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Medizinethik
Religiöse Vorschriften und das Wohl des Patienten

Sind Abtreibungen erlaubt und wie steht es um Leihmutterschaften? Je nach Religion gibt es ganz unterschiedliche Positionen zu medizinethischen Fragen. Wissenschaftler haben sich auf einer Tagung mit den Ansichten in Christentum, Judentum und Islam beschäftigt.

Von Michael Hollenbach |
    Zunächst stellten die Referenten der unterschiedlichen Religionen klar: es gibt nicht den christlichen, den jüdischen, den muslimischen Patienten. Wie zwischen Katholizismus und Protestantismus gibt es beispielsweise auch innerhalb des Islams große Unterscheide in ethischen Fragen. Der Mainzer Ilhan Ilcilic ist Professor für Geschichte der Medizin und Ethik und Mitglied im Deutschen Ethikrat. Er nennt das Beispiel Schwangerschaftsabbruch:

    "Erst mal unterschiedliche Interpretation der theologischen Quellen, da kann ich mir vorstellen, dass jetzt im Entscheidungsprozess über einen Schwangerschaftsabbruch unterschiedliche Koranverse oder Hatice benutzt werden für dieses medizinische Handeln. Auch in der Methode: In der islamischen Ethik benutzt man sehr viel Kasuistik, wobei in der christlichen Ethik viel normativ argumentiert wird."

    Das heißt: Im Islam schaut man sich eher den Einzelfall an, als eine allgemeingültige Moral zu formulieren. So sei je nachdem, welcher theologischen Argumentation man folgt, eine Abtreibung bis zum 120. Tag erlaubt.

    "Aber zum Beispiel in der Türkei ist es so: nach der Befruchtung der Eizelle, wenn es keine guten medizinische Gründe dafür gibt – zum Beispiel Lebensgefährdung der Mutter, wenn das nicht der Fall ist, darf kein Schwangerschaftsabbruch stattfinden."

    Und während im Sunnitentum eine Leihmutterschaft untersagt ist, werde sie von schiitischen Schriftgelehrten gut geheißen. Denn – ähnlich wie im Judentum - gilt: was hilft, dass Menschen geboren werden, sollte unterstützt werden. Im Judentum zeigt sich diese Haltung vor allem bei allen Fragen der künstlichen Befruchtung, die –anders als im Katholizismus – im Judentum nicht umstritten ist, sagt Leo Latasch, jüdischer Vertreter im Deutschen Ethikrat:
    "Das Judentum sagt, man soll im Grunde alles tun, um einer Frau zum Kinderwunsch zu verhelfen, und von daher gibt es da überhaupt keine Probleme damit. Da gibt es eine liberale Einstellung."

    Im Judentum – so Leo Latasch, hauptberuflich Leiter der Frankfurter Rettungsmedizin, würden – zum Beispiel im Krankenhaus – religiöse Vorschriften zweitrangig, wenn es um die Gesundheit gehe:

    "Da es sich um Patienten handelt, ist eigentlich alles erlaubt vonseiten der Mediziner, alles insofern, dass jemand, der zu Hause koscher isst oder der ein Medikament bekommt, was vom Pankreas eines unsauberen Tieres gewonnen wird, also Pankreasenzyme zum Beispiel, das ist unter Rubrik Patient, Lebensgefahr und Behandlung alles erlaubt. Da wird das normale jüdische Religionsgesetz einfach außer Kraft gesetzt."

    Religiöse Wertvorstellungen werden vor allem in Extremsituationen sichtbar. Ilhan Ilkilic nennt ein Beispiel. Er hat in der Mainzer Uniklinik als Ethiker muslimische Eltern betreut, deren sechs Tage altes Kind ohne permanente intensivmedizinische Versorgung keine Überlebenschance hatte. Die Mediziner wollten das Kind nicht länger leiden lassen:

    "Ärzte und Krankenschwester denken da viel rationaler: Lebensverlängerung ist Leidensverlängerung. Die Eltern sagen dagegen: nein, wenn Leben verlängert wird, ist das nicht unbedingt eine Leidensverlängerung. Und sie rekurrieren auf ihre eigene Glaubensüberzeugung, nämlich als Eltern bin ich verpflichtet gegenüber Gott, möglichst mein Kind lang leben zu lassen. Wenn ich eine andere Entscheidung treffen würde, kann ich – in einer bestimmten eschatologischen Interpretation – gegenüber Gott beim Jüngsten Gericht nicht verantworten."

    Nach gemeinsamen Gesprächen willigten die Eltern dann doch ein. Das Kind starb auf dem Arm der Mutter. Solch enge religiöse Vorstellungen über das Jüngste Gericht seien aber die große Ausnahme, sagt der Göttinger Theologieprofessor Rainer Anselm. Religiöse Wertvorstellungen würden heutzutage nicht mehr eins zu eins übernommen:

    "Wir leben in einem Zeitalter – Charles Taylor hat vom Zeitalter der Authentizität gesprochen. Und das ist für uns selbstverständlich geworden: jedes vorschreiben in engen moralischen Sachen, da reagieren wir allergisch darauf, und sagen das geht überhaupt nicht. Das bedeutet nicht, dass man nicht sagt: die Kirchen sollen eine klare Position beziehen. Das ist ein interessantes Phänomen: aber das sollen sie nur so lange, solange sie nicht mir vorschreiben, was ich tun soll. Sie sollen sagen: Abtreibung ist nicht richtig, aber für mich gelten dann Ausnahmefälle. Ganz grundsätzlich gilt: der Einzelne, die Einzelne beanspruchen Entscheidungsfreiheit für ihre eigene Position."

    Diesen Individualisierungsprozess stellt Ilkan Ilcilic auch bei Muslimen fest, wobei im Islam ohnehin eine zentrale Lehrautorität fehlt – wie zum Beispiel im Katholizismus. Der Mainzer Ethiker sieht aber noch ein anderes Problem: man befinde sich auf dem Weg zu einem "inquisitorischen Rationalismus". Die Medizinethik laufe dem medizintechnischen Fortschritt hinterher:

    "Wir müssen als Gesellschaft entscheiden, welche Bedeutung diese Entwicklung für uns haben soll. Wir brauchen natürlich moderne Medizin. Aber wenn wir unser moralisches System von den Ergebnissen der Naturwissenschaften abhängig machen, da sehe ich schon ein Problem. Wir sollen die Ergebnisse der Naturwissenschaften anhand von unseren Wertvorstellungen und normativen Systemen bewerten und nicht umgekehrt."

    Die Tagung in Hannover hat gezeigt: Einerseits spielt Religion in einer immer säkularer werdenden Gesellschaft auch in der Medizinethik keine zentrale Rolle mehr; andererseits hat die Beschneidungsdebatte sehr deutlich gemacht, wie unvorbereitet eine säkulare Gesellschaft auf religiöse Rituale und Bedürfnisse reagiert – auch im Medizinbetrieb.