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Mitten im Alltag Indiens

Mit der "Stadt der wilden Hunde" widerlegt Martin Mosebach das Attribut, das dem Büchnerpreis-Träger in den vergangenen Jahren angeheftet wurde. Denn konservativ oder gar reaktionär verklärt sind seine Reisenotizen aus Indien nicht. In 21 Kapiteln erzählt er von einem Land auf der Höhe seiner Moderne - zwischen Handys und Tempelratten.

Von Ursula März | 09.06.2008
    Das letzte Kapitel des neuen Buches von Martin Mosebach, der im vergangenen Herbst mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, trät den Titel "Ein missglücktes Interview". Mosebach, der sich im Herbst 2006 auf Einladung des Goethe-Instituts in der indischen Hauptstadt Dehli aufhielt, reiste von da aus in die Provinzhauptstadt Bikaner in die Wüste und lebte für eine Weile im Haus eines dem indischen Bildungsbürgertum entstammenden Paares, um ungestört zu schreiben.

    Zurück in Dehli bittet ihn eine deutsche Radioreporterin um ein Interview. Sie fragt ihn nach seinen speziellen Erfahrungen mit der indischen Fremde, sie fragt ihn, wie er die kulturelle, politische und wirtschaftliche Situation Indiens einschätzt. Aber auf keine die-ser journalistischen Fragen hat der Schriftsteller eine befriedigende Antwort. Denn was er in Indien sah und hörte, hörte er nicht mit den Ohren eines Reporters und sah er nicht mit dem distanzierenden Blick des ethnologischen Forschers, sondern als Alltagsmensch, der im fremden Land, bei fremden Leuten einfach für eine Weile mitlebt.

    In 21 Kapiteln erzählt Mosebach von seinem indischen Alltag, staunt darüber, wie vertraut das Vertraute in der Fremde ist, der Klingelton der Handys seiner Gastgeber beispielsweise ist nicht anders als das Handygeklingel in einem Cafe im Frankfurt am Main, und staunt über das Befremdliche des Unvertrauten. Normalität und Exotismus, Globalität und nationale Einzigartigkeit sind in diesen Erzählessays eines aufmerksamen Beobachters und gebildeten Reisenden in jedem Absatz, ja in jeder Zeile verschränkt.

    Im Grunde, äußerte Martin Mosebach kürzlich bei einer Podiumsdiskussion, hätte dieses Buch auch in und über Pforzheim entstehen können, angenommen, er hätte sich für eine Weile der Fremde eines bürgerlichen Pforzheimer Haushaltes anvertraut und das Pforzheimer Leben geteilt. Auch dann hätte Mosebachs Hauptinteresse den religiösen Ritualen, Zeremonien, Festen und Örtlichkeiten gegolten.

    Wenn Mosebach die jeweilige Kultur des Heiligen beschreibt, streift er dabei das allgemeine Bedürfnis der Menschheit nach dem Heiligen - wie auch immer es sich ausdrückt. Ekel und Widerwillen muss der Autor überwinden, um in Bikaner barfuss einen Rattentempel zu betreten, dessen Name wörtlich zu verstehen ist. Dutzende, hunderte von Ratten huschen über den Boden und die Füße der Besucher, hängen in Bündeln am Rand einer mit Milch gefüllten Schale. Der Ort, an der der Ratte als Gottheit gehuldigt wird und die irritierende Tempelszenerie animieren den Abendländer zu einer Reflexion über die eigene Kultur, in der Ratten durchweg als eher abscheuliche Tierart betrachtet wer-den, als Allegorie des Bösen, Finsteren, Hinterhältigen - auch dann, wenn sie in klinischen sauberen Labors zu Versuchszwecken gehalten werden.

    Von dieser Überlegung ausgehend, fragt sich Mosebach, ob nicht folglich auch bei uns die Ratte in einem archaischen, kaum mehr erkennbaren Sinn eine, wenn auch negative Gottheit darstelle. Solche feinsinnigen interkulturellen Analysen halten sich die Waage mit Szenen, vor denen der Autor Mosebach steht, der Analphabet vor dem Buch der sieben Siegel. Ein Wechselbad zwischen Erkenntnis und Ignoranz - nichts anderes ist der Aufenthalt in der Ferne und in nichts unterscheidet sich der Reisende Mosebach darin von jedem anderen Reisenden.

    Gern wurde dem Büchnerpreis-Träger in den vergangenen Jahren das Attribut "reaktionär" angeheftet - oder zumindest "konservativ" - und damit unter anderem unterstellt, er utopisiere nicht- oder vordemokratische Strukturen und verkläre Gesellschaften, denen ein ausgeprägter Zug ins Traditionelle, Vormoderne anhaftet.

    Stärker noch als Martin Mosebachs in Indien und Frankfurt spielender Roman "Das Beben", der mit den jetzt erschienenen Reisenotizen "Die Stadt der wilden Hunde" in einem Produktionszusammenhang steht, eignen sich diese Notizen als Gegenbeweis für den politischen Reaktionsverdacht. Mosebach beschreibt Indien auf der Höhe seiner Moderne - zwischen Handys und Tempelratten.

    Martin Mosebach: Stadt der wilden Hunde. Nachrichten aus dem alltäglichen Indien
    Hanser Verlag, 2008, 171 Seiten