Archiv


Mentalitäts- und Konfliktgeschichte

Der amerikanische Historiker James Sheehan beschreibt den Wandel der Mentalitäten und des politischen Denkens in Europa in Bezug auf militärische Gewalt - von der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges bis zum beginnenden 21. Jahrhundert. Wie dachten die Europäer über Krieg und internationale Gewalt? Wie beeinflusste der Verlauf der europäischen Geschichte dieses Denken? Das Buch "Kontinent der Gewalt - Europas langer Weg zum Frieden" stellt Marcus Pindur vor.

    Ausgangspunkt von Sheehans Mentalitäts- und Konfliktgeschichte ist eine persönliche Beobachtung: James Sheehan erlebte die europäischen Protestbewegungen gegen den Irak-Krieg in Europa als Fellow der American Academy in Berlin. Wie kann es sein, so fragte sich damals der Historiker von der amerikanischen Universität Stanford, dass auf dem Kontinent, auf dem 1914 die Massen begeistert und überzeugt in den Krieg zogen, keine 100 Jahre später eine überwältigende Mehrheit Krieg generell als Mittel der Politik ablehnt?

    "Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren sehr viel mehr Amerikaner als Europäer bereit, die Notwendigkeit von Gewaltanwendung zur Lösung internationaler Konflikte zu akzeptieren. Als 2003 der German Marshall Fund Amerikaner befragte, ob sie glaubten, dass Krieg unter bestimmten Umständen notwendig sei, um Gerechtigkeit herzustellen, stimmten 55 Prozent entschieden zu. In Frankreich und Deutschland waren es nur 12 Prozent."

    Für seine Erklärung holt Sheehan bis ins späte 19. Jahrhundert aus. Obwohl die Europäer zwischen 1871 und 1914 in einer nie gekannten, langen Friedensepoche lebten, so war doch der Krieg stets präsent. Die Vorbereitung auf den Krieg war die wichtigste Funktion des Staates. Nicht die einzige, aber diejenige, ohne die alle anderen - wirtschaftliche Prosperität, Rechtssicherheit, und soziale Wohlfahrt - keine Grundlage hatten. Der deutsche Liberale Friedrich Naumann fasste es in die Worte:

    "Was nützt uns die beste Sozialpolitik, wenn die Kosaken kommen?"

    Sheehan, ein Kenner der europäischen Geistesgeschichte, beschreibt allerdings auch einen anderen Strang europäischen Denkens. Ende des 19. Jahrhunderts wurde nämlich zunehmend über Kriegsgefahr und die Notwendigkeit des Friedens diskutiert. Sheehan beschreibt, was das, was in Bertha von Suttners Roman "Die Waffen nieder" als hochmoralischer Appell daherkam, dann später durch einen politisch-technokratischen Strang ergänzt wurde, der die Zerstörungskraft des Krieges betonte und deklarierte: Krieg sei anachronistisch, weil der moderne Krieg auch die wirtschaftliche und soziale Grundlage der kriegführenden Staaten zerstöre. Er kenn somit keine Gewinner, sondern nur Verlierer hervorbringe - so etwa der russische Intellektuelle Iwan Bloch und der damals vielgelesene britische Journalist Norman Angell.

    Aber all dies verhinderte nicht den großen Feuersturm des 20. Jahrhunderts. Sheehan sieht, wie viele andere Historiker auch, den ersten und zweiten Weltkrieg als eng miteinander verbundene Katastrophen an. Erst nach 1945 konnte sich das herausbilden, was der Autor den "Europäischen Zivilstaat" nennt. Gewissermaßen im Windschatten der internationalen Politik und unter dem Schirm der nuklearen Stabilität, die das bipolare System der Blockkonfrontation für die Europäer bot, entwickelte sich eine neue politische Kultur:

    Das internationale System des Kalten Krieges, so Sheehan... "war der Brutkasten für die allmähliche Transformation der westeuropäischen Staaten. Sie wurden zivile Staaten, die zwar die Fähigkeit behielten, gegeneinander Krieg zu führen, aber jedes Interesse daran verloren. Das Ergebnis war ein Untergang der Gewalt im doppelten Sinne: Gewalt verlor an Bedeutung und sie wurde von etwas anderem verdeckt, nämlich der Pflicht des Staates, das Wirtschaftswachstum zu fördern, soziale Absicherung zu bieten, und die persönliche Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten."

    Dies hält Sheehan für nichts weniger als eine Revolution in der europäischen Geschichte. Auch der Historiker Manfred Görtemaker von der Universität Potsdam sieht die lange Friedensepoche in Europa nach 1945. Das gelte zwar auch nicht generell, etwa wenn man den Nordirland-Konflikt oder die sowjetischen Invasionen in den Satellitenstaaten betrachte, aber vor dem Hintergrund des Nuklearzeitalters sei die Kriegs-Führung in Europa zwischen 1945 und Anfang der 90er Jahre fast unmöglich gewesen.

    Aber, so Manfred Görtemaker, Sheehan lasse etwas wichtiges außer Acht:

    "Das galt natürlich nicht für das Verhalten der europäischen Großmächte, das er erstaunlicherweise sehr weitgehend aus dem Blick lässt. Weder das Engagement Frankreichs und Großbritanniens in der Suezkrise 1956, noch die anderen kolonialen Engagements der europäischen Mächte werden von ihm nennenswert thematisiert. Vielleicht mit Ausnahme des Algerien-Krieges. Das Indochina-Abenteuer der Franzosen wird nur gestreift, das Ausgreifen der Engländer in den Südatlantik, der Falklandkrieg wird von ihm nicht thematisiert. Das heißt, er attestiert den europäischen Mächten eine Friedensfähigkeit und -bereitschaft, die der Wirklichkeit nicht standhält."

    Das ist das erste Problem, dass der Historiker Manfred Görtemaker bei Sheehans Buch sieht,...

    Das zweite Problem ist, dass er, in diesem neuen Pazifismus Europas etwas grundsätzlich positives sieht - das kann man in der Tat so sehen - allerdings bedeutet das auch, handlungsunfähig zu sein in internationalen Konflikten und insbesondere gegenüber den großen Mächten. ... Und das haben wir in jüngerer Zeit auf dem Balkan und in Afghanistan schmerzhaft erfahren müssen, dass gerade die Deutschen gezwungen waren, grundsätzlich umzudenken und auch den Militäreinsatz wieder zu erwägen und ihn bis zum Kampfeinsatz zu praktizieren, um nicht tatenlos zu sein gegenüber Anfechtungen des internationalen Systems, an dem wir von uns aus gar nichts ändern können."

    Auch eine Zivilgesellschaft muss sich gegen ihre Feinde behaupten. Man merkt James Sheehan seine Sympathien für das europäische Zivilstaatsmodell an - auch wenn er selbst es mit Fragezeichen versieht. Aber er zieht daraus nicht die Konsequenzen.

    Sheehan zufolge bleiben die Europäer auf die USA angewiesen, weil sie strukturell nicht in der Lage seien, ihre Sicherheit in die eigenen Hände zu nehmen. Ob das nun für die europäische Politik tatsächlich eine Option ist, das müssen die Europäer selber entscheiden. Man muss diese Schlussfolgerungen Sheehans jedoch nicht teilen, um dieses Buch mit großem Gewinn lesen zu können. Es zeichnet eine sehr wichtige Debatte facettenreich nach, über die Rolle der Gewalt, und die Rolle Europas in den internationalen Beziehungen. Wir täten gut daran, sie ohne Tabus, dafür aber mit umso größerem Realitätssinn weiter zu führen.

    James Sheehan: Kontinent der Gewalt - Europas langer Weg zum Frieden. C.H. Beck, 315 Seiten, € 24,90.