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Michael R. Marrus: Die Unerwünschten. Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert

Guten Abend und herzlich willkommen. Am Mikrophon ist heute Karin Beindorff. Wir widmen uns in dieser Sendung zunächst den europäischen Flüchtlingsströmen des 20. Jahrhunderts, den Unerwünschten, wie ein neues Buch sie bezeichnet. Der Weltmarkt Privathaushalt ist Thema bei uns, Dienstbotenjobs als ökonomische Lebensgrundlage angesichts weltweit steigender Arbeitslosigkeit. Der neue Marsch auf Rom heißt ein unlängst erschienenes Buch über Silvio Berlusconis Griff nach dem Staat. Und zum Schluss beschäftigen uns Thesen zum Zusammenhang zwischen dem islamischen heiligen Krieg und dem Judenhass.

Lothar Baier | 06.01.2003
    Guten Abend und herzlich willkommen. Am Mikrophon ist heute Karin Beindorff. Wir widmen uns in dieser Sendung zunächst den europäischen Flüchtlingsströmen des 20. Jahrhunderts, den Unerwünschten, wie ein neues Buch sie bezeichnet. Der Weltmarkt Privathaushalt ist Thema bei uns, Dienstbotenjobs als ökonomische Lebensgrundlage angesichts weltweit steigender Arbeitslosigkeit. Der neue Marsch auf Rom heißt ein unlängst erschienenes Buch über Silvio Berlusconis Griff nach dem Staat. Und zum Schluss beschäftigen uns Thesen zum Zusammenhang zwischen dem islamischen heiligen Krieg und dem Judenhass.

    Ausdrücke wie «Flüchtlingsströme» oder «Flüchtlingsdramen» sind Ende des 20. Jahrhunderts so sehr Bestandteil des Vokabulars der täglichen Nachrichten geworden, dass man kaum mehr aufhorcht, wenn etwa die Meldung eintrifft, dass wieder einmal ein mit kurdischen Flüchtlingen vollgestopfter Seelenverkäufer an der Küste Italiens gestrandet ist. Flüchtlinge sind zur selbstverständlichen Begleiterscheinung der politischen und ökonomischen Umbauprozesse in der gegenwärtigen Welt geworden, sie gehören dazu wie Tankerunfälle oder Kursabstürze an den Börsen. Allerdings assoziieren die meisten Europäer mit dem Begriff Flüchtlinge Menschen anderer Hautfarben und Kulturen, an die eigene Geschichte denken dabei die wenigsten. Das aber hat der kanadische Historiker Michael Marrus getan und eine historische Untersuchung zum Thema vorgelegt, die nun endlich auch auf deutsch erschienen ist. Lothar Baier hat ‚Die Unerwünschten’ für uns gelesen.

    Das seit Jahren von Medien und Regierungen mit inflationärer Tendenz verwendete Wort «Wirtschaftsflüchtlinge» trägt, während es ideologisch weitere Beschränkungen des Asylrechts atmosphärisch einzuleiten hilft, zur Beruhigung bei, da es zu verstehen gibt, dass hinter diesen Flüchtlingsbewegungen etwas Altbekanntes steckt: jener Erwerbstrieb nämlich, der in den Industrieländern in höchstem Ansehen steht als Motor der Ökonomie. Lassen sich jedoch Bewohner armer Regionen von besseren wirtschaftlichen Aussichten in die Zentren des Reichtums locken, gilt der Erwerbstrieb als äußerst zweifelhaftes Motiv. Höchstens Unterdrückung durch politische oder religiöse Diktaturen genießt als Fluchtgrund eine gewisse Legitimität. Anlass zu differenziertem Nachdenken liefern die gegenwärtigen weltweiten Migrationsbewegungen kaum. Sie werden höchstens zum Anlass genommen, unter populistischer Begleitmusik wahltaktisch, wie gerade in dem traditionellen Asylland Schweiz geschehen, von rechts für neue Maßnahmen zur Grenzsicherung zu mobilisieren.

    Wie gerufen kommt in dieser Situation, in der moralische Appelle an das Mitgefühl der Wohlhabenden ungehört verhallen, eine historische Untersuchung, die aufgrund ihrer Befunde zu ganz neuem Nachdenken über das moderne Flüchtlingsproblem zwingt. «Die Unerwünschten» - «The Unwanted» - hat der kanadische Historiker Michael R. Marrus seine im Untertitel «Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert» genannte und im Original bereits 1985 erschienene Arbeit überschrieben. Wie im Fall der inzwischen als Standardwerk eingestuften Darstellung «Die Zerstörung der europäischen Juden» von Raul Hilberg ist es keiner der etablierten deutschen Verlage gewesen, der sich dieser Arbeit für den deutschen Sprachbereich annahm, sondern ein kleines, als links sich ausweisendes Verlagskonsortium. Dabei ist der Autor Marrus alles andere als ein Außenseiter: Geschichtsprofessor in Toronto und Mitglied der kanadischen «Royal Historical Society», hat er sich in der Fachwelt längst einen hervorragenden Namen erworben.

    Menschen, die vor Krieg, Not und religiöser Verfolgung flohen, so die Feststellung des Autors, hat Europa seit Jahrhunderten, spätestes seit den Religionskriegen gekannt; doch ein Flüchtlingsproblem, das nach supra-nationalen Abkommen und Lösungen verlangte, ist in dieser Form erst im 20. Jahrhundert in Erscheinung getreten. «Flüchtling» war bis zum 19. Jahrhundert lediglich ein Synonym für eine flatterhafte Person. Mit dem französischen Wort «réfugiés» wurden im Deutschen lange Zeit ausschließlich die französischen Protestanten bezeichnet, die nach der Aufhebung des Toleranzedikts im Jahr 1685 in protestantische Länder wie Preußen flohen. Ein «Problem» stellten diese Religionsflüchtlinge für die Aufnahmeländer ebenso wenig dar wie die als «émigrés» bezeichneten, vor der Revolution von 1789 geflohenen französischen Aristokraten, weil diese Neuankömmlinge als Überbringer von Reichtümern und von Wissen oder wenigstens als Arbeitskräfte willkommen geheißen wurden. Das war bei den gemeinhin «Emigranten» genannten Revolutionären des 19. Jahrhunderts, die wie Karl Marx oder Michail Bakunin vor konterrevolutionärer Verfolgung ins Ausland auswichen, in der Regel zwar nicht der Fall, doch waren diese politischen Emigranten zu wenig zahlreich, um die europäischen Aufnahmeländer - hauptsächlich England, Belgien, die Schweiz - vor ernsthafte innere Probleme zu stellen.

    Die erste Massenemigration, die als Flüchtlingsstrom im zeitgenössischen Sinn betrachtet werden kann, betraf osteuropäische, vor allem russische Juden. Zwischen der Ermordung des Zaren Alexanders II. im Jahr 1881, die sogleich, einem eingewurzelten antisemitischen Reflex folgend, mit einer Serie von Pogromen beantwortet wurde, und dem Beginn des Ersten Weltkriegs, resümiert Marrus, verließen etwa zweieinhalb Millionen Juden das Zarenreich Richtung Westen. Solange Amerika als frei zugänglicher Zufluchtsort zur Verfügung stand - was bis 1924 der Fall war, dem Jahr der Schließung von Ellis Island vor den Toren New Yorks - sahen europäische Länder sich nicht veranlasst, den aus Osten kommenden Flüchtlingsstrom durch eine eigene Politik zu kanalisieren. Zu einer spezifischen Flüchtlingspolitik wurden sie erst durch den Ersten Weltkrieg gezwungen, der mit seiner die Zivilbevölkerungen nicht mehr verschonenden Technisierung nie gekannte Fluchtbewegungen in Gang setzte. Bereits am Vorabend dieses europäischen Kriegs hatten die um den Zerfall des Osmanischen Reichs ausgebrochenen Balkankriege zahllose Menschen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten vertrieben.

    Die Flüchtlingsbewegungen auf dem Balkan ... waren ein Nebenprodukt des Prozesses der Staatengründung. Ein Kenner der Flüchtlingsproblematik hat vor einiger Zeit von 'Integrationskrisen' als einem wichtigen Auslöser von Flüchtlingsströmen in der Moderne gesprochen. Mit solchen Konvulsionen meint er die Mobilisierung neuer Staaten zur Erreichung der Ziele der Staatsgründer - Unabhängigkeit, nationaler Zusammenhalt und die Durchsetzung solch nationalistischer Projekte wie die Vereinnahmung begehrten Territoriums.

    Das Kriegsende 1918 bedeutete jedoch alles andere als ein Ende der Fluchtbewegungen in Europa. Der nach der bolschewistischen Revolution ausgebrochene russische Bürgerkrieg trieb unzählige Menschen in die Flucht, darunter viele Juden, gegen die sich vor allem die vom Westen unterstützten anti-bolschewistischen Streitkräfte austobten. In anderen Teilen Europas zogen die Friedensregelungen, denen es zugleich oblag, die Konkursmassen des zerschlagenen Osmanischen Reiches und der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie zu verwalten, Fluchtbewegungen nie gekannten Ausmaßes nach sich: die aus dem Zerfall der Reiche hervorgegangenen neuen Nationalstaaten bildeten sich wortwörtlich auf dem Rücken vertriebener Minderheiten und Gruppen, die nicht ins neue nationale Schema passten.

    Zum ersten Mal in der Geschichte Europas existierte Anfang der zwanziger Jahre in Gestalt des Völkerbundes jedoch eine internationale Organisation, die in der Lage schien, grenzüberschreitende Massenmigrationen zu steuern und Flüchtlinge zu versorgen. Ein Hochkommissariat für Flüchtlinge wurde eingerichtet, dessen erste große Bewährungsprobe die Abwicklung des anderthalb Millionen Menschen umfassenden Austauschs türkischer und griechischer Bevölkerungen war. Dass diese Operation halbwegs gelang, kann Marrus zeigen, lag weit mehr an der angesehenen und energischen Person des zum Hochkommissar ernannten norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen als an der breiten Unterstützung des Flüchtlingsamts durch die Mitgliedsstaaten des Völkerbunds. Marrus unterstreicht, dass diese Unterstützung bereits Mitte der zwanziger Jahre spürbar abbröckelte:

    Die Amerikaner hatten den Völkerbund zu der Zeit, als Nansens Ressort entstand, schon insgesamt verworfen; ein Jahr später machten die Italiener keinen Hehl aus ihrer Ablehnung, als mit dem Aufkommen des Faschismus viele erbitterte Gegner der neuen Ordnung Mussolinis emigrierten. Großbritannien und die Dominions wollten keine Flüchtlinge aufnehmen und befürchteten, dass die Hochkommission die Mitgliedsstaaten dazu zwingen könnte. Nur Frankreich und die skandinavischen Länder boten aufrichtige Unterstützung an.

    Mit seinen zwischenstaatlichen Einrichtungen befand Europa sich selbst in der Krise, als es in den dreißiger Jahren mit dem nächsten großen Flüchtlingsproblem konfrontiert wurde. Flüchtlinge kommen immer zur falschen Zeit, konstatiert der Autor, doch zu einer besonders falschen Zeit kamen die Juden und Hitlergegner, die nach 1933 aus Deutschland und später aus Österreich flohen. Niemand wollte sie haben, selbst das traditionelle Asylland Schweiz führte ein rigoroses Grenzregime ein. Vordergründig gab die fortlaufende wirtschaftliche Krise den Ausschlag bei der restriktiven Handhabung der Immigration, von der man unerwünschten Druck auf den Arbeitsmarkt befürchtete, doch es spielten auch irrationale Motive wie Angst vor mit Flüchtlingen einsickernden Spionen und «fünften Kolonnen» hinein. Sogar das bis dahin offene Frankreich gab einer ans Paranoide grenzenden Fremdenfurcht nach, von der sich die auf die Volksfront folgende antikommunistische Regierung dazu treiben ließ, unterschiedslos geflohene spanische Republikaner, Nazigegner und Hitleranhänger in Lager zu sperren.

    «Unerwünscht» sind sie bis heute, die Flüchtlinge, die Kriegen, Verfolgung und Not zu entkommen versuchen, doch gab es zwischendurch Perioden, geht aus Marrus' Rekonstruktion der europäischen Flüchtlingsgeschichte hervor, in denen die internationalen Organisationen wie die 1945 gegründete UNO mit einigem Erfolg operierten und ihre Mitgliedsstaaten zur Einhaltung von Mindeststandards gegenüber Flüchtlingen verpflichten konnten. Die europäischen Massenmigrationen, die auf das Ende des Zweiten Weltkriegs und den Ausbruch des Kalten Kriegs folgten, konnten, geht aus Marrus' Darstellung hervor, dank gestärkter UNO-Institutionen einigermaßen bewältigt werden. Eine ungetrübte Erfolgsgeschichte mag der Autor dennoch nicht skizzieren. Denn wenn auch die innereuropäische Flüchtlingsproblematik der Vergangenheit angehört, so kann man angesichts der Bewertung und Behandlung derzeitiger außereuropäischer Fluchtbewegungen Zweifel haben, ob die Europäer aus ihren eigenen vergangenen Versäumnissen gelernt haben. Marrus' reich dokumentierte, rundum zur Lektüre zu empfehlende Erinnerung an die weithin in Vergessenheit geratene europäische Flüchtlingsgeschichte stellt den Europäern kein Ruhmesblatt aus. Gerade weil der Kontinent über einmalige Erfahrungen mit Fluchtbewegungen und Fluchtgründen verfügt, gibt Europa mit neuen Formen von Abschottung und Xenophobie und mit dem halsstarrigen Unwillen, die neuen weltweiten Fluchtbewegungen als eigene Realität anzuerkennen, dem Rest der Welt ein schlechtes Beispiel.

    Lothar Baier besprach: Die Unerwünschten. Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert von Michael R. Marrus, aus dem Englischen übersetzt von Georg Deckert. Es ist im Verlag Assoziation A erschienen, hat 455 Seiten und kostet 12 €.