Freitag, 17. Mai 2024

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Mobbing und Gewalt in der Schule,

Erst gab es den Roman "Ich knall Euch ab". Der amerikanische Autor Morton Rhue, dessen Buch "Die Welle" über mögliche Ursachen von autoritärem und faschistischem Verhalten, in Deutschland zur schulischen Pflichtlektüre gehört und auch seinen Weg auf viele Bühnen gefunden hat, setzt sich darin mit dem Amoklauf von zwei Schülern an der Colombine High School in Littleton, Colorado, auseinander, bei dem 1999 13 Menschen getötet und 20 schwer verletzt worden sind. Dann gab es die Ereignisse vom 26.April 2002, an dem ein Schüler des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums in zehn Minuten 17 Menschen erschoss. Etliche Theater empfanden die Notwendigkeit, sich mit diesen Ereignissen zu beschäftigen. Nicht, indem einfache sozialpsychologische Erklärungsmuster bemüht werden, sondern indem das Theater eine offene, forschende Sicht auf die Ursachen solcher Ereignisse und Taten richtet.

Hartmut Krug | 21.02.2004
    So taten sich die Dramaturgen von gleich drei Bühnen aus Ost- und Westdeutschland zusammen und gewannen den Krimi-Autor und versierten Tatort-Drehbuchschreiber Felix Huby mit seinem Co-Autor Boris Pfeiffer dazu, für sie auf der Grundlage von Rhues Buch ein Stück zu schreiben. Ein Stück, das durch die Meldungen der letzten Wochen über die langdauernde Terrorisierung und Misshandlung von Schülern durch Mitschüler unvermutete schlimme Aktualität und Brisanz gewonnen hat. Die Ringuraufführung durch gleich drei Bühnen, durch das Düsseldorfer Schauspielhaus, das Theater der jungen Generation Dresden und das Volkstheater Rostock, begann gestern Abend fulminant in Rostock. Die Szene ist mit breiter Glastüren-Front der Eingang einer Goethes Namen tragenden Schule, in der der Amoklauf zweier Schüler stattgefunden hat. Nun sind nach Wochen alle äußeren Folgen in den Räumen beseitigt, und nach einer Feier mit Betroffenheitsreden soll alles wieder neu beginnen.

    Doch die Gründe, derentwegen Ben und Garri vor Wochen das Schulfest in der Turnhalle mit Pistolen gestürmt und, weil der Amoklauf behindert wurde, immerhin einen Jungen zum Krückstock-Krüppel geschossen haben, worauf sich einer der Amokläufer selbst erschoss und der andere von Mitschülern ins Koma geprügelt wurde, die Gründe für das gewalttätige Ausflippen zweier Schüler will keiner wirklich wissen. Weder die Lehrer, die, das die einzige Schwäche dieses sensibel-aggressiven Stückes, nur als naive oder dumm-quälerisch mit den stärkeren Schülern mitlaufende Klischee-Figuren gezeigt werden, noch die Schüler, von denen einige mit ihrem gewalttätigen Mobbing an der Katastrophe mit Schuld sind. Hinter der Glastürenfront erscheinen die beiden "Amokläufer" und versuchen, sich zu erklären:

    Regisseur Walter Meierjohann hat den reportageartigen Text, der in filmisch knappen Rückblende-Bildern versucht, Ursachen, Haltungen, Irritationen und Klischees auszustellen, in eine rhythmisch drängende, spannend konzentrierte Inszenierung übersetzt. Der Popsong "Bäng, bäng, he shot me down" durchzieht eine Inszenierung, in der zwei Schauspieler des Rostocker Volkstheater-Ensembles die Rollen einer Mutter und eines Lehrers geben. Alle anderen, vor allem Schüler-Rollen, sind mit jungen Schauspielstudenten des 2.Studienjahres der Rostocker Hochschule für Musik und Theater besetzt.

    Die sehr kräftige und direkte, manchmal aggressiv coole, aber auch emotional berührende Darstellung durch die Schauspielstudenten gibt der Inszenierung Authentizität und Lebendigkeit, ohne sich in falsches Abbild- oder Einfühlungstheater zu verlieren. Oft wird die Gestik bewusst übertrieben, und die Figuren sind deutlich typisiert. Vor allem aber fließen die kurzen, prägnanten Dialoge in dieser Inszenierung wunderbar durch die Körper der Darsteller. Ob Aggression oder Angst, Zweifel oder Wut: alles wird bildhaft sinnlich und wirkt nicht nur aufgesagt.

    Die Freundin des einen Täters, der sich als drangsaliertes Opfer einer gewalttätigen Clique nur den Ausweg in die Gewalt fand, versucht weitgehend vergeblich, Lehrer und Mitschüler zur Wahrnehmung oder zum Eingeständnis der wahren Ursachen der Ereignisse zu bringen. "Die Zukunft wächst aus der Erinnerung", meint sie, doch die anderen machen weiter mit mobbing Andersdenkender oder -seiender, mit Machoverhalten und Gewalt. Und der Lehrer, der die drangsalierten unter seinen Schülern beim Turnunterricht nie unterstützt, sondern eher auch nur zusätzlich gequält hat, er schwafelt von einer Schule, die wie ein Unternehmen geführt werden müsse, bei dem die Schüler die Produkte seien.

    Mit dem Trick, zwei als DJ´s für die Schulfeier kommende Mädchen zu weißbeflügelten Engelchen zu machen, die die Handlung kommentierend und agierend vorantreiben, bekommt die Aufführung einen wunderschön direkten wie zugleich distanzierten Witz. Die Szenen zwischen den Jugendlichen, in denen die Aggression und Ausgrenzung einiger durch eine gewalttätige Clique deutlich wird, besitzen drängenden Schwung.

    Wenn zum offenen Schluss sich alle, wahre Täter wie lebendige und tote Täter-Opfer, aber auch Mutter, Lehrer und Schüler, in einem zeitlupenhaft traumverlorenen Tanz finden, ist alles gesagt, aber nichts genau und endgültig erklärt. Für den Zuschauer bleibt so noch genug zu tun. In Rostock ist mit der Uraufführung von "Ich knall Euch ab" ein rundum gelungenes Theaterprojekt zu bewundern.