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Mit Zwang Isolation aufbrechen

Frauen aus sozialer Isolation herauszuholen ist Ziel des Projekts "Mitmachen" im Amsterdamer Problemviertel De Baarsjes. Die Teilnehmerinnen müssen sich beteiligen, zum Beispiel eine Ausbildung machen oder die niederländische Sprache lernen, sonst droht ihnen die Kürzung ihres Sozialhilfesatzes. Kerstin Schweighöfer berichtet.

03.01.2008
    Gutgelaunt bereitet Alice Tapper ihre nächste Altkleider-Aktion vor. Die 58 Jahre alte Sozialhilfeempfängerin aus Amsterdam lässt gebrauchte Kleidung einsammeln, um diese dann für einen Euro an arme Mitbürger zu verkaufen. Das Geld ist für wohltätige Zwecke bestimmt, denn Alice arbeitet ehrenamtlich. Der Einsatz macht ihr großen Spaß. "Endlich komme ich wieder unter die Leute", sagt sie.

    Nach ihrer Scheidung hatte sich Alice immer mehr isoliert, die Kinder waren längst aus dem Haus. Doch dann meldete sich das Sozialamt bei ihr: Sie müsse an einem sogenannten sozialen Aktivierungsprogramm teilnehmen, sonst werde man ihr die Sozialhilfe kürzen.

    Insgesamt wurden 155 Frauen aus dem Amsterdamer Stadtteil de Baarsjes vor diese Wahl gestellt - alles Sozialhilfeempfängerinnen zwischen 26 und 64 Jahren, die unter Armut und Isolation litten, Schulden hatten, Erziehungsprobleme oder wenig soziale Kontakte. "Bis vor Kurzem konnten wir diese Frauen nicht erreichen", sagt Sozialarbeiter Daniel Veth.

    Der 51-Jährige koordiniert ein Pilotprojekt, das diesen 155 Frauen helfen will. "Mee doen", heißt es: "Mitmachen". Die Teilnehmerinnen sollen wieder Struktur in ihr Leben bringen und Kontakte knüpfen. Dass dies unter Zwang geschieht, ist für die Niederländer neu: "Wir gelten als weiche Gesellschaft, die es immer erst im Guten versucht", erklärt Veth. "Helfen unter Zwang hielten viele für ein Paradox", sagt er. Dementsprechend groß sei der Widerstand gewesen: "Wir liefen gegen Mauern an", erinnert er sich. "Aber wir konnten uns durchsetzen."

    Jede Frau wird individuell begleitet und muss sich konkrete Ziele setzen, etwa Schulden abbauen oder eine Ausbildung machen. Immigrantinnen lernen Nederlands sprechen oder, wenn sie Analphabeten sind, lesen und schreiben. Dazu werden die verschiedensten Kurse angeboten: Sprach-, Näh- und Kochkurse, Aerobic, Yoga, Singen - oder ein Computerkurs bei Wouter Meijer.

    Die meisten Frauen in seinem Kurs tragen ein Kopftuch. Eine von ihnen ist die 50 Jahre alte Selim Hebiba aus Marokko. Obwohl sie seit 30 Jahren in den Niederlanden lebt, spricht sie kaum Nederlands, auch einen Computer hat sie noch nie berührt. Doch dank des Computerkurses kann sie jetzt im Internet surfen und sehen, in welchen Supermärkten es die besten Sonderangebote gibt. "Und ich kann E-Mails an meine Verwandten nach Hause schicken", freut sie sich.

    Selims Mann hatte nichts gegen ihre Teilnahme am Sozialprogramm einzuwenden, doch das sei eine Ausnahme, weiß Projektkoordinator Daniel Veth: Viele moslemische Männer wollten nicht, dass ihre Frauen das Haus verlassen. Das sei das Positive an diesem Projekt, betont er: "Wir geben diesen Frauen eine Legitimation, doch nach draußen zu gehen. Jetzt können sie ihren Männern sagen, dass sie müssen. Sonst gibt es weniger Geld." Das wirkt: Geld sei einfach ein Machtinstrument!

    Innerhalb eines Jahres haben 80 Prozent der Frauen ihre Ziele erreicht. Die Sprachkenntnisse der Immigrantinnen haben sich erheblich verbessert. Drei Teilnehmerinnen haben feste Arbeit gefunden, 30 sind ehrenamtlich tätig in Bürgerzentren oder Altersheimen. Wegen dieser erfolgreichen Zwischenbilanz sind auch andere Städte an dem Projekt interessiert. In Amsterdam soll es in allen Stadtteilen eingeführt werden.

    "Manchmal geht es eben nicht ohne Zwang", sagt Veth. Oder, wie es eine der Teilnehmerinnen formulierte: "Goed dat het moet", "gut, dass es sein muss".