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Menschenwürde im Krankenhaus-Alltag

Zur Menschenwürde gehört, dass jeder nach seinem freien Willen handeln darf. Wie ist es aber, wenn bei kranken Menschen der jeweilige Wille gar nicht so leicht zu erkennen ist? Das sind Fragen, mit der Pflegekräfte und Mediziner jeden Tag zu tun haben.

Von Peter Leusch | 11.02.2010
    "Der Bundesgerichtshof hat 2005, glaube ich, entschieden, dass das Legen einer Magensonde gegen den Willen des Betroffenen Körperverletzung darstellt, das heißt sogar grundsätzlich strafbar ist, und dass es gerechtfertigt sein muss, eine solche Magensonde zu legen. Es war ein aufsehenerregender Fall, da gab es auch Strafanzeige gegen die Ärzte, und die Literatur der Jurisprudenz steht heute überwiegend auf dem Standpunkt, dass Magensonden explizit oder zumindest mutmaßlich getragen werden müssten von einer Einwilligung des Betroffenen. Also es gibt keine Pflicht zur Lebensverlängerung um jeden Preis."
    Der Würzburger Strafjurist und Rechtsphilosoph Eric Hilgendorf berichtet von einem bemerkenswerten Umdenken in der Rechtsprechung. Es geht um den Fall der künstlichen Ernährung durch eine Magensonde, insbesondere bei sterbenskranken Menschen.

    Als die Debatte um diese Magensonden einsetzte - erklärt der Medizinethiker Felix Thiele von der Europäischen Akademie in Bad Neuenahr - stand zunächst im Vordergrund die Vorstellung, dass Ärzte möglichst lange und um jeden Preis Leben erhalten sollten. Aber, so Felix Thiele weiter:

    "Langsam hat sich durch eine intensive Diskussion auch die Gegenposition herausgebildet, dass eine Lebensverlängerung um jeden Preis nicht unbedingt angezeigt ist, ... dass ein – wie manche sagen würden – Dahinvegetieren auch menschenunwürdig sein kann."
    "Die Würde des Menschen ist unantastbar." – Artikel 1 des Grundgesetzes gilt unstrittig. Aber wie genau die Menschenwürde zu verstehen und zu wahren ist, darüber gibt es immer wieder Streit. Hier hat der Fortschritt in Wissenschaft und Medizintechnik neben den Errungenschaften, die keiner missen möchte, auch Probleme mit sich gebracht. Denken wir an die Patienten mit Organversagen, die nur unter den Bedingungen klinischer Intensivmedizin weiter am Leben gehalten werden, zum Beispiel Wachkoma-Patienten, die über Jahre auf einem bloß noch vegetativen Niveau existieren.
    Vor allem an den Grenzen des Lebens, wo es um Geburt und Tod geht, spitzt sich die Frage nach Menschsein und Menschenwürde in brisanter Weise zu. Das will die interdisziplinäre Forschergruppe im kommenden Workshop anhand von Fallbeispielen diskutieren, auch aus der Frühgeburtsmedizin, der Neonatologie.

    "Wenn es um die Behandlung zu früh geborener Kinder geht, dann haben wir die Schwierigkeit abgrenzen zwischen einem Leben, das auf jeden Fall erhalten werden muss auf der einen Seite und einer gewissen Bewertung, wie man dieses Leben einschätzt in seiner Qualität. Das ist ein Tabuthema, dass man menschliches Leben in seiner Lebensqualität einschätzt. Im Bereich der Neonatologie aber kommt man ... an solchen Einschätzungen nicht vorbei, und die Frage taucht auf: Ist das noch mit der Menschenwürde noch vereinbar?"
    Der Rechtswissenschaftler Jan C. Joerden von der Viadrina-Universität Frankfurt/Oder, einer der Leiter des Workshops, schildert das moralische Dilemma der Beteiligten: Einen erwachsenen todkranken Menschen könnte man vielleicht noch selbst fragen, oder er hat in einer Patientenverfügung vorab bestimmt, ob und in welcher Weise der Arzt mit den Mitteln der Apparatemedizin sein Leben verlängern oder aber dem Sterben seinen Lauf lassen soll.

    Bei einer Frühgeburt geht das nicht. Umso quälender ist die Frage für Eltern, Angehörige und Ärzte, ob sie einem schwerstgeschädigten Frühgeborenen eine nur medizinisch-technisch getragene und leidvolle Weiterexistenz zumuten dürfen.

    "Das können schwerste Behinderungen körperlicher, geistiger Art, das kann ein Leben sein, das nur sehr kurz dauert überhaupt - auch selbst, wenn man technische und medikamentöse Mittel einsetzt, und es kann natürlich auch ein Leben sein, das mit erheblichen Schmerzen verbunden ist."
    Hier besteht ein moralisches Dilemma für alle Beteiligten. Und gerade in Deutschland muss man an die menschenverachtenden Euthanasieprogramme der Nationalsozialisten denken, die sich zum Herrn über Leben und Tod aufschwangen. Die sich anmaßten zu entscheiden, wer ein Recht auf Leben habe und wer nicht.

    Deshalb stößt die Frage der Sterbehilfe auf eine besondere Empfindlichkeit. Zum Beispiel der Fall des früheren Hamburger Innensenators Roger Kusch, der in Deutschland Sterbehilfe propagiert und auch 2008 in Würzburg selber leistete.

    Eric Hilgendorf:

    "Eine sehr alte Frau bittet Herrn Kusch ihr beim Sterben zu helfen. Er kommt vorbei, stellt ihr ein tödliches Medikament auf den Tisch, verlässt dann den Raum. Sie trinkt es und verstirbt, und die Aufregung in den Medien ist sehr groß, und es wird allgemein davon gesprochen, hier sei die Menschenwürde der alten Dame verletzt worden, das ist fraglich, sie hat ja immerhin eingewilligt in die Medikamentenvergabe, sie hat sogar eigenhändig das Medikament zu sich genommen, getrunken – ist das wirklich eine Menschenwürdeverletzung? Kann man Herrn Kusch vorwerfen, die Menschenwürde der Frau verletzt zu haben?"
    Die Empörung in den Medien und auch in der Medizin rührte auch daher, weil hier ein neues Geschäft mit dem Sterben heraufzieht, das kommerzielle Sterbehilfe im Schnellverfahren anbietet statt Menschen intensiv und wirklich in ihrem Sterben zu begleiten.

    Aber ethisch relevant bleibt gleichwohl die Frage - und hier unterscheiden sich die religiösen und weltanschaulichen Traditionen - ob die Verfügung über das eigene Leben, der Freitod, zum Menschsein und seiner Würde hinzugehört oder nicht.

    "Mit Blick auf die philosophische Tradition kann man Menschenwürde verbinden mit Gesichtspunkten von Autonomie, von Selbstbestimmung, und dann wäre es gerade ein Zeichen von Menschenwürde, eigenständig über den Zeitpunkt des eigenen Todes bestimmen zu können."