjährige Hirte Alois Graus einvernommen, der gesehen haben will, wie die beiden Halsmanns beim Abstieg heftig stritten.



    Vorsitzender: "Hast du etwas Besonderes bemerkt?"



    Graus: "Sie haben halt mit den Händen herumgeschlagen."



    Vorsitzender: "Hast du auch einen Streit gehört?"



    Graus: "Nein, sie waren zu weit weg."



    Vorsitzender: "Zeig uns die Bewegungen, die er mit den Händen gemacht hat."



    Der Hirte hebt zaghaft eine Hand und bewegt sie kaum sichtbar. Im Auditorium bricht Heiterkeit aus. Ein paar Tage später erreicht das Gericht ein Brief, in dem jemand den Vorschlag macht, den jüdischen Kabarettisten Armin Berg als Zeugen zu befragen, ob es nicht gang und gäbe sei, dass Juden beim Reden stärker mit den Händen fuchteln als Christen.

    Philipp Halsmann, Jahrzehnte später als Porträtfotograf in den USA berühmt geworden, war Jude – und das gab den fadenscheinigen, von prominenten Zeitgenossen wie Albert Einstein oder Sigmund Freud in Zweifel gezogenen Innsbrucker Indizienprozessen ihre fatale Wendung. Da mochte der Angeklagte den Tiroler Geschworenen noch so wortreich erklären, dass der Vater auf getrennten Zimmern bestanden habe, weil er schnarchte, dass die Anspielung auf die "erbenden" Söhne in Riga ein geflügeltes Wort sei und dass es keineswegs als Zeichen von Gefühlskälte gewertet werden dürfe, wenn er den Toten nicht in einem Sarg habe begraben lassen: Die Bestattung im sackartigen Totenkleid, dem Tachrichim, war unter Ostjuden allgemeiner Brauch. Alle rationalen Erklärungen kehrten sich in einem zumindest latent antisemitischen Klima gegen den jungen Studenten. Selbst in einem amtlichen Dokument wie dem Bericht des Gendarmeriepostens über den Abtransport der Leiche hieß es:

    "Ich gab Halsmann Gelegenheit, mit den Arbeitern über den Kostenstandpunkt selbst verhandeln zu können. Es waren fünf Mann, und sie verlangten pro Kopf 40 Schilling. Dieser Betrag war dem Halsmann viel zu hoch, und er schacherte mit ihnen die längste Zeit."

    Zu klären, wer in der Tatortskizze den Leichenfund durch ein Hakenkreuz markiert hat, hält das Gericht für überflüssig. Objektive Artikel der Wiener Presse dagegen und Prominenteneingaben aus aller Welt, die Unterstützung des Angeklagten durch Jakob Wassermann oder den Berliner Anwalt und SPD-Abgeordneten Kurt Rosenfeld werden in der von einem verbohrten Innsbrucker Pfarrer und organisierten Antisemiten aufgeheizten Tiroler Provinz als Angriff einer "jüdischen Verschwörung" gegen die einheimischen "Volksrichter", die Geschworenen, betrachtet.

    Weil außer Philipp Halsmann niemand auf dem schmalen Gebirgspfad gesehen wurde, gilt der Sohn als Mörder. Ein fehlendes Tatmotiv wird durch das diffuse Bild des fremdartigen Juden ersetzt. Vor allem diesen sozialpsychologischen "Prozess" hat der ehemalige Spiegel-Journalist mit langen Recherchen herausgearbeitet. Sein Buch ist weit mehr als nur die spannende Gerichtsreportage über einen nie endgültig geklärten, seltsam schnell vergessenen Kriminalfall: Klar formuliert, präzis komponiert, entfaltet Pollack ein faktenreiches Panorama der Zeitgeschichte. Das reicht von der Schilderung jüdischer Lebensverhältnisse in Riga über die antisemitischen Ressentiments in den Alpenvereinen bis hin zu jenem verbissenen Hickhack zwischen "rotem Wien" und tiefreaktionärer Provinz, der sich im Bürgerkrieg von Arbeitern, Heimwehr und Hakenkreuzlern entlädt.

    Vor allem Verwerfungen prägen dieses ungemein plastische Porträt einer ganzen Epoche: Da sind menschenfreundliche Sozialdemokraten, die im Häftling Halsmann nur das verwöhnte Bourgeoissöhnchen sehen, antisemitische Bergbauern, die über ihre Vorurteile doch die jüdischen Touristen nicht verlieren wollen – und schließlich der Wiener Justiz- und Pressekritiker Karl Kraus, dem der Fall Halsmann nur deshalb nichts bedeutet, weil sich bereits die "falsche", für ihn indiskutable Zeitung der Sache angenommen hat. Den mehr als 70 Jahre zurückliegenden Justizirrtum kann dieses Buch nicht aufklären, die Sicht auf die Sozialgeschichte aber wird es schärfen. Auch Pollack weiß nicht, wer es getan hat – aber er schildert sehr genau, was sich damals getan hat.

    Jochen Stöckmann war das über Martin Pollack, Anklage Vatermord; Der Fall Philipp Halsmann, erschienen im Zsolnay Verlag. Das Buch hat 324 Seiten und kostet 31.50 Euro.