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Migranten in Deutschland
Integrieren, Chancen nutzen

Jeder Fünfte in Deutschland hat mittlerweile einen Migrationshintergrund. Die neue Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung hat nun untersucht, wie es um die Integration von Ausländern in Deutschland steht und welches Potenzial in den Zuzüglern steckt. Ein Fazit.

Von Michael Roehl | 05.06.2014
    Demonstranten protestieren in Berlin für das Wahlrecht für Migranten.
    Sie leben hier, wählen dürfen sie aber nicht: Migranten in Deutschland. (picture alliance / dpa / Foto: Soeren Stache)
    "Neue Potenziale aus einem Grund. Wir hatten immer wieder Zuwanderungswellen in Deutschland gehabt. Im Moment erleben wir wieder solche eine Welle durch die Krise in den südeuropäischen Ländern und durch die neue Reisefreizügigkeit mit Bulgarien und Rumänen und der guten Arbeitsmarktsituation in Deutschland und das lockt sehr viele Menschen an und darunter sind sehr viele gut qualifizierte Personen."
    Reiner Klingholz, Chemiker und Journalist von Beruf und seit 2000 der Leiter des Berlin-Institutes für Bevölkerung und Entwicklung.
    "Der Akademikeranteil unter den Zuwandern, die im Moment kommen, ist doppelt so hoch wie in der einheimischen Bevölkerung. Diese Personengruppen werten den Arbeitsmarkpool erheblich auf und sie tragen zu den hohen Steuereinnahmen und zu den hohen Beschäftigungszahlen bei. Das sind die neuen Potenziale."
    Jeder in Deutschland lebende Ausländer sorgt gegenwärtig etwa für einen Beitragsgewinn von 2.000 Euro pro Jahr für die öffentlichen Kassen – vor allem, weil die Migranten jünger sind als die Deutschen. 2013 erzielte Deutschland ein Einwanderungsplus von 440 000 Menschen. Damit landete es weltweit auf dem Platz zwei der größten Einwanderungsländer – noch vor Kanada und Australien, den klassischen Zielen für Migranten. Diesen Erfolg allerdings findet Reiner Klingholz trügerisch. Denn was diese, jetzt in Deutschland gestrandeten "neuen Migrations-Potenziale" auszeichnet ist eines: Sie sind hoch mobil:
    "Die können heute in London, morgen in Paris und übermorgen in Berlin arbeiten. Die gehen dorthin, wo sich ihnen die besten Chancen bieten. Das sind nicht unbedingt Leute, auf die man dauerhaft bauen kann. Dafür müsste man andere Integrations- und Willkommenskultur-Bedingungen bieten, weil wir brauchen ja mehr dauerhaft Mitbürger in Deutschland, weil die demografische Entwicklung dafür sorgt, dass die einheimische Bevölkerung heute stark schrumpft und in Zukunft stärker schrumpfen wird."
    Gerade deshalb schaut sich das Berlin-Institut inzwischen im Fünf-Jahres-Rhythmus die Zahlen zur Integration an: Wie sieht es mit der Erwerbsbeteiligung und der Bildung der Migranten aus? Wie viele Menschen leben von der Absicherung und was fließt durch sie in die Sicherungssysteme? Wie nähern sich die Lebenswelten von Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern denen der Deutschen an und erreichen auch sie mittlere und höhere Lebenslagen, was ihr Lebensniveau anbelangt?
    Diese Zahlen verraten: Die jüngsten Zuwanderer werden nicht jene sein, die die Lücken im demografischen Lebensbaum der Deutschen schließen. Erfahrungsgemäß kehren zwei Drittel dieser "mobilen Migrationselite" Deutschland wieder den Rücken. Gerade deshalb ist es wichtig auf jene zu schauen, die bleiben:
    "Ich bin Deutsche geworden und ich habe meinen türkischen Pass zurück gegeben und wollte das bei meiner Arbeitsstelle das feiern, dass ich jetzt Deutsche bin und bin dann mit Kuchen zu meiner Arbeitsstelle gegangen und alle waren beklommen. Die sagten dann, du bleibst doch immer Türkin. Die konnten damit gar nicht umgehen, dass ich das jetzt feiern will, Deutsche zu sein."
    Ümit Yüzen ist eine von 39 Prozent türkischstämmigen Migranten, die inzwischen mit einem deutschen Pass unter uns leben. Mit vier Jahren kam sie als Tochter von Gastarbeitern nach Schwaben. Ihr Vater, der nur drei Jahre die Schule besuchte, drängte auf eine gute Ausbildung seiner Kinder. Ümits Lebensweg ist typisch für in Deutschland sozialisierte türkische Mädchen. Ihnen gelingt es viel eher als den Jungen, die Bildungsbenachteiligung ihrer Eltern zu kompensieren. In der Regel müssen sie früh Verantwortung für die Familie übernehmen und streben gerade deshalb nach mehr Freiheit und Bildung. Mehr als 25 Prozent von ihnen macht Abitur.
    Das ist ein Erfolg – auch wenn es noch fast ein Drittel weniger ist als bei den Einheimischen. Yümet Yüzen studierte nach dem Abitur. Ihre Arbeit aber hat sie auch ihrer Herkunft zu verdanken.
    "Ich bin nicht in dem Bereich tätig, in dem ich studiert habe. Ich habe Germanistik studiert, war lange im sozialen Bereich, Arbeit mit türkischen Eltern, untersucht hat, was diese Eltern brauchen, also sozusagen immer im interkulturellen Bereich."
    2,9 Millionen aus der Türkei stammende Frauen und Männer leben gegenwärtig in Deutschland. Knapp die Hälfte von ihnen fühlt sich in der Gesellschaft weniger anerkannt als jemand, der aus Deutschland stammt. Keine andere Migrantengruppe hat ein so
    schlechtes Bild von ihrem Platz in der Gemeinschaft.
    Um einzuschätzen, wie Menschen nichtdeutscher Herkunft in Deutschland integriert sind, entwickelte das Berlin Institut einen eigenen Index, den Integrationsindex IMI
    Wo es darum geht, an Hand von 15 Indikatoren, die sozioökonomische Integration zu messen. Es geht also um eine rein strukturelle Integration, weil das sind die Daten, die der Mikrozensus her gibt und wir gehen davon aus, dass Integration dann erreicht ist, wenn der Durchschnitt einer Migrantengruppe sich dem Durchschnitt der einheimischen deutschen Bevölkerung annähert. Dann ist Integration geglückt.
    Franziska Woellert ist Soziogeografin am Berlin-Institut und Autorin der aktuellen Studie. Für ihre Analyse nutzte sie die Daten des Mikrozensus aus dem Jahre 2010. Seit 2005 wird bei dieser statistischen Erhebung nicht mehr nur zwischen Deutschen und Ausländern unterschieden, sondern auch nach der Zuwanderungsgeschichte gefragt. Die Situation von Flüchtlingen in Deutschland wird mit diesen Daten nicht untersucht.
    Dabei wird auch diesmal deutlich: Massive Probleme bei der Integration bleiben erhalten. Beispielsweise haben weiterhin jeder fünfte aus der Türkei zugewanderte Mann und jede dritte Frau weder einen Schul- noch einen Ausbildungsabschluss. Entsprechend schwierig ist es, eine Arbeit zu finden.
    Allen Bildungs- und Integrationsprogrammen der jüngsten Zeit zum Trotz: In Deutschland holt die zweite und dritte Einwanderer-Generation nicht in dem gewünschten Maße die Bildungsbenachteiligung der Eltern auf. Noch klarer als bisher muss der enorme Unterstützungsbedarf anerkannt werden, der bei den Kindern und Enkeln der einstigen Gastarbeiter besteht.
    Immerhin haben sieben Prozent der Kinder unter 15 Jahren einen türkischen Migrationshintergrund. Viele von ihnen kämpfen mit allen drei bekannten Risikolagen, die ein Weiterkommen im deutschen Bildungssystem erschweren: Oft sind beide Elternteile erwerbslos. Oft haben beide maximal einen Hauptschulabschluss. Obendrein liegt das Haushaltseinkommen der Familie häufig unterhalb der Armutsgrenze. Bildung bleibt für sie der Schlüssel, sagt Franziska Woellert:
    "Da muss man bei der frühkindlichen Bildung anfangen und nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen, wo man integrationspolitisch zu wenig gemacht hat und die Migranten sich überlassen hat./Vor allem muss sich etwas in der Qualifizierung der Lehrer und Erzieher noch mehr tun. Denn die sind häufig gar nicht darauf vorbereitet, in Erziehungseinrichtungen zu arbeiten, wo über 90 Prozent der Kinder nicht Deutsch spricht. Da halt mehr Menschen mit Migrationshintergrund in die Berufe zu bekommen, als auch die Ausbildung - wie gehe ich mit Diversität der Kinder um und wie fördere ich die richtig -, da muss sich auf jeden Fall mehr tun."
    Für ihre Studie untersuchte Franziska Woellert acht Migrantengruppen: Jene aus den 27 EU-Ländern, aus Südeuropa und der Türkei. Sie schaute auch auf die Situation der Aussiedler, jener Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien sowie den Zugewanderten aus dem Nahen Osten, aus Afrika und dem Fernen Osten. Gerade Menschen aus China, Indien und Sri Lanka, häufig junge Männer, suchen nach dem Studium in Deutschland Arbeit. Doch auch wenn diese Gruppe teilweise höher qualifiziert ist als die einheimischen Deutschen – das ist keine Garantie für einen Integrationserfolg.
    "Bei der Integration in den Arbeitsmarkt haben es die Menschen aus dem Fernen Osten auch nicht so einfach. Die Anerkennung von Bildungsabschlüssen ist ja in Deutschland etwas relativ Neues. Wir haben zwar das neue Gesetz, aber das muss erst noch umgesetzt werden. Also da ist die Erwerbslosenquote unter Hochgebildeten gerade bei Migranten aus Drittstaaten relativ hoch."
    Diese Fakten weisen deutlich auf immer noch bestehende Hürden der Integration in Deutschland hin. Es fehlt ein klares Konzept, wie dem Fachkräftemangel der Zukunft entgegen gewirkt und Zuwanderung gefördert werden soll, meint die Autorin der neuen Studie. Noch behindert die Bürokratie Ausländer dabei, in Deutschland Fuß zu fassen. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung empfiehlt deshalb ein überschaubares und nachvollziehbares Monitoringsystem, das vor allem Entwicklungstendenzen beschreibt und eine klare Grundlage für politische Entscheidungen sein kann. Dann könnte Deutschland tatsächlich ein attraktives Zuwanderungsland auf Dauer werden.