Archiv


Matthias Machnig/Hans-Peter Bartels: Der rasende Tanker – Analysen und Konzepte zur Modernisierung der sozialdemokratischen Organisation.

Zwei engagierte Sozialdemokraten haben im Vorfeld der Bundestagswahl "Analysen und Konzepte zur Modernisierung der sozialdemokratischen Organisation” vorgelegt. Die Herausgeber des Sammelbandes "Der rasende Tanker": die 42jährige Eminenz im Berliner Willy-Brandt-Haus oder –anders ausgedrückt – der starke Mann hinter Franz Müntefering, SPD-Bundesgeschäftsführer Matthias Machnig, und der Kieler SPD-Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Bartels, Mitherausgeber der Monatszeitschrift "Berliner Republik". Das Reizwort, das sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, heißt "Netzwerkpartei" – eine Lieblingsidee des SPD-Wahlkampfmanagers Machnig, der dafür schon viel Prügel einstecken musste. Die Partei als Unternehmen, das sich am Markt – also in diesem Fall am Wählermarkt – orientieren muss, das Ideologie, womöglich auch Inhalte, über Bord wirft? Eine Partei - ohne Mitglieder, ohne Basisdemokratie? Nur noch Wählerfang? Koste es an Überzeugungen, was es wolle? Eine Diskussion, die nach der Bundestagswahl – je nach Ergebnis – für beendet erklärt werden könnte. Alfred Gertler über den "rasenden Tanker":

Alfred Gertler |
    Auch 20 Jahre nach der Veröffentlichung des Klassikers "Die Beweglichkeit des Tankers" von Peter Glotz ringt die SPD immer noch um eine Modernisierung, bemühen sich alle Parteien, mit der Entwicklung der Gesellschaft Schritt zu halten. Vor zwei Jahren legte SPD-Generalsekretär Franz Müntefering seine Vorschläge für eine Strukturreform seiner Partei vor – maßgeblich beeinflusst von Matthias Machnig, seinem engsten Mitstreiter. Mehr Durchlässigkeit wird gefordert, Seiteneinsteiger sollen für die SPD in die Parlamente geschickt werden. Für diejenigen Parteisoldaten, die sich abrackern und als Lohn irgendwann Diäten erhoffen, sind solche Ideen eine Sache des Teufels. Dies macht auch die innerparteiliche Debatte so schwierig. Der Tanker ist eben unbeweglich, nun soll er gar rasen. Hans-Peter Bartels, der vordenkende Bundestagsabgeordnete aus Kiel, begründet das so:

    Wir stellen heute fest, dass sich in der modernen Gesellschaft alle Verhältnisse noch mehr beschleunigt haben. Das heißt, das Hauptproblem, das die Steuerung des Tankers uns heute verursacht, ist die Geschwindigkeit der Gesellschaft an den Tanker herum. Auch der Tanker muss schneller werden.

    Das ist gar nicht so einfach, vor allem, wenn eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung eine Politik umsetzt, die von vielen Frauen und Männern in der eigenen Partei als unsozialdemokratisch empfunden wird. Gerade deswegen ist ein Buch wie der vorliegende Sammelband für die SPD so wichtig. Es finden sich Analysen und Konzepte renommierter Wissenschaftler und die Anwendungsprofile einiger Pragmatiker, die allesamt des Einblickes lohnen. Abgerundet wird das Kompendium durch eine Sammlung internationaler Erfahrungen. Aus den Exkursen der deutschen Professoren sei der Aufsatz des Dortmunder Politologen Thomas Meyer herausgegriffen. Er untersucht, wie die Medien die Struktur des Politischen verändern, und beschreibt das dreifache Dilemma der Parteien in der Mediengesellschaft:

    Erstens: Sie sind als große Diskurs- und Integrationsorganisationen prinzipiell zu langsam, um dem Präsentismusprinzip der Medienkommunikation folgen zu können. Zweitens: Sie sind in überdurchschnittlichem Maße für Bürger attraktiv, deren Berufsposition und Lebensrhythmus ihnen ausreichend disponible Zeit übrig lässt oder die sich die Zeit für politische Beratungen nehmen wollen. Und Drittens: Sie verlieren als Zentralinstanzen des intermediären politischen Systems einen großen Teil ihrer Bedeutung als dessen politische Integrationsklammer, weil der gesamte intermediäre Bereich an den Rand des politischen Prozesses gerät.

    Kurzum, die Parteien klassischen Stils sind Relikte einer längst vergangenen Zeit. Politik und politische Prozesse unterliegen den Regeln der heutigen Massenkommunikation: Häppchenweise und personalisiert werden sie präsentiert. Die inhaltliche Auseinandersetzung verlagert sich mehr und mehr in kleinere Zirkel. So müssen sich auch die Parteien neue Möglichkeiten suchen. Das Zauberwort heißt heute Netzwerk. Machnig hat das Netzwerk 2010 ausgerufen, Bartels untermauert den Anspruch an die eigene Partei:

    Ein bisschen mehr Netzwerkern als bisher kann man schon; das heißt über die Strukturen von Ortsvereinen, Kreisverbänden, Landesverbänden hinaus Netze von Gleichgesinnten in der Partei und über die Partei hinaus bilden, die etwa die gleiche Ausbildung haben oder in ähnlichen Berufsfeldern Erfahrung gesammelt haben. Die sollen sich austauschen, zu einzelnen Projekten politische Beiträge leisten, auch wenn sie sich nicht an jeder Aktion beteiligen, so doch an den Dingen, die sie besonders interessieren. Aber dafür braucht man neue, eigene Strukturen. Netzwerk ist ein vielleicht unvollkommener Begriff dafür.

    Aber er signalisiert Demokratie, weniger Hierarchie, mehr Individualismus in der Gemeinschaft. Bartels und Machnig haben unterschiedliche Zugänge zur Modernisierung der SPD, aber sie ergänzen sich. Machnig ist der überzeugte Strukturalist, der auf allen Ebenen die Verantwortung und Kompetenz zuordnen will. Er hat sein Petitum für eine erfolgreiche Mitgliederorganisation in drei Punkten zusammengefasst:

    Erstens: sie muss eine Beteiligung der Mitglieder an den Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen ermöglichen. Die Chance zur Beteiligung ist eines der entscheidenden Motive für die Mitgliedschaft in einer politischen Partei – und ihr verfassungsmäßiger Auftrag. Zweitens muss sie Zugang zu exklusiven Informationen vermitteln. Nur so lässt sich ein dauerhaftes Interesse an der Arbeit der Partei und der innerparteilichen Kommunikation sicherstellen. Und drittens muss sie ihren Mitgliedern Qualifikationen vermitteln, die diese andernorts nicht oder zumindest nicht so gut erwerben können.

    Dies ist die Sicht aus den Sekretariaten, wie in dem Buch dieser Teil treffend überschrieben ist. Aber sind die Sekretariate die Seele der Partei? Wohl nicht. Das meint auch Hans-Peter Bartels, der die Existenzgrundlage der großen Mitgliederorganisation vor allem aus den Motiven der Basis beschreibt:

    Wir werden weiterhin die Gemeinschaft von politisch Gleichgesinnten brauchen, die sich regelmäßig treffen, die in ihren Ortsvereinsversammlungen, das heißt wohnortnah organisiert, zusammen kommen, Vertrauen bilden und die unterste Ebene der Willensbildung einer großen Partei darstellen. Das ist anders nicht organisierbar. Man muss sich auch nahe kommen, wenn man gemeinsam Politik machen will.

    Also lautet die Zauberformel für die Zukunft der politischen Massenorganisationen: Nehmt die positiven Erfahrungen aus der Vergangenheit als Basis für die Modernisierung. Technik und Strukturen lassen sich relativ schnell auf den neuesten Stand bringen. Der Mensch an sich braucht dafür länger. Und so wird noch einige Zeit über die Analysen und Konzepte zur Modernisierung der sozialdemokratischen Organisation gestritten werden. Der Tanker rast noch lange nicht.

    Alfred Gertler über das von Matthias Machnig und Hans-Peter Bartels herausgegebene Buch: Der rasende Tanker – Analysen und Konzepte zur Modernisierung der sozialdemokratischen Organisation. Erschienen ist es im Göttinger Steidl-Verlag, hat 240 Seiten und kostet 9 Euro 90.