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"Mir fällt zu Hitler nichts ein.“

Mit der einzigartigen Einmannzeitschrift "Fackel" erwarb sich Karl Kraus den Ruf des großen Moralisten und Satirikers seiner Zeit. Er war ein Einzelkämpfer, der als einer der ganz Wenigen sofort bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs gegen den Krieg agitierte. Legendär wurden seine Vortragsabende, die zu den herausragenden kulturellen Ereignissen der zwanziger Jahre gehörten.

Von Helmut Böttiger | 12.06.2011
    Qualtinger liest Karl Kraus:

    Wien. Ringstraßenkorso. Sirk-Ecke. Ein Sommerfeiertagabend. Leben und Treiben. Es bilden sich Gruppen. Ein Zeitungsausrufer:
    Extrapapier: Ermordung des Thronfolgers. Der Täter verhaftet.
    Ein Korsobesucher zu seiner Frau:
    Gottlob kein Jud!
    Seine Frau:
    Komm nach Haus'!
    Sie zieht ihn weg.


    So beginnen die "Letzten Tage der Menschheit", die berühmte "Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog " von Karl Kraus, die nie dazu gedacht war, wirklich aufgeführt zu werden. Kraus hat kurz nach dem Ersten Weltkrieg viele kleine Szenen zusammengestellt, in denen die Dekadenz der Habsburgermonarchie grell zum Ausdruck kommt, die Verlogenheit der Aristokratie und des Militärs, die Doppelmoral, das Heuchlertum. Gedruckt wurde das Stück in Sonderheften der Zeitschrift "Die Fackel", die Karl Kraus herausgab. Sie war ausschließlich in Tabakläden erhältlich und enthielt nur vom Herausgeber geschriebene Texte oder von ihm zusammengestellte Materialien und Dokumente. Kraus ließ sich nie für eine Ideologie vereinnahmen und analysierte sehr früh die Herrschaftssprache der Presse - auf sarkastische und unbestechliche Art und Weise. Seine Vortragsabende bezeichnete er als "Theater der Dichtung", und sie können als Vorläufer heutiger literarischer Performance gelten. Es gibt ein Tondokument aus dem Jahr 1934, in dem er den Ausschnitt "Die Raben" aus den "Letzten Tagen der Menschheit" liest, darstellt und inszeniert - da kann man seine ganze Wirkungsmächtigkeit erahnen:

    Aus Anna Blume trifft Zuckmayer:
    Die Klänge erheben sich während des folgenden Chansons zu furchtbarer Musik. Auf dem Monte Garniele. Zu einem hohen Haufen geschichtet unbegrabene halbverweste Leichen. Ein Schwarm von Raben umkreist krächzend die Beute. Die Raben singen:
    Immerdar unsere Nahrung
    die hier, die um Ehre starben
    haben eure Herzensbahrung.
    Macht, dass Raben nimmer darben.
    Hier, die wir uns nie bewarben
    Nahrung haben wir erworben.
    Ihr nicht, wir nicht dürfen darben.
    Euch und uns sind sie verdorben.


    "Die letzten Tage der Menschheit", Kraus' gewaltiges Antikriegsmonument, ist eine Großcollage: etwa 500 gefundene und erfundene Personen treten auf, an den verschiedensten Orten. Vieles davon hat Kraus Zeitungen entnommen, und auch die "Fackel", seine Zeitschrift, lebte von der entlarvenden Technik des Montierens und Collagierens vorgefundener Texte. Damit arbeitete der Publizist Kraus mit denselben avancierten Formen der literarischen Moderne, die in dieser Zeit entstanden. In den späten zwanziger Jahren kam es deshalb fast zwangsläufig zu einer Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht. Kraus teilte auch dessen Nähe zum Kommunismus, blieb aber dennoch ein undogmatischer Intellektueller, der nicht einzuordnen war. Er lehnte vordergründige Propaganda ab. Als Hitler an die Macht kam, erschien die "Fackel" lange nicht, erst Ende 1933 gab Kraus wieder eine Nummer heraus. Er veröffentlichte hier sein zehnzeiliges Gedicht "Man frage nicht", in dem es hieß: "Ich bleibe stumm". Auch der erste Satz seines großen Essays "Dritte Walpurgisnacht", den er unter dem Eindruck des Nationalsozialismus schrieb und in dem er seine eindeutige Position gegen Krieg, gegen nationalistische und völkische Ideologie, gegen den Irrationalismus darlegte, steht in diesem Zusammenhang. Er lautet: "Mir fällt zu Hitler nichts ein." Daraus entspinnt sich dann eine lange, verzweifelte, wütende und pointierte Polemik gegen die Dummheit und die Verführbarkeit der Massen. Kraus starb, noch vor dem so genannten "Anschluss" Österreichs, im Alter von 62 Jahren am 12. Juni 1936. Er hatte schon lange vorher die Kalamitäten des österreichischen Innenlebens heraufbeschworen und die Gefahren deutlich benannt - schon in seiner Charakteristik des fälschlicherweise immer so nostalgisch gezeichneten Kaisers Franz Joseph. Wenn Helmut Qualtinger diese Szene aus den "letzten Tagen der Menschheit" liest, wird der klare Blick des großen Satirikers Karl Kraus deutlich.

    Qualtinger liest Karl Kraus:

    Der Kaiser spricht aus dem Schlaf:
    Justament nicht! Grad nicht! Ich mach keinen Frieden mit die Katzelmacher! Meine Ruh will ich haben!