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Mit Flügel und Rotor

Energie. - In den Gezeiten schlummert ein gewaltiges Energiepotenzial, gehoben wird es derzeit nur an ganz wenigen Stellen. Neuartige Gezeitenkraftwerke wollen jetzt weitere Standorte erschließen. Die ersten haben ihre Bewährungsprobe bereits bestanden. Auf der "International Conference on Ocean Energy" in Bilbao wurden sie vorgestellt.

Von Frank Grotelüschen |
    Ein Metallturm, mehrere Stockwerke hoch. In der Mitte des Turms ragen zwei Metallbalken heraus, der eine nach rechts, der andere nach links. Am Ende der Balken hängen wuchtige Rotoren, Durchmesser 16 Meter. Auf den ersten Blick sieht das Ding mit seinen beiden Propellern aus wie ein neuartiges Patent für ein Windrad. Ganz so falsch ist dieser Eindruck nicht, denn:

    "SeaGen ist eine Art Unterwasser-Windrad. Statt Wind nutzt es das Wasser, genauer gesagt die Gezeitenströmung. Denn Wasser hat den Vorteil, rund 800 dichter zu sein als Luft. Deshalb kann ein kleiner Rotor unter Wasser genauso viel leisten wie ein großer an der Luft","

    sagt Peter Fraenkel von der britischen Firma MCT. Sie hat das Unterwasser-Windrad namens SeaGen entwickelt – mit einer Leistung von 1,2 Megawatt immerhin so stark wie ein mittelgroßes Windrad. Seit zwei Jahren läuft SeaGen in einer Meerenge an der nordirischen Küste. Hier findet sich einer der schnellsten Gezeitenströme in Europa, mit Geschwindigkeiten von bis zu fünf Metern pro Sekunde. Die Anlage kann ihre Rotorblätter so drehen, dass die Rotoren sowohl bei auf- als auch bei ablaufendem Wasser arbeiten. Fraenkel:

    ""Die größte Problem waren die höchst aggressiven Bedingungen in einer Gezeitenströmung. Und zwar zerren Kräfte von mehreren 100 Tonnen an der Anlage. Deshalb mussten wir sie so stabil bauen, dass sie diese Kräfte aushält. Und das war gar nicht einfach, da gab es zuvor nur wenig Erfahrung."

    Außerdem droht Salzwasser die Anlage zu korrodieren, ebenso der Bewuchs mit Seepocken, Muscheln und Algen. Um das zu verhindern, haben die Ingenieure ihr Kraftwerk mit speziellen Antifouling-Beschichtungen behandelt. Ein Unterwassersonar überwacht die Umgebung und gibt Alarm, sollten sich Robben oder andere Meerestiere nähern. Dann werden die Rotoren umgehend gestoppt.

    "Bislang hat die Anlage unsere Erwartungen übertroffen. Hier und da gibt es kleinere Probleme, aber zum Glück nichts Ernsthaftes."

    Aber noch ist die Technik zu teuer, um wirtschaftlich mit Offshore-Windrädern mitzuhalten. Um sie künftig billiger zu machen, setzt Fraenkel auf den Bau größerer Anlagen.

    "Was die Größe der Rotoren angeht, gibt es Grenzen. Irgendwann werden die Kräfte, die an der Anlage zerren, einfach zu groß. Deswegen setze wir darauf, Anlagen mit mehr als zwei Rotoren ins Wasser zu stellen. Wir denken an Maschinen mit bis zu sechs Rotoren. Das würde die Technik kostengünstiger machen."

    Als Computeranimation gibt es eine solche Anlage schon. Sie ähnelt einem mit vielen Propellern bestückten Riesen-Doppeldecker aus den Anfängen der Luftfahrt. Ein regelrechter Park mit solchen Anlagen könnte in einigen Jahren vor Schottland entstehen. Doch es gibt noch andere Ideen, wie man die Gezeitenströmung nutzen könnte.

    "Unser System basiert auf zwei Tragflügeln, die von der Strömung auf und ab bewegt werden. Das Ganze sieht etwa so aus wie ein Delphin, der seine Schwanzflosse bewegt. Der Vorteil: Wir können in viel flacheren Gewässern arbeiten als die Unterwasser-Rotoren."

    Pulse Tidal, so heißt das Konzept des Engländers Mark Paish. Einen ersten Prototypen hat seine Firma bereits ins Meer gesetzt. Mit seinen zwölf Meter langen Flügeln leistet er vergleichsweise bescheidene 100 Kilowatt.

    "Nun wollen wir eine 1,2 Megawatt starke Anlage entwickeln, mit 45 Meter langen Tragflügeln. Das wäre die Größenordnung einer kommerzielle Anlage. Sie wird mit sechs Millionen Euro noch recht teuer sein. Aber ich denke, dass wir das recht bald billiger bauen können."

    Gezeitenströmungs-Kraftwerke werden nur dann eine ernsthafte Chance haben, wenn sie Anschubhilfe von der Politik bekommen. Nötig wäre zum Beispiel eine garantierte Einspeisevergütung wie für die Windkraft. Die aber existiert für Meereskraftwerke bislang nur in wenigen Ländern.