Mittwoch, 08. Mai 2024

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Alle Wege sind offen. Die Reise nach Afghanistan 1939/40

"Zuerst wollte ich General werden, dann Pianistin (woran mich ein Schreibkrampf im richtigen Augenblick hinderte), dann studierte ich Geschichte, dann versuchte ich mich als Assistentin auf archäologischen Expeditionen. Die Liste ist nicht etwa vollständig, aber ich will niemanden zwingen, sich alle Inkonsequenzen meiner Vergangenheit anzuhören. Und zu meinem eigenen Trost füge ich hinzu, daß ich trotzdem immer geschrieben habe - tatsächlich immer",

Hans Jürgen Heinrichs | 01.11.2000
    notiert die 1908 in Zürich geborene und bereits 1948 verstorbene Annemarie Schwarzenbach. Dennoch ist sie in ihrem kurzen, aber an Abenteuern und Experimenten überaus reichen Leben zu einem Mythos geworden- vergleichbar Isabelle Eberhardt, die nicht weniger wagemutig die Enge ihres Daseins in der Schweiz aufgegeben und um die Jahrhundertwende in die algerische Wüste aufgebrochen war. Schwarzenbachs Phantasien kreisten mehr um den Nahen und Fernen Osten - davon legen ihre Reisetagebücher und der Roman "Tod in Persien" Zeugnis ab. Ein Werk, das in seiner Fülle und stilistischen Reife weitgehend erst posthum gewürdigt wurde - ein Leben, das nach einer kurzen, geradezu eruptiven Phase der Berühmtheit unter den Schriftstellern ihrer Zeit - ob Thomas, Klaus und Erika Mann oder Blaise Cendrars und André Malraux - wieder in der Vergessenheit versank.

    Der nun vorliegende und die Werkausgabe abschließende Band "Alle Wege sind offen" beinhaltet Aufzeichnungen einer 1939/40 zusammen mit der Reiseschriftstellerin Ella Meillart unternommenen Reise nach Afghanistan, Aufzeichnungen, die von der Autorin nicht mehr in die Form eines durchgearbeiteten Buches gebracht wurden.

    Dominierend im Vorfeld dieser Reise (durch Jugoslawien, die Türkei, Persien) ist die Begeisterung für ein geistiges und körperliches Abenteuer, bei Meillart eng verknüpft mit der Erinnerung an eine frühere Afghanistanreise und mit der Idee, dieses Mal enthnographische Forschung zu betreiben; bei Schwarzenbach verbunden mit dem Wunsch, privates Unglück und die Drogenabhängigkeit zu vergessen, wieder unterwegs zu sein: zu neuen, weiten Horizonten, hinter sich lassend eine Zivilisation, die sie, ebenso wie ihre Gefährtin, als eine im Niedergan- begriffene ansah.

    Gut vorbereitet, die Aufgaben eindeutig verteilt (Annemarie Schwarzenbach die Fahrerin des Wagens und die Fotografin, Ella Meillart die Filmerin und auch, nicht zuletzt, die Beschützerin ihrer Freundin vor den Verführungen des Morphiums) brachen sie im Juni 1939 von Genf zu einer Reise auf, die sie als psychische "Notwendigkeit" (nicht als "Flucht") verstanden und in kultureller Hinsicht als die Suche nach einer Alternative zu der in Technologie erstarrten Welt, als Gegenentwurf zur Seßhaftigkeit des westlichen Menschen.

    Anders aber als Meillart (die einer asiatischen Lebenseinstellung zuneigte) hielt Annemarie Schwarzenbach am Tragischen fest und fühlte sich insofern auch dem Niedergang verbunden, der sich in ihrer Drogensucht individuell manifestierte. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs (der auch den "sehr weltfernen" Staat Afghanistan erreichte) und der Bruch des Schwurs, keine Drogen auf der Reise zu nehmen) koinzidieren auf unheilvolle Weise. Die "innere Erschütterung" (die ihr als "das Element des Lebens selbst" erscheint) und die äußere Zerrüttung des Weltfriedens werden nach acht langen Monaten eine Reise beenden, die so wunderbar leicht und unbeschwert, so rein poetisch begonnen hatte:

    "Welche Fülle, die Äcker, Weiden und Wälder im Hügelland der italienischen Grenze, die riesigen wogenden Felder an der Donau und bis zu den Toren von Belgrad ... gesegnetes Bauernland ...Brot wurde gebacken, Obst geerntet, Heu eingebracht, und die Viehherden weideten, rote Erde, ein Bergbach, grüne Weiden, weißes Vieh und kahle Hänge."

    "Die unheilbare Reisende" (wie sie sich selbst einmal nennt) bekennt, daß sie oft nicht unterscheiden könne zwischen Geträumtem und Gelebtem, und daß die Reise die Art noch verstärke, in der sie das Leben wahrnehme:

    "ein konzentriertes Abbild unserer Existenz ...Die Reise aber lüftet ein wenig den Schleier über dem Geheimnis des Raums - und eine Stadt magisch-unwirklichen Namens, Samarkand die Goldene, Astrachan oder Isfahan, Stadt des Rosenöls, wird wirklich im Augenblick, da wir sie betreten und mit unserem lebendigen Atem berühren."

    Das Leben selbst erscheint - nach dem Muster der Reise - als eine Anzahl von Episoden. Beide: feingewobene Teppiche, "gnadenlos". Das unbeschreiblich Schöne dicht neben dem abgrundtief Häßlichen und Grausamen. Und dennoch: der Reisende, einer, der unterwegs ist und darin sein Leben sich erfüllen sieht,

    "er geht weiter, einem weiten Horizont entgegen - und versucht, trotz allem, das Leben zu grüßen ..."

    Und mit welch innerer Stärke sie es grüßt! Wie Camus in seinen essayistischen Erzählungen "Hochzeit des Lichts" und "Heimkehr nach Tipasa" oder Elisabeth Eberhardt in ihren Aufzeichnungen Sandmeere öffnet sie sich mit allen Sinnen der Magie der Orte und ihrer Namen. Die Magie der Orte und ihrer Namen und damit verbunden die unbeugsame Reiselust und Neugierde: Wie leben die Menschen, vor allem die Frauen in einem von Männern beherrschten Land? Wo haben sie, die Einheimischen und die Fremden, die es hierher (aus Liebe zu einem Mann) verschlug, ihre Sehnsüchte vergraben? Was denken und fühlen sie hinter ihren Schleiem, die nichts von ihren inneren Bewegtheiten preisgeben?

    "Überall sehe ich dumpfe Knechtschaft, die aus Gottes Geschöpfen freudlose, angsterfüllte Wesen macht ...Ich fühle mich aufgefordert, wieder an die schlichten Ziele eines menschenwürdigen Daseins zu glauben und mich dafür einzusetzen."

    Wenn V.S.Naipaul einmal notierte, der Schriftsteller müssc immer von einer Position der Stärke aus schreiben, dann erfährt diese Aussage, angewandt auf Annemarie Schwarzenbach, eine ganz besondere Nuance, ist sie doch, wegen ihrer Drogenabhängigkeit, überhaupt nicht das Inbild einer ich-starken Frau, und dennoch erfüllt sie in ihrem Schreiben auf geradezu vollkommene Weise diese Forderung, scheint ganz und gar unbestechlich in ihrer Selbstwahmehmung und in ihrem Blick auf das Fremde. Auch wenn ihr der Beruf des Schriftstellers als "beständiges Spiegelbild unseres unerlösten Daseins" erscheint, das sie nicht hinnehmen und ertragen wolle, so entwickelt sie doch, einmal im Schreibfluß, eine große poetische Leichtigkeit, die sich immer wieder vollständig von dem Bild des "unerlösten Daseins" frei macht. Dem entspricht auch ihre innere Freiheit und Stärke, sich nicht im Konkreten zu verlieren, sondern alles Erfahrene auf eine Vision hin zu betrachten und zu deuten. Und so sind denn ihre Aufzeichnungen voll von Beobachtungen des Alltäglichen, Sozialen, Kulturellen und Politischen, die die Zeit überdauert haben, zum Beispiel, wenn sie Afghanistan als "empfindliches Nervenzentrum der Weltpolitik" bezeichnet und den Einmarsch der russischen Armee' befürchtet.

    Ihre Visionen haben immer etwas mit einem Schrecken zu tun, mit der Angst, das Richtige zu verfehlen, fremdbestimmt zu sein - und insofern ist auch der Einmarsch einer fremden Armee in ein geliebtes Land dafür eine Metapher. Sie erinnert sich ihres "Schreckens", in Persien "der asiatischen Ödnis nicht gewachsen" zu sein, ihrer "taumelnden Verzweiflung" und entwirft von sich das Bild einer Reisenden, die "fedemden Schritts unterwegs und frohgemut" ist: "Ich sollte mehr Vertrauen haben in die freundlichen Erdenkräfte und mich sicher und gefeit fühlen beim verwundenden Anblick flammenfarbiger Horizonte."

    Sie hat die Ahnung, "von einem Unglück", einem, "Schicksal" getroffen zu sein, zögert, sich fallen zu lassen: in die "unseligen Sehnsüchte", die "alten Verzauberungen" der "himmelweiten, weltumspannenden Fremde". In dem vom Krieg beherrschten Europa erscheinen ihre Stimmungsbilder einer fremden Welt, ihre poetischen und introspektiven Aufzeichnungen, die man als Seelen-Reportagen bezeichnen könnte, als entrückt und exotisch. Die Dominanz des persönlichen Standpunkts und die literarische Qualität ihrer Texte erfüllen nicht die Erwartungen, die man an Reiseberichte stellte. So verwundert es eher noch, daß überhaupt Teile der Aufzeichnungen und Reportagen erscheinen.

    Ella Meillart ergeht es nicht anders. Als sie (nach Annemarie Schwarzenbachs Tod) in die Schweiz zurückkommt, hat sie außer mit den Verlagen auch noch mit der Mutter der Freundin zu kämpfen, die ihr die Streichung von Passagen vorschreibt, die sie betreffen. Auch verlangt sie, daß ihre Tochter in dem erst 1947 publizierten Band, mit dem bezeichnenden Titel "The cruel way" den Namen "Christina" trägt. In Ella Meillarts Rückblick erscheint diese Reise in die "Schweiz Asiens" (wie man Afghanistan nannte) mehr als ein "psychologisches denn geographisches Abenteuer".

    Annemarie Schwarzenbach, für die Reisen aufs engste mit "Sehnsucht nach dem Absoluten" gebunden war, wollte sich Afghanistan in ihrer Erinnerung bewahren als ein Land, das schon in, "Kindheitsvisionen einer herrlichen, weiten, von Gottes Engeln besuchten Erde" gegenwärtig war: ein "Kindheitsufer", die "versprochene Erde."