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Mit Diplomatie gegen Familienfehden

Das Massaker an 44 Menschen im anatolischen Dorf Bilge hat erneut den Blick auf das Problem der Blutrache gelenkt, denn in vielen kurdischen Dörfer herrschen immer noch überkommenen Gesellschaftsstrukturen, die im Kurdenkonflikt ihre tägliche Nahrung finden. Seit mehr als 30 Jahren zieht der Rentner Sait Sanli über die Dörfer Anatoliens, um den teils brutalen Traditionen friedliche Mittel entgegenzusetzen.

Von Gunnar Köhne |
    Wenn Fatih und Sabahat Hand in Hand spazieren gehen, dann entfernen sie sich nie weit von ihrem Haus. Die beiden Jugendlichen sind frisch verheiratet - und auf der Flucht. Denn die Familie des Mädchens hat Fatih als Schwiegersohn abgelehnt und droht den beiden mit dem Tod.

    Weil Fatih nur ein mittelloser kurdischer Hirtenjunge ist, wollten Sabahats Eltern, auch sie Kurden, diese Ehe verhindern. Sie brachten ihre Tochter aus dem Südosten der Türkei nach Istanbul. Doch die Liebe der beiden war stärker:

    "Ich habe ihn von meiner Arbeit in Istanbul aus angerufen. Komm und hol' mich, habe ich gesagt. Wir lieben uns sehr."

    "Ich habe ihr noch einmal gesagt, dass ich sehr arm bin und sie nur ins Dorf meiner Eltern bringen könnte. Und das es gefährlich wäre. Wenn du es später bereust, komm besser nicht, hab ich ihr gesagt."

    Eine Liebesgeschichte, die in einer blutigen Familienfehde zu enden droht - das ist ein Fall für den Rentner Sait Sanli. Seit 30 Jahren kämpft der gelernte Metzger unermüdlich gegen diese Art von Vendetta. Und das aus einem ganz persönlichen Grund: Als Sanli 13 Jahre alt war, musste er selbst mit seinen Eltern aus seinem Dorf fliehen, weil sie mit einer anderen Familie in einem blutigen Streit lagen. Auslöser war eine Kuh, die auf der falschen Weide graste. Wo die türkischen Behörden in den Kurdengebieten nichts ausrichten können, schreitet Sanli ein. Aber nur zu einer Bedingung:

    "Wer sich schuldig gemacht hat, der muss sich vor der Justiz verantworten. Das ist meine Bedingung."

    Ankunft in dem Dorf, in dem sich beiden Jugendlichen versteckt halten. Für Fatih und seine Eltern ist Sanli die letzte Hoffnung. Der 69-Jährige ist eine Autorität in dieser Region, 460 Blutfehden hat er schon geschlichtet.

    Nun, wo drückt euch der Schuh, fragt Sanli, nachdem er auf einem Kissen in der fast leeren Hütte Platz genommen hat. Der Vater ergreift das Wort:

    "Die andere Familie will Brautgeld von uns. 7000 Euro. Aber ich habe doch nichts! Wenn ihr wollt, kommt und tötet mich, habe ich ihnen gesagt."

    "Wir werden mit der anderen Familie sprechen. Ich werde für das Brautgeld sammeln und es ihnen übergeben. Euren Streit werde ich beenden, mach dir keine Sorgen, mein Lieber."

    Ortswechsel: Ein Saal in der Innenstadt von Diyarbakir. Normalerweise werden hier Hochzeiten gefeiert, heute soll mit Sait Sanlis Hilfe der Frieden zwischen zwei Familien besiegelt werden. Vor einem Jahr lieferten sich Mitglieder der beiden Clans in der Innenstadt von Diyarbakir eine wilde Schießerei. Es ging um rund 1000 Euro Schulden. Am Ende gab es zwei Tote und acht Verletzte.
    Sanli berät sich noch einmal mit der ihn unterstützenden Schlichtungskommission. Mit dabei: Ein Imam, ein Lehrer und ein Jurist. Dann betreten die beiden Großfamilien den Saal - schweigend, getrennt und nur die Männer selbstverständlich. Stumm und misstrauisch sitzen sie sich gegenüber. Dann mahnt Sanli der Blutrache abzuschwören und ruft beide Gruppen auf, einzeln zum Schwur unter dem Koran herzulaufen, den ein Imam in die Luft hält

    50 Kilometer weiter, im Dorf Karpuztepe, wäre man auch gerne schon so weit. Doch Fatih und Sabahat müssen immer noch die eigene gekränkte Verwandtschaft fürchten:

    "Sie sagen immer noch, dass sie uns umbringen wollen."

    "Sie können jeden Moment kommen. Sie können auf uns schießen, oder versuchen Sabahat zu entführen. Ich kann ja auch nicht 24 Stunden auf sie aufpassen. Ich muss mir tagsüber Arbeit suchen."

    Fatih und Sabahat: Eine kurdische Liebe in Zeiten der Blutrache.