
Unterwegs in einer Neubausiedlung in Hildesheim.
"Wir sind jetzt bei einem unserer drei Protagonisten..."
Clara Ehrenwerth vom Megapixel-Team.
"... und holen jetzt den Narrative Clip von ihm ab. Und schauen uns mit ihm zusammen die Fotos an, die gestern entstanden sind."
Dieter Klein öffnet die Tür seines Holzhauses. Der pensionierte Lehrer ist einer von drei Freiwilligen, die für Megapixel einen Tag ihres Lebens fotografisch dokumentiert haben. Von morgens bis abends. Mit einem sogenannten Narrative Clip. Eine Mini-Kamera, angesteckt an die Kleidung, die alle 30 Sekunden ein Foto schießt, und den Ort speichert, an dem es aufgenommen wurde.
"Der Tag mit dem Clip war im Grunde wie jeder andere. Man denkt natürlich die meiste Zeit mehr oder weniger daran. Aber es gab auch längere Momente, wo ich das völlig ausgeblendet habe."
Ein Experiment. Der Apparat als moderne Self-Tracking-Maschine, der Proband als Datensammler für die Kunst. Zwei Hildesheimer Ex-Studierende des Studiengangs "Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus" hatten die Idee, die Privatsphäre aufzulösen und literarisch zu verarbeiten.
"Wir haben das überspitzt so formuliert: Megapixel untersucht das Erzählen in der Transparenzgesellschaft."
Victor Kümel, Initiator von Megapixel.
"Also eben die Situation, dass man zunehmend automatisch die ganze Zeit Informationen generiert, die gesendet, eingelesen und interpretiert werden, und meistens bekommt man aber davon nicht so viel mit."
Dieter Kleins Narrative Clip hat 1.500 Fotos geschossen, die anonymisiert einem von drei Schriftstellern zur Verfügung gestellt wurden.
"Was man aus meinem Intimbereich erfährt, das muss ich dann auf mich zukommen lassen. Ich kann das etwas kontrollieren und kann notfalls das ein oder andere Bild ausschalten. Aber ich glaube gar nicht, dass das nötig ist."
Denn allein aus den Bild- und Bewegungsdaten sollen die fiktiven Geschichten entstehen.
"Wir haben uns gefragt: Was erzählt dieses Material? Und was lässt sich damit erzählen? Was ist die ästhetische Qualität von Privatsphäre?"
Und das heißt: man sieht, wie jemand Zähne putzt, am Computer Karten spielt, raucht, ein Buch liest, mit der Bahn fährt. Ganz normale Dinge. Betrachtet nur mit dem Blick der Kamera. Fast schon langweilig - auf den ersten Blick.
Doch die Geschichten beschreiben das Bildmaterial ganz unterschiedlich. Lucy Fricke erzählt von einer Frau, die eifersüchtig ist auf ihre Katze.
"Frauen und Katzen sind ja so eine Sache, aber Männer und Katzen, da ist Vorsicht geboten."
Jakob Nolte erzählt von Herrn Purro, der auf der Cebit in Hannover arbeitet.
"Der Herr Purro erwähnte nebenbei, dass die Autobahnausfahrt Kreuz Hannover Ost die schönste in der gesamten Bundesrepublik wäre."
Und Heinz Helle schreibt zu den Fotos von Dieter Klein ein bebildertes Gedicht. Im Stakkato. Zu jedem Foto meist nur ein Satz. Aus der Ich-Perspektive. Dieter Kleins Kühlschrank.
"Ein Ich zu haben bedeutet, beurteilen zu können, ob noch was im Kühlschrank ist."
Dieter Kleins Wohnzimmer:
"Ich bin die Summe der Dinge, die mich umgeben."
Eine Baustelle:
"Ich bin in der Lage, auf Veränderungen in meiner Umwelt zu reagieren."
Text und Foto. Fiktive Figuren, reale Personen. Präsentiert werden sie auf der Bühne und im Internet, wobei die Fotos als Dia-Show die einzelnen Text-Passagen illustrieren. Anschließend sprechen die Autoren mit den Probanden, über ihre fiktiven Doppelgänger.
"Wie ihre Reaktionen darauf sind, wissen wir natürlich noch nicht."
So wird bei Megapixel die Grenze zwischen Autor und Material infrage gestellt, und ein Ergebnis dieses Experiments scheint absehbar: In der "Transparenzgesellschaft", wie die Megapixel-Initiatoren das nennen, scheint wirklich alles zu verschwimmen.