Gerd Koenen war einst Chefredakteur der Kommunistischen Volkszeitung. Seine späteren bahnbrechenden Studien über die "Utopie der Säuberung" und "Das rote Jahrzehnt" haben an analytischer Klarheit und Trennschärfe nichts zu wünschen übrig gelassen. Dass er sich in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" im Januar 2001 zu einer derart gewundenen Formulierung verstieg und den gütigen Schleier der Amnesie über eine Vergangenheit breitete, die im Ungefähren vergehen soll, wird ihm keiner der damaligen Akteure verübeln wollen: Verdammt lang her. Bemerkenswert nur, dass wir uns in dem Wunsch, ein Vierteljahrhundert nach dem Deutschen Herbst nicht mehr mit der Erinnerung an die klammheimliche Komplizenschaft mit den Kämpfern gegen die als Schweinesystem diffamierte demokratische Ordnung behelligt zu werden, mit unseren Vorfahren auf seltsame Weise einig sind. Das Hohngelächter, in das wir ausbrachen, als unsere Eltern im Verlauf der in den Sechzigern üblichen Verhöre beteuerten, ihnen sei der Zugang zu der vor dem 8.Mai 1945 herrschenden Sprache und Vorstellungswelt auf unerklärliche Weise abhanden gekommen, will nicht verebben und müsste uns in den Ohren gellen: Ich war und bin ein anderer.
Seit Richard von Weizsäcker 1985 in seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in Anlehnung an eine chassidische Weisheit die erlösende Funktion der Erinnerung pries, hat die Erinnerung hierzulande eine gute Presse. Das Vergessen hingegen ist mit dem Stigma der Verdammnis behaftet und löst unter wohlmeinenden Zeitgenossen eine in den Abgrund führende Assoziationskette aus: Verleugnung, Revisionismus, Rechtsradikalismus, Antisemitismus.
Die Sozialwissenschaftlerin Ulrike Jureit hat allerdings im letzten Jahr im "Merkur" zu bedenken gegeben, dass es mit dieser schönen Eindeutigkeit nicht allzu weit her ist. Zum einen sei die religiös gefärbte ritualisierte Erinnerung mit der offenen historischen Erinnerung nicht in Einklang zu bringen, zum anderen sei die gegenwärtig herrschende Vorstellung nach der die Erinnerung als ein per se kostbares Gut zu gelten habe, nicht haltbar, weil es sich beim Erinnern und Vergessen um ein und den selben Vorgang handele. Indem wir uns an etwas erinnerten, so die Mitarbeiterin des Hamburger Instituts für Sozialforschung, wählen wir aus der unendlichen Vielfalt des Wahrgenommenen etwas aus, was zugleich bedeute, die Aufmerksamkeit von dem abzuziehen, was nicht aktualisiert werde.
Meinen Geburtsort Hannoversch Münden, eine im südlichen Niedersachsen gelegene Kleinstadt, in die ich 1955 mit meiner Mutter und meinem kleinen Bruder nach dem Scheitern der Ehe meiner Eltern aus dem Rheinland zurückkehrte, würde ich ganz gern vergessen, was mir mit fortschreitendem Alter aber immer seltener gelingt. Da mein am Krieg zerbrochener Vater nach seiner Entlassung aus dem Kölner Klingelpütz, eine Haftanstalt, in der er wegen schwerer alkoholbedingter Transportgefährdung und der Unterschlagung von Firmengeldern eine einjährige Strafe absitzen musste, über keinen festen Wohnsitz verfügte, gab meine Mutter meinem Drängen nach und nahm ihn auf Bewährung bei uns auf.
Mein Vater lag auf dem Sofa im Wohnzimmer und bat mich, ihm im nahegelegenen Lebensmittelladen Wermut zu besorgen. Der Liter kostete 48 Pfennig, die ich der Haushaltskasse entnahm. Auf dem Etikett stand in goldenen Lettern Ricadonna und ich trug ,geduckt in den Schatten der Fachwerkhäuser, die vollen Flaschen und das Leergut im Schulranzen hin und her. Mein Vater folgte meinen Bewegungen mit wässrigem Blick. Er weinte und versprach viel und hatte es aufgegeben, sich zu rasieren. In der unbehaarten, vom Mundwinkel zur Kinnspitze verlaufenden Narbe, die der Nahkampf mit einem jugoslawischen Partisanen hinterlassen hatte, mischten sich die Tränen mit dem Fusel und tropften auf das halb aus der Hose hängende Unterhemd. Abends kam meine Mutter heim und versuchte, meinen Vater aufzurichten. Steh auf, du Schwein, steh´ endlich auf, brüllte meine Mutter und nach vier Wochen: Verschwinde!
Nach dem auf Nimmerwiedersehen kaufte ich von meinem Taschengeld Bahnsteigkarten und suchte meinen Vater vergeblich unter den ankommenden Reisenden. Auf Gleis 1 hielten die Züge aus Göttingen, auf Gleis 3 die aus Kassel.. Im Briefordner meiner Mutter fand ich den maschinenschriftlichen Durchschlag eines Schreibens, in dem sie meinem Vater androhte, sich mit E 605 umzubringen, wenn er es wagen sollte, sie auf dem von ihm angehäuften Schuldenberg sitzen zu lassen. Unter Sesseln und Küchenstühlen klebte der Kuckuck, ein mit dem Bundesadler bedrucktes, briefmarkengroßes Papiersiegel, das vom Gerichtsvollzieher entfernt wurde, sobald ihm meine Mutter den fälligen Betrag ausgehändigte.
Tagsüber war meine Mutter als Sekretärin an der Forstwissenschaftlichen Hochschule, einer Außenstelle der Universität Göttingen beschäftigt, nachts tippte sie für ein Seitenhonorar von 50 Pfennig die Doktorarbeiten der Studenten, die grüne Uniformen und überwiegend adelige Namen trugen. Einer hieß Kausch-Blecken von Schmeling. Nach der alljährlich am 3. November veranstalteten Hubertusjagd stießen er und seine Kommilitonen ins Horn und legten das zur Strecke gebrachte Wild der Größe nach auf dem mit Tannenreisig ausgelegten Rathausplatz ab. Die hochwohlgeborenen Jäger überließen den Institutsdienern, Putzfrauen und Schreibkräften die Innereien, und so aßen wir bis Sylvester Herzragout, Lungenhaschee und bleigesättigte Hasenleber.
Das erste Mädchen, zu dem ich mich anhaltend hingezogen fühlte, war die Tochter eines ortsansässigen Hoteliers, dem ich mich durch das Abspülen der Biergläser im Schankraum der neben dem Beherbergungsbetrieb gelegenen Gaststätte Zum letzten Heller zu empfehlen suchte. Obwohl mich mit dem Mädchen nur ein einziger und zudem geraubter Kuss verband, schaute ich noch Jahre nach ihrer Eheschließung mit einem nordrhein-westfälischen Landesforstmeister jedem vorbeifahrenden Auto hinterher. Sie fuhr einen weißen Ford Taunus mit dem Kennzeichen HMÜ-C 197.
Da ich mich in den irdischen Belangen schwer tat, bemühte ich mich nach der Mittleren Reife um die Aufnahme in die Luftwaffe; eine erdenthobenen Teilstreitkraft, der ein Bruder meiner Mutter bis zu seinem Abschuss über Bamberg im April 1945 als Nachtjäger angehört hatte. Vier Wochen später erhielt ich den Musterungsbescheid und wurde wegen fehlender körperlicher und geistiger Eignung der Ersatzreserve II zugeteilt; einer lächerlichen, lediglich auf dem Papier existierenden, mit weiß übertünchten Wehrmachtshelmen und Klappspaten auszurüstenden Truppe, die im Fall eines Atomkrieges für das Sortieren der sterblichen Überreste der Zivilbevölkerung ausersehen war.
Kurzsichtig, übergewichtig, neidzerfressen und hasserfüllt wie ich war, zertrümmerte ich an einem Dezemberabend mit zwei aus nassem Schnee geformten Eisbällen das im ersten Stock einer neogotischen Gründerzeitvilla gelegene Erkerfenster meines ehemaligen Lateinlehrers, der mich mit herablassendem Sarkasmus zu traktieren pflegte, weil er wusste, was ich wusste. Dass er sich nämlich 1944 von einem mit seiner Familie befreundeten Medizinalrat einen Herzfehler hatte attestieren lassen, um nach dem Notabitur dem Wehrdienst zu entgehen. Zwei Drittel seiner Klassenkameraden, darunter einer meiner Onkel, waren an der Ostfront gefallen oder vermisst.
Das Geräusch des zersplitternden Glases, der Aufschrei des Simulanten, das plötzliche Verlöschen des zwölfarmigen Kronleuchters, unter dem sich der aufgeschwemmte Junggeselle mit seiner Mutter und den "Himmlischen Moseltröpfchen" seiner unverdienten Bettruhe entgegensoff, kurzum: die Verbreitung von Angst und Schrecken im Schutz der Anonymität, erfüllten mich mit tiefer Genugtuung. Rache für alles.
Im Januar 1968, der Monat, in dem ich meine Volljährigkeit erlangte, deutete nichts auf die zukünftige Zugehörigkeit zur Neuen Linken hin.
Auf dem von meiner Mutter arrangierten Geburtstagsfoto saß ich, umrahmt von Alpenveilchen und Dieffenbachia, im Wohnzimmer und blättere gedankenverloren in Rainer Maria Rilkes Buch vom mönchischen Leben. Um die Aufmerksamkeit des imaginären Betrachters -es wird wohl eher eine Betrachterin gewesen sein- auf die hohe Denkerstirn zu lenken, half ich mit dem Rasierapparat nach und verlegte den äffischen Haaransatz einen Zentimeter nach hinten. Die mit Drei-Wetter-Taft gebändigte und nachts mit einem Haarnetz in Form gehaltene Elvis-Tolle stellte die musikalischen Vorlieben aus, mit der getönten Brille fühlte ich mich habituell gleichzeitig James Dean, General Mac Arthur und den französischen Existenzialisten verbunden. Die schmale Krawatte stammte von James Bond, das Spiel der Kiefermuskeln von John F. Kennedy und der dreiteilige Trevira-Anzug von C&A.
Ich weiß nicht mehr, was sich hinter der kosmetisch vergrößerten Stirn verbarg, aber ich nehme an, dass das dort zu verortende angelesene Gedankengut ein relativ getreues Abbild meiner zerklüfteten Außenansicht darstellte: Otto Skorzenys "Meine Kommandounternehmen" neben James Baldwins "Fire next Time", Jacques Préverts "Gedichte und Chansons" neben Gerd Gaisers "Die sterbende Jagd", Hildegard Knefs "Der geschenkte Gaul" neben Jean-Paul Sartres "Die Wörter", das Stuttgarter Schuldbekenntnis der EKD neben Hans Sedlmayrs "Verlust der Mitte" und Falladas "Damals bei uns daheim" neben Kurt W. Mareks "Wir hielten Narvik."
Es wäre vermessen, diesem Portrait eines Altachtundsechzigers als junger Mann eine über sich selbst hinausweisende Bedeutung beizumessen, aber ich glaube dennoch, dass diese Momentaufnahme einer adoleszenten Verwirrung, ein dem Prinzip der Nachträglichkeit folgender, der permanenten Überschreibung konkurrierender Erinnerungsspuren entsprungener Text, durchaus zur Erhellung der Motive beizutragen vermag, die wir uns, die mit der undankbaren Rolle der niederen Chargen abgefundenen Akteure der Bewegung, seit nunmehr 40 Jahren unter einem Schleier der historischen Selbstbeweihräucherung krampfhaft zu verbergen suchen.
Wenn Wolfgang Kraushaar, der rührige, für das Hamburger Institut für Sozialforschung tätige Eckermann der deutschen Protestbewegung in einem Akt treuherziger Historienmalerei versichert, dass die von uns hervorgebrachten Errungenschaften "der Selbstinitiative, Mündigkeit, Zivilcourage, Verantwortlichkeit und des Nonkonformismus" entscheidend zur "inneren Verwestlichung und Demokratisierung" der bis 1968 lediglich "äußeren Westbindung" der Bundesrepublik beigetragen und eine "Art soziokultureller Nachgründung" bewirkt hätten, spricht er nicht nur den Vertretern einer dauersensiblen, den Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns verpflichteten Geschichtsschreibung, sondern gewiss auch vielen meiner ehemaligen Mitstreitern aus der Seele, die sich gegen Ende ihrer Erwerbsbiografie in einer heroischen und widerspruchsbereinigten Lebensgeschichte einzurichten suchen, deren Geradlinigkeit von rechts unten nach links oben in dem Bestseller unseres Götterlieblings Joschka Fischer seinen exemplarischen Ausdruck findet: "Mein langer Lauf zu mir selbst".
Dass mir ein solch tröstlicher Modus der Vergegenwärtigung der Vergangenheit nicht zur Verfügung steht, kann viele Gründe haben. Mag sein, dass es der notorisch schale Nachgeschmack ist, den Veteranentreffen im allgemeinen und Zusammenkünfte ergrauter Street fighting men im besonderen zu hinterlassen pflegen. Mag sein, dass es sich um eine konstitutionell bedingte Griesgrämigkeit handelt oder ganz einfach um eine dem neuronalen Verfall geschuldete Mehrung des Langzeitgedächtnisses, die mich daran hindert, in dem gleichermaßen redundanten wie philiströsen Skript der linken Standardbiografie ein warmes Plätzchen zu finden. Der große Essayist Alexander Kluge hat in dem schmalen Bändchen über "Die Kunst, Unterschiede zu machen" zu verstehen gegeben, dass es ihm Zeit seines Lebens nicht gelungen sei, sich mit dem Schicksal seines von Bombenangriffen zerstörten Heimatstädtchens Halberstadt und dem seiner Bewohner abzufinden. Kluge notiert:
"Ich finde es notwendig gegen Luftangriffe, gegen die Strategie von oben, etwas zu schreiben, eine lange Geschichte zu schreiben. Wie eine Lehrerin in Halberstadt mit vier Kindern im Keller sitzt und sie, während die Bomben fallen, nicht einmal beten kann, weil sie nicht weiß, was sie damit anrichtet. Vielleicht trifft sie die Bombe gerade dann, wenn sie jetzt hier mit einem Gebet herumrangiert.. Von da aus entsteht jetzt ein intensiviertes Gefühl- das, wenn es immer weiter getrieben wird, zu einem Gedanken führt. Das sind nichts anderes als kristallisierte Gefühle. Ich muss immer einen Grund haben für einen Gedanken, ein Motiv. Wenn ich nicht in Not bin, habe ich auch keine guten Gedanken."
Weil wir, die betagten Kombattanten der Jahrgänge 1940 bis 1950, mit der Not, in der wir waren, diesem aus physischen und psychischen Verwüstungen nie gekannten Ausmaßes erwachsenen Alptraum der Nachkriegszeit, nach wie vor so umgehen, als habe es diese Not nie gegeben oder als ließe sie sich im blassen Begriff des objektiven Faktors Subjektivität verräumen, lässt beides auf sich warten: das Gefühl und der Gedanke, von den guten ganz zu schweigen. Der ehemalige Vizekanzler und Häuserkämpfer Fischer distanziert sich am Pranger stehend stammelnd "voll inhaltlich von der "Militarisierung unserer Köpfe" und der "damit einhergehenden Militanz"; der neunfache Mörder Christian Klar hingegen empfindet überhaupt nichts. Keine Schuld. Keine Reue. Kein Mitleid. "In dem politischen Raum, vor dem Hintergrund von unserem Kampf", gibt er 2001 zu Protokoll" sind das keine Begriffe."
Wie das Ungeschehenmachen des heulenden Elends durch einen Akt der grandiosen Selbsterzeugung funktioniert, hat Thomas Mann 1938 in unnachahmlicher Weise am Beispiel eines uns allen bekannten geborenen Verlierers demonstriert, der sich in der Zwischenkriegszeit, 50 Jahre vor Konstitution der RAF, den stählernen Panzer des Berufsrevolutionärs zulegte und beschloss Politiker zu werden. Thomas Mann schreibt:
"Es ist auf eine beschämende Weise, alles da: die "Schwierigkeit", Faulheit und klägliche Undefinierbarkeit der Frühe, das Nicht-unter-zu-bringen-sein, das Was-willst-du-nun-eigentlich?, das halb blöde Hinvegetieren in tiefster sozialer und seelischer Boheme, das im Grunde hochmütige, im Grunde sich für zu gut haltende Abweisen jeder vernünftigen und ehrenwerten Tätigkeit- auf Grund wovon? Auf Grund einer dumpfen Ahnung, vorbehalten zu sein für etwas ganz Unbestimmbares, bei dessen Nennung, wenn es zu nennen wäre, die Menschen in Gelächter ausbrechen würden. Dazu das schlechte Gewissen, das Schuldgefühl, die Wut auf die Welt, der revolutionäre Instinkt, die unterbewusste Ansammlung explosiver Kompensationswünsche, das zäh arbeitende Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, zu beweisen, der Drang zur Überwältigung, Unterwerfung, der Traum, eine in Angst, Liebe, Bewunderung, Scham vergehende Welt zu den Füßen des einst Verschmähten zu sehen...Das al fresco, der große historische Stil, ist ja nicht Sache der Person, sondern des Mediums und Wirkungsgebietes: der Politik oder Demagogie, die es auf eine lärmende und opferreiche Weise mit Völkern und vielumfassenden Massenschicksalen und deren äußere Großartigkeit gar nichts für die Außerordentlichkeit des seelischen Falles beweist, das eigene Format dieses effektreichen Hysterikers .- Aber auch die Unersättlichkeit des Selbstverherrlichungstriebes ist da, die Ruhelosigkeit, das Nie-sich-Genüge-Tun, das Vergessen der Erfolge, ihr rasches Sich-Abnutzen für das Selbstbewusstsein, die Leere und Langeweile, sobald nichts anzustellen und die Welt nicht in Atem zu halten ist, der schlaflose Zwang zum Immer-wieder-sich-neu-beweisen-Müssen ..."
Man tut dem nach wie vor atemberaubend riskanten Psychogramm dieses deutschen Großschriftstellers, der in einem qualvollen Prozess der Selbstaufklärung im Laufe eines halben Jahrhunderts das gesamte politische Spektrum seiner Zeit durchmessen hat, hoffentlich nicht allzu viel Gewalt an, wenn einem nach der Lektüre nicht nur der "Bruder Hitler" und der etwas kleinformatigere Dandy der Finsternis, Andreas Baader, in den Sinn kommt, sondern auch die Leichen, die sich während der roten Dekade selbst im Keller eines kleinen Hellebardenträgers des großen Weltrevolutionstheaters sammelten.
Nach zwei isolierten Semestern im Studentenwohnheim wurde ich 1971 in eine Frankfurter Wohngemeinschaft aufgenommen, deren Bewohner sich stillschweigend darauf verständigt hatten, ihr Liebesleben nach dem Modell der so genannten offenen Zweierbeziehung zu organisieren. Am Ende des Flurs hatte sich ein Pärchen eingenistet, dass zunächst dadurch auffiel, dass es in Bezug auf die politische Arbeit eigene Wege ging und die systematische, schulungsmäßige Lektüre der Marxschen Frühschriften und des Grundwissens des jungen Kommunisten in Frage stellten.
Als die Genossen, die bald keine mehr sein sollten, dazu übergingen, die Zahlungen in die Gemeinschaftskasse einzustellen und im Kühlschrank die Frischhalteboxen mit ihren Namen versehen, in dem schwer zugänglichen hinteren Regalbereich unterzubringen, wurden sie beim nächsten jour fixe vor die Wahl gestellt, ihre Privatisierungsbestrebungen einzustellen oder die WG zu verlassen. Um mich für den eigenen Verbleib in der Gruppe zu empfehlen - ich hatte seinerzeit weder eine offene noch eine andere Zweierbeziehung nachzuweisen - legte ich argumentativ nach und konfrontierte das Paar mit den Erkenntnissen, die ich aus der Lektüre von Wilhelm Reichs "Was ist Klassenbewusstsein?" gezogen hatte: die Gesellungsform der bürgerliche Kleinfamilie als Brutstätte des alten und neuen Faschismus. Weil das verstockte Paar keine Einsicht zeigte und das Zimmer am Ende der Flurs verwüstet zurückließ, wies ich alle Versöhnungsversuche zurück und wechselte die Straßenseite, sobald ich der beiden ansichtig wurde. 1980 erlag der geschiedene Genosse und zweifache Vater bei seiner Arbeit in einem sozialen Brennpunkt einem Herzinfarkt. Von einem Beileidsbesuch habe ich abgesehen.
Um die Teilnahme an einem europäischen Jugend-Festival der "Unita" im leuchtend roten Bologna zu finanzieren, heure ich zum Winterschlussverkauf des Jahres 1972 als Aushilfskraft beim Versandhaus Neckermann auf der Frankfurter Zeil an: fadenscheinige, olivgrüne Teppichfließen sollen zum Aktionspreis von 2 Mark pro Quadratmeter an den Mann gebracht werden. Glockenschlag 9 Uhr stürmen kaufwillige Konsumenten den riesigen Krabbeltisch; mein Versuch, die anbrandende Massen von der Minderwertigkeit des Bodenbelags zu
überzeugen, steigert ihren Kaufrausch ins Unermessliche und binnen zwei Stunden hat die letzte Fließe den Besitzer gewechselt.
Ich blicke in die von Gier und Dummheit entstellten Gesichter der Menschen, die von der Illusion der Verschönerung ihres tristen Interieurs nicht lassen wollen und gerate in einen bolschewistischen Tagtraum. Die Veredelung dieser korrumpierten, ständig unter dem Niveau der Geschichte agierenden deutschen Arbeiterklasse zum revolutionären Subjekt ist nur durch einen Gewaltakt vorstellbar: Umerziehungslager oder Genickschuss.
1973 wird mir als Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung die Stelle eines Landesbildungssekretärs der Berliner "Falken" angeboten, die ich auf Empfehlung eines Funktionärs der IV. trotzkistischen Internationale mit der Auflage annehme, den sozialdemokratischen Jugendverband zu unterwandern und die mir anvertrauten Jugendlichen an das Gedankengut Ernest Mandels heranzuführen. Meine erste Aufgabe besteht darin, zusammen mit anderen studentischen Kadern 250 trinkfreudige Berliner Arbeiterjugendliche mit einem Sonderzug durch die DDR in ein Ferienlager nach Südschweden zu überführen.
Da ich Arbeiter nur aus den Theorieseminaren des sozialwissenschaftlichen Oberseminars kenne, habe ich Mühe, mich den Objekten meiner Agitation verständlich zu machen und bin dankbar, in Gestalt eines jungen Genossen, den alle Lisse nennen, auf einen fähigen Übersetzer und treuen Begleiter zu stoßen, der die Peinlichkeit meiner Auftritte abfedert.
Lisse, dessen alleinstehende Mutter bei Bolle im Wedding als Putzfrau arbeitete, hatte eine große Schnauze, ein großes Herz und eine große Liebe, die leider unerwidert bleibt. Vier Wochen nach der Rückkehr aus dem Lager bricht Lisse nachts in einen Kiosk ein, um von dem Erlös des Diebesgutes Geschenke zu kaufen, mit denen er die Zuneigung des Mädchens zu erringen hoffte. Auf einer außerordentlichen Sitzung des Landesvorstands, an der auch die Sekretäre teilnehmen, wird Lisse ohne Anhörung der kurze Prozess gemacht. Er habe sich wegen eines massiven Verstoßes gegen die proletarische Moral der Mitgliedschaft in einem sozialistischen Jugendverband als unwürdig erwiesen und werde mit sofortiger Wirkung ausgeschlossen. Der Beschluss erfolgt einstimmig. Nach seiner Exkommunikation rutschte Lisse ab und hält sich and der Flasche fest. Seine Mutter findet ihn im Februar 1974 erhenkt in der Hütte einer Schrebergartenkolonie. Er hat seinen 18. Geburtstag um eine Woche verfehlt.
1975 erhalte ich als Mitglied des ansonsten von der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin dominierten Fachschaftsrates eine Einladung zu einem politischen Gedankenaustausch mit dem Zentralrat der Freien Deutschen Jugend in Potsdam. Im Foyer der Pädagogischen Hochschule werden vorbereitete Erklärungen verlesen, welche die Völkerfreundschaft, die atomare Abrüstung und die Solidarität mit der chilenischen Arbeiterklasse zum Gegenstand haben. Wir besichtigen nacheinander frierende Krippenkinder beim Frühsport, ein Baukombinat, eine erweiterte Oberschule und eine Delegation von Jungen Pionieren aus Königwusterhausen, deren Uniformen in der Dämmerung an die HJ erinnern und die ein paar Gedichte von Brecht und Becher herunterleiern. Nach dem Abendessen unter dem Wandrelief von Rosa Luxemburg wird Sekt aus DDR-Produktion und grusinischer Brandy ausgeschenkt. Wir singen die Internationale, das Lied von der Arbeitereinheitsfront und den Moorsoldaten und zu später Stunde schneit der leibhaftige Erste Sekretär des Zentralrates der FDJ herein. Im Morgengrauen bestellt Egon Krenz ein Beefsteak Tatar für alle und als ihn die Objektleiterin darauf aufmerksam macht, dass die Hotelküche geschlossen ist, läuft der Stellvertretende Vorsitzende des Zentralkomitees der SED rot an und gibt der Frau, die er Genossin nennt, exakt zehn Minuten Zeit, das Gewünschte zu servieren. Ich sehe die wutweißen Knöchel der Hand, die ihren Unterarm umklammert. Ich sehe den von einem Raubtiergebiss gezierten Sozialismus mit menschlichem Antlitz und sage kein einziges Wort.
Beim wöchentlichen Elternabend des Kinderladens "Land in Sicht", taucht im November 1980 unangemeldet eine schwarze Botin der Roten Hilfe auf. Sie heißt Marie und teilt den Eltern mit, dass die Genossin Ilse S., Eingeweihten als "Baaders Nesthäkchen" bekannt, nach dreijähriger Isolationshaft unter Auflagen aus der Frauen- JVA in Frankfurt-Preungesheim entlassen werden soll. Eine der Auflagen bestehe im Nachweis eines Arbeitsplatzes und da die Genossen von der Roten Hilfe in Erfahrung gebracht hätten, dass bei uns eine zweite Bezugsperson gesucht werde, erwarte sie, dass wir uns gegenüber einem Opfer der Klassenjustiz solidarisch zeigten und Ilse am 1.Dezember anfangen könne. Meine kleinlaut vorgebrachte Frage, ob Ilse vor ihrer Knastzeit schon einmal etwas mit Kindern zu tun gehabt habe, wird von der resoluten Quartiermacherin vom Tisch gefegt::
"Ich bin doch nicht hierher gekommen, um mir das straighte Gelabere von irgendeinem bürgerlichen Chauvischwein und Hirnwichser reinzuziehen, bei dem alles um die eigene Brut kreist und der zu blöd ist , zu raffen, was zwei Jahre Isolationsfolter für einen gefangenen Kämpfer bedeuten."
Ende der Durchsage - Harald, unsere erste Bezugsperson, ein ausgebrannter Junkie, dessen Verdienst darin besteht, der älteste überlebende Heroinabhängige Frankfurts zu sein, kommt mit der depressiv erstarrten Ex-Terroristin gut aus. Die beiden hocken im Schneidersitz kettenrauchend vor dem Nachspeicherofen des Spielzimmers und ihr erloschener Blick gleitet interesselos über die ihnen anvertrauten Kinder hinweg. Von uns, den alternativen Sorgeberechtigten, hat dieses trostlose , in Rauch gehüllte Duo nichts zu befürchten.
1982 nehme ich meine Arbeit als Assistent am Psychologischen Seminar der TU Hannover auf. Eingeschüchtert von der stupenden Begriffsakrobatik meiner Kollegen aus dem sozialwissenschaftlichen Mittelbau, die im örtlichen Club Voltaire auftreten wie Reinkarnationen Theodor W. Adornos, freunde ich mich mit dem bodenständigen, aus einer norddeutschen Bauernfamilie stammenden Lehrer Fritz Rodewald an, der mir, dem fremdelnden Neuzugang in seiner Wohnung spontan eine Bleibe anbietet. Wenn ich im Gespräch mit den Kommilitonen aus dem Doktorandencolloquium den Namen meines freundlichen Gastgebers fallen lasse, blicken sie unter sich oder wechseln das Thema. Als ich Fritz Rodewald nach den Gründen für dieses irritierende Verhalten frage, vertraut er mir die Geschichte seiner sozialen Ächtung an.
Am 14. Januar 1975 steht nachts eine fremde Frau vor seiner Tür und fragt ihn, ob er vorübergehend ein Paar bei sich aufnehmen könne. Weil er zuvor einigen amerikanischen Vietnamdeserteuren auf der Flucht nach Schweden Unterschlupf gewährt hat, kommt ihm das Ansinnen der Frau zunächst nicht ungewöhnlich vor. Auf dem Weg zur Schule sieht er auf einer Litfasssäule ein Fahndungsplakat und ruft von einer Telefonzelle aus das Landeskriminalamt an, um seine Befürchtung mitzuteilen, dass Leute von der RAF beim ihm übernachten wollten.
Am Nachmittag des Tages erfährt er, dass die Polizei in seiner Wohnung Ulrike Meinhof überwältigt und verhaftet hat. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich das Gerücht , dass er, Fritz Rodewald, der Mann ist, der unsere Ulrike ans Messer geliefert hat. Er erhält Drohbriefe und anonyme Anrufe, wird von den Genossen gemieden und traut sich kaum noch aus dem Haus. Ich höre mir die Geschichte meines Freundes an und versichere ihn meines Verständnisses und meiner Anteilnahme. Er gibt mir ein Dach über dem Kopf. Ich esse weiterhin sein Brot und trinke seinen Wein und bin mir insgeheim mit den anderen einig: Er ist und bleibt ein Verräter.
"When the ballroom is empty and the music is over..." Ein Vierteljahrhundert nach Verklingen des letzten Akkords kommt man kaum um die bittere Einsicht herum, dass sich die charakterliche Mediokrität und ideologische Verführbarkeit des linken Sympathisanten von der des rechten Mitläufers lediglich durch den gesellschaftlichen Kontext und die seit dem Historikerstreit geltenden kollektiven Selbstdeutungsmuster unterscheiden. Von wenigen lichten Momenten humaner Gesittung abgesehen können beide für sich in Anspruch nehmen, für das Gute zu schwach und für das Böse zu feige gewesen zu sein.
Wen ich mich bilanzierend frage, welche Ereignisse mich zu dem haben werden lassen, der ich bin, ein vergrübelter, zur Schwermut neigender, mit einer gewissen Beredsamkeit ausgestatteter Einzelgänger auf dem Zwischendeck des hiesigen Kulturbetriebs, stellt das Faktum brutum der Judenvernichtung eine Quelle der Empörung dar, deren lebensgeschichtliche Nachträglichkeit und Mittelbarkeit ihre moralische Berechtigung zwar nicht schmälert, von der ich jedoch vermute, dass sie mir und vielen Angehörigen meiner Generation dazu gedient hat, der inneren Auseinandersetzung mit der Katastrophe des Krieges und den mit diesem Krieg verbundenen Verlusterfahrungen auszuweichen.
Am Ende seiner Ausführungen über Fischer in Frankfurt vermerkt Wolfgang Kraushaar, dass viele der großen und kleinen Akteure der Revolte bekennende Fans des Italo-Westerns gewesen seien und sich nicht entblödet hätten,
"mit diesen langen Ledermänteln aus den einschlägigen Streifen in der Öffentlichkeit herumzulaufen."
Ich habe Sergio Leones Spiel mir das Lied vom Tod seinerzeit so oft gesehen, dass ich dem Film mittlerweile wohl auch mühelos in der italienischen Originalfassung würde folgen können. In einer regelmäßig wiederholten, mit der Musik von Ennio Morricone unterlegten Rückblende, wird das Rachemotiv des namenlosen Mundharmonikaspielers unterstrichen: Ein Mann mit einer Schlinge um den Hals steht auf den Schultern seines Sohnes, der sich ebenso verzweifelt wie vergeblich gegen das Gewicht des erwachsenen Mannes stemmt, um ihn zu retten.
Der erste Schnitt ist der tiefste. Mein Vater. Das Frontschwein, der Kölsche Jong, der Spieler, der Säufer, der Versager. Ich hätte ihm alles verziehen, womöglich sogar den Mord, wenn er nur geblieben wäre. Telemach am Weserstrand. Die Revolution ist vorbei. Die Zeit vergeht. Die Trauer bleibt.
Seit Richard von Weizsäcker 1985 in seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in Anlehnung an eine chassidische Weisheit die erlösende Funktion der Erinnerung pries, hat die Erinnerung hierzulande eine gute Presse. Das Vergessen hingegen ist mit dem Stigma der Verdammnis behaftet und löst unter wohlmeinenden Zeitgenossen eine in den Abgrund führende Assoziationskette aus: Verleugnung, Revisionismus, Rechtsradikalismus, Antisemitismus.
Die Sozialwissenschaftlerin Ulrike Jureit hat allerdings im letzten Jahr im "Merkur" zu bedenken gegeben, dass es mit dieser schönen Eindeutigkeit nicht allzu weit her ist. Zum einen sei die religiös gefärbte ritualisierte Erinnerung mit der offenen historischen Erinnerung nicht in Einklang zu bringen, zum anderen sei die gegenwärtig herrschende Vorstellung nach der die Erinnerung als ein per se kostbares Gut zu gelten habe, nicht haltbar, weil es sich beim Erinnern und Vergessen um ein und den selben Vorgang handele. Indem wir uns an etwas erinnerten, so die Mitarbeiterin des Hamburger Instituts für Sozialforschung, wählen wir aus der unendlichen Vielfalt des Wahrgenommenen etwas aus, was zugleich bedeute, die Aufmerksamkeit von dem abzuziehen, was nicht aktualisiert werde.
Meinen Geburtsort Hannoversch Münden, eine im südlichen Niedersachsen gelegene Kleinstadt, in die ich 1955 mit meiner Mutter und meinem kleinen Bruder nach dem Scheitern der Ehe meiner Eltern aus dem Rheinland zurückkehrte, würde ich ganz gern vergessen, was mir mit fortschreitendem Alter aber immer seltener gelingt. Da mein am Krieg zerbrochener Vater nach seiner Entlassung aus dem Kölner Klingelpütz, eine Haftanstalt, in der er wegen schwerer alkoholbedingter Transportgefährdung und der Unterschlagung von Firmengeldern eine einjährige Strafe absitzen musste, über keinen festen Wohnsitz verfügte, gab meine Mutter meinem Drängen nach und nahm ihn auf Bewährung bei uns auf.
Mein Vater lag auf dem Sofa im Wohnzimmer und bat mich, ihm im nahegelegenen Lebensmittelladen Wermut zu besorgen. Der Liter kostete 48 Pfennig, die ich der Haushaltskasse entnahm. Auf dem Etikett stand in goldenen Lettern Ricadonna und ich trug ,geduckt in den Schatten der Fachwerkhäuser, die vollen Flaschen und das Leergut im Schulranzen hin und her. Mein Vater folgte meinen Bewegungen mit wässrigem Blick. Er weinte und versprach viel und hatte es aufgegeben, sich zu rasieren. In der unbehaarten, vom Mundwinkel zur Kinnspitze verlaufenden Narbe, die der Nahkampf mit einem jugoslawischen Partisanen hinterlassen hatte, mischten sich die Tränen mit dem Fusel und tropften auf das halb aus der Hose hängende Unterhemd. Abends kam meine Mutter heim und versuchte, meinen Vater aufzurichten. Steh auf, du Schwein, steh´ endlich auf, brüllte meine Mutter und nach vier Wochen: Verschwinde!
Nach dem auf Nimmerwiedersehen kaufte ich von meinem Taschengeld Bahnsteigkarten und suchte meinen Vater vergeblich unter den ankommenden Reisenden. Auf Gleis 1 hielten die Züge aus Göttingen, auf Gleis 3 die aus Kassel.. Im Briefordner meiner Mutter fand ich den maschinenschriftlichen Durchschlag eines Schreibens, in dem sie meinem Vater androhte, sich mit E 605 umzubringen, wenn er es wagen sollte, sie auf dem von ihm angehäuften Schuldenberg sitzen zu lassen. Unter Sesseln und Küchenstühlen klebte der Kuckuck, ein mit dem Bundesadler bedrucktes, briefmarkengroßes Papiersiegel, das vom Gerichtsvollzieher entfernt wurde, sobald ihm meine Mutter den fälligen Betrag ausgehändigte.
Tagsüber war meine Mutter als Sekretärin an der Forstwissenschaftlichen Hochschule, einer Außenstelle der Universität Göttingen beschäftigt, nachts tippte sie für ein Seitenhonorar von 50 Pfennig die Doktorarbeiten der Studenten, die grüne Uniformen und überwiegend adelige Namen trugen. Einer hieß Kausch-Blecken von Schmeling. Nach der alljährlich am 3. November veranstalteten Hubertusjagd stießen er und seine Kommilitonen ins Horn und legten das zur Strecke gebrachte Wild der Größe nach auf dem mit Tannenreisig ausgelegten Rathausplatz ab. Die hochwohlgeborenen Jäger überließen den Institutsdienern, Putzfrauen und Schreibkräften die Innereien, und so aßen wir bis Sylvester Herzragout, Lungenhaschee und bleigesättigte Hasenleber.
Das erste Mädchen, zu dem ich mich anhaltend hingezogen fühlte, war die Tochter eines ortsansässigen Hoteliers, dem ich mich durch das Abspülen der Biergläser im Schankraum der neben dem Beherbergungsbetrieb gelegenen Gaststätte Zum letzten Heller zu empfehlen suchte. Obwohl mich mit dem Mädchen nur ein einziger und zudem geraubter Kuss verband, schaute ich noch Jahre nach ihrer Eheschließung mit einem nordrhein-westfälischen Landesforstmeister jedem vorbeifahrenden Auto hinterher. Sie fuhr einen weißen Ford Taunus mit dem Kennzeichen HMÜ-C 197.
Da ich mich in den irdischen Belangen schwer tat, bemühte ich mich nach der Mittleren Reife um die Aufnahme in die Luftwaffe; eine erdenthobenen Teilstreitkraft, der ein Bruder meiner Mutter bis zu seinem Abschuss über Bamberg im April 1945 als Nachtjäger angehört hatte. Vier Wochen später erhielt ich den Musterungsbescheid und wurde wegen fehlender körperlicher und geistiger Eignung der Ersatzreserve II zugeteilt; einer lächerlichen, lediglich auf dem Papier existierenden, mit weiß übertünchten Wehrmachtshelmen und Klappspaten auszurüstenden Truppe, die im Fall eines Atomkrieges für das Sortieren der sterblichen Überreste der Zivilbevölkerung ausersehen war.
Kurzsichtig, übergewichtig, neidzerfressen und hasserfüllt wie ich war, zertrümmerte ich an einem Dezemberabend mit zwei aus nassem Schnee geformten Eisbällen das im ersten Stock einer neogotischen Gründerzeitvilla gelegene Erkerfenster meines ehemaligen Lateinlehrers, der mich mit herablassendem Sarkasmus zu traktieren pflegte, weil er wusste, was ich wusste. Dass er sich nämlich 1944 von einem mit seiner Familie befreundeten Medizinalrat einen Herzfehler hatte attestieren lassen, um nach dem Notabitur dem Wehrdienst zu entgehen. Zwei Drittel seiner Klassenkameraden, darunter einer meiner Onkel, waren an der Ostfront gefallen oder vermisst.
Das Geräusch des zersplitternden Glases, der Aufschrei des Simulanten, das plötzliche Verlöschen des zwölfarmigen Kronleuchters, unter dem sich der aufgeschwemmte Junggeselle mit seiner Mutter und den "Himmlischen Moseltröpfchen" seiner unverdienten Bettruhe entgegensoff, kurzum: die Verbreitung von Angst und Schrecken im Schutz der Anonymität, erfüllten mich mit tiefer Genugtuung. Rache für alles.
Im Januar 1968, der Monat, in dem ich meine Volljährigkeit erlangte, deutete nichts auf die zukünftige Zugehörigkeit zur Neuen Linken hin.
Auf dem von meiner Mutter arrangierten Geburtstagsfoto saß ich, umrahmt von Alpenveilchen und Dieffenbachia, im Wohnzimmer und blättere gedankenverloren in Rainer Maria Rilkes Buch vom mönchischen Leben. Um die Aufmerksamkeit des imaginären Betrachters -es wird wohl eher eine Betrachterin gewesen sein- auf die hohe Denkerstirn zu lenken, half ich mit dem Rasierapparat nach und verlegte den äffischen Haaransatz einen Zentimeter nach hinten. Die mit Drei-Wetter-Taft gebändigte und nachts mit einem Haarnetz in Form gehaltene Elvis-Tolle stellte die musikalischen Vorlieben aus, mit der getönten Brille fühlte ich mich habituell gleichzeitig James Dean, General Mac Arthur und den französischen Existenzialisten verbunden. Die schmale Krawatte stammte von James Bond, das Spiel der Kiefermuskeln von John F. Kennedy und der dreiteilige Trevira-Anzug von C&A.
Ich weiß nicht mehr, was sich hinter der kosmetisch vergrößerten Stirn verbarg, aber ich nehme an, dass das dort zu verortende angelesene Gedankengut ein relativ getreues Abbild meiner zerklüfteten Außenansicht darstellte: Otto Skorzenys "Meine Kommandounternehmen" neben James Baldwins "Fire next Time", Jacques Préverts "Gedichte und Chansons" neben Gerd Gaisers "Die sterbende Jagd", Hildegard Knefs "Der geschenkte Gaul" neben Jean-Paul Sartres "Die Wörter", das Stuttgarter Schuldbekenntnis der EKD neben Hans Sedlmayrs "Verlust der Mitte" und Falladas "Damals bei uns daheim" neben Kurt W. Mareks "Wir hielten Narvik."
Es wäre vermessen, diesem Portrait eines Altachtundsechzigers als junger Mann eine über sich selbst hinausweisende Bedeutung beizumessen, aber ich glaube dennoch, dass diese Momentaufnahme einer adoleszenten Verwirrung, ein dem Prinzip der Nachträglichkeit folgender, der permanenten Überschreibung konkurrierender Erinnerungsspuren entsprungener Text, durchaus zur Erhellung der Motive beizutragen vermag, die wir uns, die mit der undankbaren Rolle der niederen Chargen abgefundenen Akteure der Bewegung, seit nunmehr 40 Jahren unter einem Schleier der historischen Selbstbeweihräucherung krampfhaft zu verbergen suchen.
Wenn Wolfgang Kraushaar, der rührige, für das Hamburger Institut für Sozialforschung tätige Eckermann der deutschen Protestbewegung in einem Akt treuherziger Historienmalerei versichert, dass die von uns hervorgebrachten Errungenschaften "der Selbstinitiative, Mündigkeit, Zivilcourage, Verantwortlichkeit und des Nonkonformismus" entscheidend zur "inneren Verwestlichung und Demokratisierung" der bis 1968 lediglich "äußeren Westbindung" der Bundesrepublik beigetragen und eine "Art soziokultureller Nachgründung" bewirkt hätten, spricht er nicht nur den Vertretern einer dauersensiblen, den Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns verpflichteten Geschichtsschreibung, sondern gewiss auch vielen meiner ehemaligen Mitstreitern aus der Seele, die sich gegen Ende ihrer Erwerbsbiografie in einer heroischen und widerspruchsbereinigten Lebensgeschichte einzurichten suchen, deren Geradlinigkeit von rechts unten nach links oben in dem Bestseller unseres Götterlieblings Joschka Fischer seinen exemplarischen Ausdruck findet: "Mein langer Lauf zu mir selbst".
Dass mir ein solch tröstlicher Modus der Vergegenwärtigung der Vergangenheit nicht zur Verfügung steht, kann viele Gründe haben. Mag sein, dass es der notorisch schale Nachgeschmack ist, den Veteranentreffen im allgemeinen und Zusammenkünfte ergrauter Street fighting men im besonderen zu hinterlassen pflegen. Mag sein, dass es sich um eine konstitutionell bedingte Griesgrämigkeit handelt oder ganz einfach um eine dem neuronalen Verfall geschuldete Mehrung des Langzeitgedächtnisses, die mich daran hindert, in dem gleichermaßen redundanten wie philiströsen Skript der linken Standardbiografie ein warmes Plätzchen zu finden. Der große Essayist Alexander Kluge hat in dem schmalen Bändchen über "Die Kunst, Unterschiede zu machen" zu verstehen gegeben, dass es ihm Zeit seines Lebens nicht gelungen sei, sich mit dem Schicksal seines von Bombenangriffen zerstörten Heimatstädtchens Halberstadt und dem seiner Bewohner abzufinden. Kluge notiert:
"Ich finde es notwendig gegen Luftangriffe, gegen die Strategie von oben, etwas zu schreiben, eine lange Geschichte zu schreiben. Wie eine Lehrerin in Halberstadt mit vier Kindern im Keller sitzt und sie, während die Bomben fallen, nicht einmal beten kann, weil sie nicht weiß, was sie damit anrichtet. Vielleicht trifft sie die Bombe gerade dann, wenn sie jetzt hier mit einem Gebet herumrangiert.. Von da aus entsteht jetzt ein intensiviertes Gefühl- das, wenn es immer weiter getrieben wird, zu einem Gedanken führt. Das sind nichts anderes als kristallisierte Gefühle. Ich muss immer einen Grund haben für einen Gedanken, ein Motiv. Wenn ich nicht in Not bin, habe ich auch keine guten Gedanken."
Weil wir, die betagten Kombattanten der Jahrgänge 1940 bis 1950, mit der Not, in der wir waren, diesem aus physischen und psychischen Verwüstungen nie gekannten Ausmaßes erwachsenen Alptraum der Nachkriegszeit, nach wie vor so umgehen, als habe es diese Not nie gegeben oder als ließe sie sich im blassen Begriff des objektiven Faktors Subjektivität verräumen, lässt beides auf sich warten: das Gefühl und der Gedanke, von den guten ganz zu schweigen. Der ehemalige Vizekanzler und Häuserkämpfer Fischer distanziert sich am Pranger stehend stammelnd "voll inhaltlich von der "Militarisierung unserer Köpfe" und der "damit einhergehenden Militanz"; der neunfache Mörder Christian Klar hingegen empfindet überhaupt nichts. Keine Schuld. Keine Reue. Kein Mitleid. "In dem politischen Raum, vor dem Hintergrund von unserem Kampf", gibt er 2001 zu Protokoll" sind das keine Begriffe."
Wie das Ungeschehenmachen des heulenden Elends durch einen Akt der grandiosen Selbsterzeugung funktioniert, hat Thomas Mann 1938 in unnachahmlicher Weise am Beispiel eines uns allen bekannten geborenen Verlierers demonstriert, der sich in der Zwischenkriegszeit, 50 Jahre vor Konstitution der RAF, den stählernen Panzer des Berufsrevolutionärs zulegte und beschloss Politiker zu werden. Thomas Mann schreibt:
"Es ist auf eine beschämende Weise, alles da: die "Schwierigkeit", Faulheit und klägliche Undefinierbarkeit der Frühe, das Nicht-unter-zu-bringen-sein, das Was-willst-du-nun-eigentlich?, das halb blöde Hinvegetieren in tiefster sozialer und seelischer Boheme, das im Grunde hochmütige, im Grunde sich für zu gut haltende Abweisen jeder vernünftigen und ehrenwerten Tätigkeit- auf Grund wovon? Auf Grund einer dumpfen Ahnung, vorbehalten zu sein für etwas ganz Unbestimmbares, bei dessen Nennung, wenn es zu nennen wäre, die Menschen in Gelächter ausbrechen würden. Dazu das schlechte Gewissen, das Schuldgefühl, die Wut auf die Welt, der revolutionäre Instinkt, die unterbewusste Ansammlung explosiver Kompensationswünsche, das zäh arbeitende Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, zu beweisen, der Drang zur Überwältigung, Unterwerfung, der Traum, eine in Angst, Liebe, Bewunderung, Scham vergehende Welt zu den Füßen des einst Verschmähten zu sehen...Das al fresco, der große historische Stil, ist ja nicht Sache der Person, sondern des Mediums und Wirkungsgebietes: der Politik oder Demagogie, die es auf eine lärmende und opferreiche Weise mit Völkern und vielumfassenden Massenschicksalen und deren äußere Großartigkeit gar nichts für die Außerordentlichkeit des seelischen Falles beweist, das eigene Format dieses effektreichen Hysterikers .- Aber auch die Unersättlichkeit des Selbstverherrlichungstriebes ist da, die Ruhelosigkeit, das Nie-sich-Genüge-Tun, das Vergessen der Erfolge, ihr rasches Sich-Abnutzen für das Selbstbewusstsein, die Leere und Langeweile, sobald nichts anzustellen und die Welt nicht in Atem zu halten ist, der schlaflose Zwang zum Immer-wieder-sich-neu-beweisen-Müssen ..."
Man tut dem nach wie vor atemberaubend riskanten Psychogramm dieses deutschen Großschriftstellers, der in einem qualvollen Prozess der Selbstaufklärung im Laufe eines halben Jahrhunderts das gesamte politische Spektrum seiner Zeit durchmessen hat, hoffentlich nicht allzu viel Gewalt an, wenn einem nach der Lektüre nicht nur der "Bruder Hitler" und der etwas kleinformatigere Dandy der Finsternis, Andreas Baader, in den Sinn kommt, sondern auch die Leichen, die sich während der roten Dekade selbst im Keller eines kleinen Hellebardenträgers des großen Weltrevolutionstheaters sammelten.
Nach zwei isolierten Semestern im Studentenwohnheim wurde ich 1971 in eine Frankfurter Wohngemeinschaft aufgenommen, deren Bewohner sich stillschweigend darauf verständigt hatten, ihr Liebesleben nach dem Modell der so genannten offenen Zweierbeziehung zu organisieren. Am Ende des Flurs hatte sich ein Pärchen eingenistet, dass zunächst dadurch auffiel, dass es in Bezug auf die politische Arbeit eigene Wege ging und die systematische, schulungsmäßige Lektüre der Marxschen Frühschriften und des Grundwissens des jungen Kommunisten in Frage stellten.
Als die Genossen, die bald keine mehr sein sollten, dazu übergingen, die Zahlungen in die Gemeinschaftskasse einzustellen und im Kühlschrank die Frischhalteboxen mit ihren Namen versehen, in dem schwer zugänglichen hinteren Regalbereich unterzubringen, wurden sie beim nächsten jour fixe vor die Wahl gestellt, ihre Privatisierungsbestrebungen einzustellen oder die WG zu verlassen. Um mich für den eigenen Verbleib in der Gruppe zu empfehlen - ich hatte seinerzeit weder eine offene noch eine andere Zweierbeziehung nachzuweisen - legte ich argumentativ nach und konfrontierte das Paar mit den Erkenntnissen, die ich aus der Lektüre von Wilhelm Reichs "Was ist Klassenbewusstsein?" gezogen hatte: die Gesellungsform der bürgerliche Kleinfamilie als Brutstätte des alten und neuen Faschismus. Weil das verstockte Paar keine Einsicht zeigte und das Zimmer am Ende der Flurs verwüstet zurückließ, wies ich alle Versöhnungsversuche zurück und wechselte die Straßenseite, sobald ich der beiden ansichtig wurde. 1980 erlag der geschiedene Genosse und zweifache Vater bei seiner Arbeit in einem sozialen Brennpunkt einem Herzinfarkt. Von einem Beileidsbesuch habe ich abgesehen.
Um die Teilnahme an einem europäischen Jugend-Festival der "Unita" im leuchtend roten Bologna zu finanzieren, heure ich zum Winterschlussverkauf des Jahres 1972 als Aushilfskraft beim Versandhaus Neckermann auf der Frankfurter Zeil an: fadenscheinige, olivgrüne Teppichfließen sollen zum Aktionspreis von 2 Mark pro Quadratmeter an den Mann gebracht werden. Glockenschlag 9 Uhr stürmen kaufwillige Konsumenten den riesigen Krabbeltisch; mein Versuch, die anbrandende Massen von der Minderwertigkeit des Bodenbelags zu
überzeugen, steigert ihren Kaufrausch ins Unermessliche und binnen zwei Stunden hat die letzte Fließe den Besitzer gewechselt.
Ich blicke in die von Gier und Dummheit entstellten Gesichter der Menschen, die von der Illusion der Verschönerung ihres tristen Interieurs nicht lassen wollen und gerate in einen bolschewistischen Tagtraum. Die Veredelung dieser korrumpierten, ständig unter dem Niveau der Geschichte agierenden deutschen Arbeiterklasse zum revolutionären Subjekt ist nur durch einen Gewaltakt vorstellbar: Umerziehungslager oder Genickschuss.
1973 wird mir als Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung die Stelle eines Landesbildungssekretärs der Berliner "Falken" angeboten, die ich auf Empfehlung eines Funktionärs der IV. trotzkistischen Internationale mit der Auflage annehme, den sozialdemokratischen Jugendverband zu unterwandern und die mir anvertrauten Jugendlichen an das Gedankengut Ernest Mandels heranzuführen. Meine erste Aufgabe besteht darin, zusammen mit anderen studentischen Kadern 250 trinkfreudige Berliner Arbeiterjugendliche mit einem Sonderzug durch die DDR in ein Ferienlager nach Südschweden zu überführen.
Da ich Arbeiter nur aus den Theorieseminaren des sozialwissenschaftlichen Oberseminars kenne, habe ich Mühe, mich den Objekten meiner Agitation verständlich zu machen und bin dankbar, in Gestalt eines jungen Genossen, den alle Lisse nennen, auf einen fähigen Übersetzer und treuen Begleiter zu stoßen, der die Peinlichkeit meiner Auftritte abfedert.
Lisse, dessen alleinstehende Mutter bei Bolle im Wedding als Putzfrau arbeitete, hatte eine große Schnauze, ein großes Herz und eine große Liebe, die leider unerwidert bleibt. Vier Wochen nach der Rückkehr aus dem Lager bricht Lisse nachts in einen Kiosk ein, um von dem Erlös des Diebesgutes Geschenke zu kaufen, mit denen er die Zuneigung des Mädchens zu erringen hoffte. Auf einer außerordentlichen Sitzung des Landesvorstands, an der auch die Sekretäre teilnehmen, wird Lisse ohne Anhörung der kurze Prozess gemacht. Er habe sich wegen eines massiven Verstoßes gegen die proletarische Moral der Mitgliedschaft in einem sozialistischen Jugendverband als unwürdig erwiesen und werde mit sofortiger Wirkung ausgeschlossen. Der Beschluss erfolgt einstimmig. Nach seiner Exkommunikation rutschte Lisse ab und hält sich and der Flasche fest. Seine Mutter findet ihn im Februar 1974 erhenkt in der Hütte einer Schrebergartenkolonie. Er hat seinen 18. Geburtstag um eine Woche verfehlt.
1975 erhalte ich als Mitglied des ansonsten von der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin dominierten Fachschaftsrates eine Einladung zu einem politischen Gedankenaustausch mit dem Zentralrat der Freien Deutschen Jugend in Potsdam. Im Foyer der Pädagogischen Hochschule werden vorbereitete Erklärungen verlesen, welche die Völkerfreundschaft, die atomare Abrüstung und die Solidarität mit der chilenischen Arbeiterklasse zum Gegenstand haben. Wir besichtigen nacheinander frierende Krippenkinder beim Frühsport, ein Baukombinat, eine erweiterte Oberschule und eine Delegation von Jungen Pionieren aus Königwusterhausen, deren Uniformen in der Dämmerung an die HJ erinnern und die ein paar Gedichte von Brecht und Becher herunterleiern. Nach dem Abendessen unter dem Wandrelief von Rosa Luxemburg wird Sekt aus DDR-Produktion und grusinischer Brandy ausgeschenkt. Wir singen die Internationale, das Lied von der Arbeitereinheitsfront und den Moorsoldaten und zu später Stunde schneit der leibhaftige Erste Sekretär des Zentralrates der FDJ herein. Im Morgengrauen bestellt Egon Krenz ein Beefsteak Tatar für alle und als ihn die Objektleiterin darauf aufmerksam macht, dass die Hotelküche geschlossen ist, läuft der Stellvertretende Vorsitzende des Zentralkomitees der SED rot an und gibt der Frau, die er Genossin nennt, exakt zehn Minuten Zeit, das Gewünschte zu servieren. Ich sehe die wutweißen Knöchel der Hand, die ihren Unterarm umklammert. Ich sehe den von einem Raubtiergebiss gezierten Sozialismus mit menschlichem Antlitz und sage kein einziges Wort.
Beim wöchentlichen Elternabend des Kinderladens "Land in Sicht", taucht im November 1980 unangemeldet eine schwarze Botin der Roten Hilfe auf. Sie heißt Marie und teilt den Eltern mit, dass die Genossin Ilse S., Eingeweihten als "Baaders Nesthäkchen" bekannt, nach dreijähriger Isolationshaft unter Auflagen aus der Frauen- JVA in Frankfurt-Preungesheim entlassen werden soll. Eine der Auflagen bestehe im Nachweis eines Arbeitsplatzes und da die Genossen von der Roten Hilfe in Erfahrung gebracht hätten, dass bei uns eine zweite Bezugsperson gesucht werde, erwarte sie, dass wir uns gegenüber einem Opfer der Klassenjustiz solidarisch zeigten und Ilse am 1.Dezember anfangen könne. Meine kleinlaut vorgebrachte Frage, ob Ilse vor ihrer Knastzeit schon einmal etwas mit Kindern zu tun gehabt habe, wird von der resoluten Quartiermacherin vom Tisch gefegt::
"Ich bin doch nicht hierher gekommen, um mir das straighte Gelabere von irgendeinem bürgerlichen Chauvischwein und Hirnwichser reinzuziehen, bei dem alles um die eigene Brut kreist und der zu blöd ist , zu raffen, was zwei Jahre Isolationsfolter für einen gefangenen Kämpfer bedeuten."
Ende der Durchsage - Harald, unsere erste Bezugsperson, ein ausgebrannter Junkie, dessen Verdienst darin besteht, der älteste überlebende Heroinabhängige Frankfurts zu sein, kommt mit der depressiv erstarrten Ex-Terroristin gut aus. Die beiden hocken im Schneidersitz kettenrauchend vor dem Nachspeicherofen des Spielzimmers und ihr erloschener Blick gleitet interesselos über die ihnen anvertrauten Kinder hinweg. Von uns, den alternativen Sorgeberechtigten, hat dieses trostlose , in Rauch gehüllte Duo nichts zu befürchten.
1982 nehme ich meine Arbeit als Assistent am Psychologischen Seminar der TU Hannover auf. Eingeschüchtert von der stupenden Begriffsakrobatik meiner Kollegen aus dem sozialwissenschaftlichen Mittelbau, die im örtlichen Club Voltaire auftreten wie Reinkarnationen Theodor W. Adornos, freunde ich mich mit dem bodenständigen, aus einer norddeutschen Bauernfamilie stammenden Lehrer Fritz Rodewald an, der mir, dem fremdelnden Neuzugang in seiner Wohnung spontan eine Bleibe anbietet. Wenn ich im Gespräch mit den Kommilitonen aus dem Doktorandencolloquium den Namen meines freundlichen Gastgebers fallen lasse, blicken sie unter sich oder wechseln das Thema. Als ich Fritz Rodewald nach den Gründen für dieses irritierende Verhalten frage, vertraut er mir die Geschichte seiner sozialen Ächtung an.
Am 14. Januar 1975 steht nachts eine fremde Frau vor seiner Tür und fragt ihn, ob er vorübergehend ein Paar bei sich aufnehmen könne. Weil er zuvor einigen amerikanischen Vietnamdeserteuren auf der Flucht nach Schweden Unterschlupf gewährt hat, kommt ihm das Ansinnen der Frau zunächst nicht ungewöhnlich vor. Auf dem Weg zur Schule sieht er auf einer Litfasssäule ein Fahndungsplakat und ruft von einer Telefonzelle aus das Landeskriminalamt an, um seine Befürchtung mitzuteilen, dass Leute von der RAF beim ihm übernachten wollten.
Am Nachmittag des Tages erfährt er, dass die Polizei in seiner Wohnung Ulrike Meinhof überwältigt und verhaftet hat. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich das Gerücht , dass er, Fritz Rodewald, der Mann ist, der unsere Ulrike ans Messer geliefert hat. Er erhält Drohbriefe und anonyme Anrufe, wird von den Genossen gemieden und traut sich kaum noch aus dem Haus. Ich höre mir die Geschichte meines Freundes an und versichere ihn meines Verständnisses und meiner Anteilnahme. Er gibt mir ein Dach über dem Kopf. Ich esse weiterhin sein Brot und trinke seinen Wein und bin mir insgeheim mit den anderen einig: Er ist und bleibt ein Verräter.
"When the ballroom is empty and the music is over..." Ein Vierteljahrhundert nach Verklingen des letzten Akkords kommt man kaum um die bittere Einsicht herum, dass sich die charakterliche Mediokrität und ideologische Verführbarkeit des linken Sympathisanten von der des rechten Mitläufers lediglich durch den gesellschaftlichen Kontext und die seit dem Historikerstreit geltenden kollektiven Selbstdeutungsmuster unterscheiden. Von wenigen lichten Momenten humaner Gesittung abgesehen können beide für sich in Anspruch nehmen, für das Gute zu schwach und für das Böse zu feige gewesen zu sein.
Wen ich mich bilanzierend frage, welche Ereignisse mich zu dem haben werden lassen, der ich bin, ein vergrübelter, zur Schwermut neigender, mit einer gewissen Beredsamkeit ausgestatteter Einzelgänger auf dem Zwischendeck des hiesigen Kulturbetriebs, stellt das Faktum brutum der Judenvernichtung eine Quelle der Empörung dar, deren lebensgeschichtliche Nachträglichkeit und Mittelbarkeit ihre moralische Berechtigung zwar nicht schmälert, von der ich jedoch vermute, dass sie mir und vielen Angehörigen meiner Generation dazu gedient hat, der inneren Auseinandersetzung mit der Katastrophe des Krieges und den mit diesem Krieg verbundenen Verlusterfahrungen auszuweichen.
Am Ende seiner Ausführungen über Fischer in Frankfurt vermerkt Wolfgang Kraushaar, dass viele der großen und kleinen Akteure der Revolte bekennende Fans des Italo-Westerns gewesen seien und sich nicht entblödet hätten,
"mit diesen langen Ledermänteln aus den einschlägigen Streifen in der Öffentlichkeit herumzulaufen."
Ich habe Sergio Leones Spiel mir das Lied vom Tod seinerzeit so oft gesehen, dass ich dem Film mittlerweile wohl auch mühelos in der italienischen Originalfassung würde folgen können. In einer regelmäßig wiederholten, mit der Musik von Ennio Morricone unterlegten Rückblende, wird das Rachemotiv des namenlosen Mundharmonikaspielers unterstrichen: Ein Mann mit einer Schlinge um den Hals steht auf den Schultern seines Sohnes, der sich ebenso verzweifelt wie vergeblich gegen das Gewicht des erwachsenen Mannes stemmt, um ihn zu retten.
Der erste Schnitt ist der tiefste. Mein Vater. Das Frontschwein, der Kölsche Jong, der Spieler, der Säufer, der Versager. Ich hätte ihm alles verziehen, womöglich sogar den Mord, wenn er nur geblieben wäre. Telemach am Weserstrand. Die Revolution ist vorbei. Die Zeit vergeht. Die Trauer bleibt.