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Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach
Aufarbeitung von etwas Unbegreiflichem

In Bergisch Gladbach deckte die Polizei Ende Oktober vergangenen Jahres wohl einen Fall von schwerem Kindesmissbrauch auf – und brachte einen Ermittlungskomplex ins Laufen, dessen ganze Dimension immer noch nicht absehbar ist. Nun beginnt der Strafprozess gegen den damals entdeckten Tatverdächtigen.

Von Moritz Küpper | 17.08.2020
Das Gebäude des Land- und Amtsgerichtes, aufgenommen am 21.09.2016 in Köln (Nordrhein-Westfalen).
Das Gebäude des Land- und Amtsgerichts in Köln (picture alliance / dpa / Henning Kaiser)
Der Pressesprecher des Landgerichts Kölns, Jan Orth, steht – wenige Minuten vor dem eigentlichen Prozessbeginn am vergangenen Montag – vor dem mehr als 20-geschossigen Gerichtsgebäude:
"Es ist leider so, dass in der Strafsache gegen Jörg L. heute nicht verhandelt werden kann. Es hat im zweiten Untergeschoss des Landgerichts in einem Kälteraum einen Brand gegeben."
Der angeklagte, 43-jährige Familienvater befand sich da schon im Gerichtsgebäude. Doch der Prozessbeginn platzte. Nun soll er sich ab heute vor Gericht verantworten. Noch einmal Gerichtssprecher Orth:
"Dem Angeklagten wird schwerer sexueller Missbrauch von Kindern in 79 Fällen beziehungsweise vergleichbare Delikte aus dem Bereich zur Last gelegt. Die gravierendsten Anklagepunkte betreffen 70 Fälle zur Lasten der eigenen 2017 geborenen Tochter. Hierbei soll es in 61 Fällen nach der Anklagschrift zu körperlichen sexuellen Handlungen von einiger Erheblichkeit gekommen sein."
87 identifizierte Beschuldigte
Die Hausdurchsuchung, die Daten auf seinen Geräten, die Verbindungen zu anderen mutmaßlichen oder auch schon verurteilten Tätern, lösten den sogenannten Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach im Oktober des vergangenen Jahres aus. Seit Monaten arbeiten nun – in der Spitze mehr als 300 Ermittlerinnen und Ermittler, der BAO Berg, der Besonderen Aufbauorganisation Berg – an der Aufklärung dieser Fälle. Es geht noch immer darum Gefahren abzuwehren, sprich Kinder zu retten. Opferschutz vor Strafverfolgungen nennen sie das selbst. Die Zwischenbilanz: Mehr als 30.000 Tatverdächtige, alle Bundesländer sind betroffen, auch das Ausland, erst kürzlich wurde ein Mann aus Frankreich festgenommen. Es gibt 87 identifizierte Beschuldigte, 48 Opfer zwischen drei Monaten und 15 Jahren. Nun also der Prozess gegen Jörg L., noch einmal Gerichtssprecher Orth:
"Der Angeklagte hat sich im Ermittlungsverfahren nicht zur Sache eingelassen. Er hat allerdings an der Identifizierung von Chatpartnern mitgewirkt. Für den zweiten Hauptverhandlungstag ist von dem Verteidiger eine Einlassung zur Sache angekündigt."
Es wird damit gerechnet, dass diese Einlassung aus Jugendschutzgründen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Monika Müller-Laschet, die Anwältin der Nebenklage, die die Mutter und somit auch das Kind vertritt, machte deutlich:
"Mein Ziel ist es vor allen Dingen, die Privatsphäre der Mandantin zu schützen und eben zu verhindern, dass sie eben durch andere Medienvertreter dann befragt wird."
Sicherungsverwahrung möglich
Nach dem Auftakt heute, soll es am Mittwoch weitergehen, so Gerichtsprecher Orth:
"Es sind elf Hauptverhandlungstage vorgesehen, an denen werden insbesondere Zeugen gehört, also mögliche Mittäter und selbstverständlich die Kindesmutter, der nach der Anklage missbrauchten Tochter. Darüber hinaus gibt es ein psychiatrisches Sachverständigen-Gutachten über die Neigungen des Angeklagten und Selbstverständlich zur Frage, ob hier auch eine Sicherungsverwahrung in Betracht kommt."
Einen Teil der Taten soll der Mann gemeinsam mit einem Chatpartner aus Kamp-Lintfort begangen haben. Dieser ist mittlerweile zu zehn Jahren Haft verurteilt und in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen worden. Es war das erste Urteil in dem Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach und ein ähnliches Strafmaß steht auch nun im Raum: Bis zu 15 Jahre Freiheitsstrafe, zudem eben die Anordnung einer möglichen Sicherungsverwahrung.