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Miraculin: Wenn Zitronensaft wie Honigwein runtergeht

Das Molekül dieser Woche heißt Miraculin. Nein! Das ist keine Zutat im Zaubertrank eines gewissen gallischen Druiden. Miraculin kommt nicht in Misteln vor, sondern in den rot glänzenden Früchten der Wunderbeere, einer westafrikanischen Strauchart.

Von Volker Mrasek | 16.11.2011
    Pflanze und Proteinmolekül tragen ihre Namen nicht zu unrecht: Wenn man die Früchte zu sich nimmt, schmeckt noch so Saures plötzlich süß. Deshalb interessiert sich auch die Aromenindustrie für Miraculin.

    Ley: "Das ist ein typischer Sensoriktest."

    Backes: "Bei dem Stoff ist es so, da spürt man eigentlich keine Bitternote."

    Ley: "Und zwar ein Vergleichstest."

    Backes: " Aber man hat einen süßen Nebengeschmack, den man feststellen kann."

    Ley: "Zip and spit."

    Backes: "Das gehört dazu."
    Ley: "Einschlürfen und ausspucken."

    Eine Routine-Prozedur bei der Symrise AG in Holzminden, einem führenden Duftstoff- und Aromenhersteller. Stofflösungen werden nach ihrem sensorischen Eindruck bewertet. Macht man das mit Miraculin, dann, weiß der Chemiker Jakob Ley aus eigener Erfahrung, passiert erst einmal nichts Ungewöhnliches:

    "Miraculin selber schmeckt mehr oder weniger nach nichts."

    Und dennoch vollführt das Protein Wundersames mit unserem Geschmack. Es stellt ihn förmlich auf den Kopf:

    "Wenn man hinterher was Saures zu sich nimmt, irgendeine Säure: Essig-, Ameisensäure, Zitronensäure, egal was - es wird süß statt sauer. Und das Molekül heißt nicht umsonst Miraculin."

    Miraculin ist also ein wahrer Geschmacksverdreher. Doch wie kann die Natursubstanz unsere Sinne dermaßen täuschen? Dieses Glykoprotein, das aus über 190 Aminosäuren besteht und gewissen Anteilen Zucker?

    Nun, weder Miraculin noch Säuren sind eigentlich imstande, die Süßrezeptoren in unserem Mund zu reizen. Gemeinsam kriegen sie das aber hin. Die Säure gibt Protonen an Miraculin ab. Dadurch verformt sich das Protein und passt plötzlich in die Bindungstasche des Rezeptors, die eigentlich Stoffen mit süßem Geschmack vorbehalten ist. Ley:

    "Das kann man sich vielleicht ein bisschen wie eine Klammer vorstellen das Molekül, ganz grob gesprochen. Diese Klammer bildet sich aber erst durch die Zugabe der Säure. Und diese Klammerung führt dazu, dass der Süßrezeptor aktiviert wird."

    Solch ein Geschmackswandler wäre für die Lebensmittelindustrie durchaus interessant, sagt Chemiker Ley. Man könnte ihn zum Beispiel Joghurts zusetzen, die nach dem Vergären reichlich Milchsäure enthalten, und sie so ohne Zucker süßen. Theoretisch jedenfalls. In der Praxis sieht es anders aus:

    "Das ist zwar ein sehr schöner Effekt, dass man Säure in Süß umwandelt, aber er dauert sehr lange, dieser Effekt. Das heißt, man hat dann eben unter Umständen bis zu einer Stunde oder länger eben diesen Effekt sauer in süß. Und das ist dann auf einmal nicht mehr besonders angenehm. Wichtig scheint es auch zu sein, dass man erst das Miraculin, hinterher die Säure in den Mund bekommt. Und das ist natürlich für eine Anwendung nicht optimal."

    Dennoch gibt es Versuche, die westafrikanische Wunderbeere zu kultivieren. In Europa ist sie zwar nicht zugelassen. Im Internet aber bieten Firmen Miraculin an, als getrockneten Extrakt in Pulver- oder Tablettenform und natürlich zu Mondpreisen.

    Offenbar ist der Geschmackswandler der letzte Schrei auf mancher Party, bei der die Gäste ihr süßsaures Wunder erleben.