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Mexikanische Kunst von 1900 bis heute

Die Ausstellung im Kunsthaus Zürich stößt ein Thema an, das in unserem Kunstbetrieb eher unterrepräsentiert ist: Ein ganzes Jahrhundert mexikanischer Gegenwartskunst.

Von Christian Gampert |
    Der Titel verspricht eine größere Unternehmung, "Posada bis Alÿs" – aber die Ausstellung ist dann eher klein, obwohl sie ein ganzes Jahrhundert abdecken will. Zudem: ist Francis Alÿs nicht Belgier, geboren in Antwerpen? Ist er durchaus, aber er lebt seit 25 Jahren in Mexiko und wird hier gleich in seine Wahlheimat eingemeindet.

    Die Schau speist sich vor allem aus der Sammlung, die der Schweizer Fotograf und Mexiko-Reisende Armin Haab ab den 1940er Jahren angelegt hat. Sie besteht ausschließlich aus Druckgrafik, aus politischer Kunst des frühen 20.Jahrhunderts - und ist hier erstmals ausgestellt; aber die Kuratorin Milena Oehy wollte den Bogen weiter spannen und hat auch Gegenwartskunst mit in die Ausstellung hineingenommen.

    Von Francis Alÿs sieht man etwa fünf kleinformatige, neblig-trübe, leere Ölbilder auf Holz, die einen nahenden Sand- oder Wirbelsturm anzublicken scheinen und in denen programmatisch Worte wie "Resistance", "Abandon" oder "Collapse of Order" aufleuchten. Alÿs hat vor Jahren ein Video über mexikanische Sandstürme gedreht, er wollte ins Auge des Taifuns vordringen, der, wie eine Allegorie des täglichen Drogenkriegs, in der Wüste tobt – und wenn der Wind gerade Pause machte, hat er diese Bilder gemalt.

    Der Sturm, von dem die Ausstellung in der Hauptsache erzählt, ist allerdings sozialer Natur: es geht um die Unterdrückung der Armen durch die mexikanische Oberschicht, um den verzweifelten Kampf der Tagelöhner und Proletarier und den Pomp der Reichen, um Aufruhr und Revolution. José Gouadeloupe Posada, der wesentliche Druckgrafiker der Schau, war – Anfang des 20.Jahrhunderts - eigentlich Karikaturist für Lokalzeitungen; in Mexiko selber würde man ihn heute nicht unbedingt im Kunstkontext sehen, sondern als Klassenkämpfer, der eine gewisse folkloristische Berühmtheit erlangt hat, sagt Kuratorin Milena Oehy.

    "Posada wurde in den 1930iger Jahren wiederentdeckt. Er ist sehr verarmt verstorben, und man kannte ihn dann eigentlich nicht mehr, und ein Franzose (d.i. Jean Charlot), natürlich auch mit einem ganz anderen Kunstverständnis, ist dann nach Mexiko ausgewandert und hat die Werke von Posada wiederentdeckt."

    Um 1910, zum Zeitpunkt der Revolution gegen den Diktator Porfirio Díaz, hatte Posada seine größte Wirksamkeit mit seinen "Calaveras", Skelett-Bildern, die das gesamte gesellschaftliche und politische Leben Mexikos sarkastisch in ein Totenreich verlegten. Vornehme Damen und Großgrundbesitzer, Richter und Pfarrer, Landarbeiter und Revolutionäre: alles nur kostümierte Totenköpfe.

    <im_77855>ACHTUNG: NUR IN ZUSAMMENHANG MIT AUSSTELLUNG IM KUNSTHAUS ZÜRICH</im_77855>Vom expressionistischen Holzschnitt, wie er gleichzeitig in Europa gepflegt wurde, ist das weit entfernt: hier geht es um propagandistische Figuration, die vor allem deshalb als Lithografie, Radierung, Holz- und Linolschnitt gefertigt wurde, weil damit Vervielfältigung und hohe Verbreitung garantiert war. Die Werke erschienen auch in Zeitungen und beförderten natürlich die Mythenbildung: Posadas Kollege Fernando Castro Pacheco schnitt noch 1946 das sagenumwobene Ereignis von 1910 ins Linoleum – "die Familie Serdán eröffnet den Kampf" (gegen den Diktator Díaz, mit Gewehren vom Wohnzimmerfenster aus). Und Leopoldo Méndez verewigte noch in den 50iger Jahren den berühmten Vorfahren Posada bei der Arbeit: rechts tobt der Straßenkampf, mittig ritzt Posada das Ereignis ins Metall, links warten Redakteur und Setzer.

    Wenn man die Blätter der Ausstellung abschreitet, dann fällt nicht nur der sozialkritische Ansatz, sondern auch die heroisierende Ikonografie ins Auge. Ob Landarbeiterführer Zapata oder die "Auflehnung einer Mutter gegen den Krieg": der sozialistische Realismus ist nicht fern. Folter, Tod im Kampf, Vertreibung, Ausweisung, Kindersterblichkeit – das sind die Themen. Dabei verschmelzen aus Europa importierte und einheimische, präkolumbianische Elemente. José Posadas Skelette nehmen durchaus Bezug auf den europäischen Totentanz, aber auch die mexikanische Tradition des "Día de los Muertos" Anfang November scheint hier auf, an dem die Menschen – mit Fotos, Speisen und Getränken – auf dem Friedhof fröhlich ihrer Toten gedenken.

    Auch die Gegenwartskunst bringt den in Mexiko allgegenwärtigen politischen Tod ins Bild: der Maler Carlos Amorales mit seinen rotäugigen Totenköpfen, die wie glühende Lampions und faule Früchte am Baum des Lebens hängen; die Videokünstlerin Teresa Margolles mit der Fahrt eines Wasser spritzenden Tankwagens, der in den USA den Highway 90, die Straße mit den meisten Morden der Waffen- und Drogenmafia, an der Grenze zu El Paso abfährt; und Francis Alÿs mit seinen "Sleepers", Schlafende auf den Straßen von Mexiko City, die ebenso gut Tote sein könnten.

    Im Vergleich zum "Wintermärchen", einer opulenten Schau von Winterbildern seit der Renaissance (im großen Bührle-Saal des Kunsthauses) ist diese Mexiko-Ausstellung eher schmal; aber sie stößt ein Thema an, das in unserem Kunstbetrieb eher unterrepräsentiert ist.