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Misshandelte Jugend

"Precious, das Leben ist kostbar", ist eine Feier des Lebens, darin also uramerikanisch, ein Kampf gegen herrische Gewalt, eine Feier der Freiheit und der Ermutigung. Die Begeisterung für den Film wird allerdings keineswegs von allen Schwarzen geteilt.

Von Rüdiger Suchsland |
    "Ich heiße Clarice Precious Jones. Ich hätte gern 'nen Freund mit heller Haut und richtig schönen Haaren. Und ich will aufs Cover von irgendso 'nem schicken Magazin. Aber zuerst will ich bei 'nem Video mitmachen, wie sie immer im Fernsehen laufen. Momma sagt, ich kann nicht tanzen. Und dann hat sie noch gesagt, meinen dicken Arsch will eh keiner tanzen sehen."

    "Precious" ist das, was man früher einen "Problemfilm" genannt hat. Er handelt von einem 16 Jahre alten Mädchen, dass unglaublich fett ist, körperlich abstoßend, geistig beschränkt, eine Analphabetin. Die Familienverhältnisse, in denen sie lebt, sind mit "asozial" noch freundlich umschrieben. Sie sind einfach eine Katastrophe: Die Mutter hält sie wie eine Sklavin, misshandelt sie mit Tritten und Schlägen mit der Bratpfanne, von ihrem Vater wie der Mutter wird sie vielfach vergewaltigt. Sie hat AIDS. Als sie von ihm zum zweiten Mal schwanger wird - wie gesagt: Mit 16! - fliegt sie von der Schule. Das Grauen, und die Tristesse, die diese Claireece erleben, grenzt an eine Karikatur:

    "Schule ist jetzt Scheißdreck. Schieb' Deinen Arsch gefälligst zur Fürsorge. Du hättest mal Dein verdammtes Maul halten sollen. Nur weil er Dir mehr Kinder gemacht hat, als mir, denkst Du, Du bist was Besonderes. Fick Dich und ihn gleich mit Komm runter Du Stück Scheiße. Schleppst Du mir diese weiße Fotze ins Haus."

    "Precious" ist aber auch ein Kultfilm. Denn er geizt nicht mit harten Reizen, mit grellen Effekten. Eine Geisterbahn des Elends, allerdings eine, deren grelle Bilder nicht verdecken, dass die Geschichte, die hier erzählt werden soll, eine höchst erbauliche Moral hat: Indem Precious lesen und schreiben lernt, erhält sie Möglichkeiten, sie auszudrücken. Und in dem sie sich auszudrücken lernt, beginnt sie Distanz zu ihrem fürchterlichen Schicksal zu entwickeln.

    Nichts ist gegen solche Moral. Sie ist nur wahnsinnig politisch korrekt, und daher auch ziemlich langweilig.

    Vor allem ist "Precious" wie am Reißbrett entworfen. Underdogkino aus dem Labor, gemacht von der neuen schwarzen Oberklasse, die sich im Amerika schon vor Obama etabliert hat: Die schwarze Talkshow-Queen Oprah Winfrey ist Produzentin des Films, die Schriftstellerin Sapphire, Autorin des Buches "Push", das bereits 1996 erschien und die Vorlage des Films bietet, begann zwar vor 25 Jahren als Sozialarbeiterin, ist aber längst renommierte Autorin des New Yorker, Regisseur Lee Daniels ist Produzent von Halle-Berrys Filmen, und in Nebenrollen sind in "Precious" unter anderem die schwarzen Musik-Weltstars Lennie Kravitz und Mariah Carey spielen mit.

    Und Hauptdarstellerin Gabourey Sidibe war inzwischen in jeder Talkshow der Staaten und auf fast jedem Glamourmagazin auf dem Titelblatt.

    Die Leistung dieses Films, der bei der Oscarverleihung vor einigen Wochen gleich zwei Preise gewann, bleibt allerdings, dass er beim Zuschauer Interesse und vielleicht sogar Anteilnahme an einer Art Mensch vermittelt, um die man gewöhnlich einen großen Bogen macht.

    Mädchen wie Precious seien unsichtbar, sagt die Schriftstellerin Sapphire. Diese Anteilnahme gilt allerdings einer Kunstfigur. Die einstige Sozialarbeiterin Sapphire hat sie aus diversen Fällen zusammengesetzt, die ihr während ihrer Arbeit im Harlem der 80er-Jahre begegneten.

    Zugleich ist es nicht so sehr die Welt des schwarzen Amerika, die hier ausgestellt wird, als die Welt des zurückgeblieben Amerika, jener Leute, die an Fast Food aufgedunsen, an Unbildung dumm geworden, sozial wie moralisch verwahrlost:

    "Du bist dumm geboren. Aus Dir wird doch sowieso nichts. Kein Schwein will Dich und kein Schwein braucht Dich. Du kriegst doch sowieso nichts auf die Reihe, außer mit Deinem Alten zu ficken. Und dann kriegst Du auch noch zwei verdammte Kinder. Und die eine ist auch noch 'ne Missgeburt."

    So etwas kommt gerade bei gebildeten Wohlstandsbürgern gut an, sie können sich dann schön gruseln und gleichzeitig als etwas Besseres vorkommen.

    Die Begeisterung für den Film wird daher auch keineswegs von allen Schwarzen geteilt. Der Kritiker Armond White verglich "Precious" mit der rassistischen "Geburt einer Nation" von Griffith. Die Washington Post schrieb, der Film habe "so viel sozialkritischen Wert wie ein Pornofilm". Und die New York Times warf dem Film eine "stereotype Vorstellung von den Afrikanern als primitiven und naiven, wenn auch mit erstaunlichem Talent für Tanz und Gesang begnadeten Menschen" vor.
    Die positivsten Figuren im Film sind denn auch die Schwarzen mit der hellsten Haut und die Stars mit dem größten Starfaktor: die spröde Sozialarbeiterin Miss Weiss (grandios gespielt von Mariah Carey), der Krankenpfleger John McFadden (Lenny Kravitz) und die Lehrerin (Paula Patton) – das schmeichelt nicht nur dem weißen Publikum.

    Das alles heißt nicht, dass der Film die Oscars und das Lob gar nicht verdient hätte. Es heißt nur, dass man die Begeisterung etwas relativieren sollte. Und es heißt allerdings auch, dass man die kulturellen Klischees des Films nicht übersehen sollte. Wer den Film mit kritischem Blick und ein wenig Distanz anschaut, kann in "Precious" vieles finden.

    Vielleicht erzählt Precious allerdings weniger von der Lage der meisten Schwarzen in Amerika, sondern mehr über das Denken und die Haltung der neuen schwarzen Elite in Obamas Amerika.