Archiv


Moderne Kammermusik für Cello und Streichquartett

Heute geht es um neue Aufnahmen aus dem Genre der Kammermusik. Da wäre zunächst einmal auf eine CD mit dem Titel "modern milestones" hinzuweisen, die bei Berlin Classics erschienen ist. Dahinter könnte man nun eher Jazz vermuten als Klassik; doch geht es in der Tat um Cellosonaten von Debussy, Prokofiev und Britten. Um es gleich zu sagen: Diese Einspielung des Cellisten Claudio Bohórquez und des Pianisten Markus Groh ist rundum bemerkenswert. Die zweite CD, über die Sie heute morgen informiert werden sollen, markiert den Beginn eines Projekts. Das Mandelring Quartett hat bei audite Vol I aller Streichquartette von Dmitri Schostakowitsch herausgebracht. Nun: Das Schostakowitsch-Jahr ist zwar schon einen guten Monat alt, aber an Einspielungen wird es zu seinem 100. Geburtstag nicht mangeln. Dass sich das Mandelring Quartett dazu hören lässt, kann man nur begrüßen. Wenn ein Ensemble mit so außerordentlicher Klangkultur sich des umfangreichen Quartettschaffens dieses Komponisten annimmt, darf man neue Hörerfahrungen gewärtigen.

Von Norbert Ely |
    Der Cellist Claudio Bohórquez gilt immer noch als Meisterschüler von Boris Pergamenschikow. Doch hat er sich längst emanzipiert. Kennzeichnend für ihn ist nicht zuletzt eine weitreichende Lust am Experiment. Auf eine sehr persönliche Weise vereint er den Ausdrucksreichtum und den quasi sprechenden Celloton der russischen Tradition mit der eleganten Sanglichkeit und geistvollen Virtuosität der romanischen Schulen. Bohórquez spielt in hohem Maß riskant, wenn er klangliche Mittel einsetzt, die eher geeignet scheinen, die große Form des Ganzen zu sprengen - und er hat dann eben doch immer wieder die Kraft, all das dann sehr wohl in die große Form zu zwingen. In Markus Groh hat er einen Partner, der am Klavier gedankenschnell zu nuancieren vermag, der mit glasklarer Virtuosität aber auch dem Pianoforte entlockt, was des Pianoforte ist: Kaskaden, glitzernde Passagen, stählern federnde Akkorde. Beim MDR in Leipzig fand er ein Instrument von ungewöhnlicher Strahlkraft, das, wenn nicht alles täuscht, seiner Herkunft nach nicht unbedingt zur Standardbewaffnung des erfolgreichen Pianisten zu rechnen ist. Aber auch Groh ist ein Musiker, der sich durch Experimentierfreude auszeichnet, was er nicht zuletzt Jahr für Jahr mit seinem Beversee-Festival beweist.

    Gute Voraussetzungen also für milestones. Claude Debussys Sonate für Violoncello und Klavier aus dem Jahr 1915 gewinnt eine geradezu befreiende Modernität.

    * Musikbeispiel: Claude Debussy - 2. Satz: Sérénade aus der Sonate für Violoncello und Klavier

    Claudio Bohórquez und Markus Groh mit der Serenade aus der Cellosonate von Claude Debussy. Benjamin Brittens Sonate in C op. 65 wird von diesen beiden als eine Folge von scharf pointierten Charakterstücken gedeutet, wobei die Struktur der Musik prägnanter zutage tritt als beim großen Vorbild und Widmungsträger Rostropowitsch. An dem kommt freilich keiner vorbei, der sich mit der großen Sonate C-dur op. 119 von Sergei Prokofiev einläßt. Bohórquez und Groh haben hier einen sehr, sehr weiten Atem. Fast möchte man von gelassenem Überblick reden, von Souveränität. Zugleich sind sie rascher in ihren Reflexen als die verehrten Altvorderen vor mehr als einem halben Jahrhundert. Der Eindruck des scheinbar Mühelosen bekommt dem Werk ausgezeichnet und nimmt dem unleugbaren Ernst viel von der Schwere der 50er Jahre. Ein Ausschnitt aus dem Finale.

    * Musikbeispiel: S. Prokofiev - 3. Satz (Ausschnitt) aus der Sonate C-dur für Violoncello und Klavier op.119

    Kein Zweifel, dass die Cellosonate von Sergei Prokofiev im Mittelpunkt der neuen CD steht, die der Cellist Claudio Bohórquez und der Pianist Marks Groh jetzt unter dem Titel "modern milestones" bei Berlin Classics veröffentlicht haben.

    Das Mandelring Quartett zeichnet mit seiner ersten CD der geplanten Anthologie sämtlicher Streichquartette Schostakowitschs hingegen einen langsamen und konsequenten Prozess nach. Es ist ein Prozess der emotionalen Verdichtung und zugleich der inneren Befreiung. Die CD, die bei audite erschienen ist, umfasst die Streichquartette Nr. 1 C-dur, Nr. 2 A-dur und Nr. 4 D-dur, also ein Werk aus der Vorkriegszeit, jedoch nach der ersten Maßregelung des Komponisten durch die "Prawda", ein Werk aus dem Kriegsjahr 1944 und ein Quartett aus der Zeit nach der zweiten Maßregelung. Natürlich wissen die Mandelrings um die biografischen Zusammenhänge. Aber sie tun das einzige Richtige: sie vertrauen der Musik. Sie spielen Schostakowitsch mit einer Noblesse der Tongebung und einer Delikatesse der harmonischen Beziehungen, als habe sich dieser Komponist in Wahrheit auf der Suche nach der verlorenen Zeit befunden. Und plötzlich atmet diese Musik eine innere Freiheit, gewinnen die Dissonanzen eine klangliche Schönheit, als seien diese Quartette nicht mehr von dieser Welt. Allenfalls ein leiser Grundton von tiefer Trauer zieht sich hindurch.

    * Musikbeispiel: D. Schostakowitsch - 3.Satz: Allegro molto aus dem Streichquartett Nr.1 C-dur op. 49

    Klingt der dritte Satz aus dem ersten Streichquartett von Dmitri Schostakowitsch in der Neuaufnahme mit dem Mandelring Quartett noch vergleichsweise verbindlich, so setzt die äußerst differenzierte Tongebung bei den Variationen im Finale des zweiten Streichquartetts jene untergründigen und bedrohlichen Energien frei, die sich überall im späteren œuvre dieses Komponisten finden. Auch hier freilich sorgt die ungewöhnlich sensibel ausgehörte Polyphonie für harmonische Beziehungen, die immer wieder von geradezu archaischer Schönheit sind.

    * Musikbeispiel: D. Schostakowitsch - 4. Satz (Ausschnitt) aus dem Streichquartett Nr. 2 a-dur, op. 68

    So vollendet das Mandelring das 2. Streichquartett von Dmitri Schostakowitsch spielt - am eindrucksvollsten gelingt ihm eben doch das vierte Quartett op. 83. Aus der kühneren, drängenden Harmonik entwickelt das Ensemble Klangfarben, die lichter erscheinen als in den Aufnahmen anderer Quartettformationen, reiner und klarer auch, und denen doch nichts an Prägnanz der Aussage, an konsequenter Haltung abgeht. Ein wenig spürt man den historischen Abstand. Aber das hat, wenn die Auseinandersetzung mit Vergangenheit auf einem so hohen instrumentalen und konzeptuellen Niveau erfolgt, durchaus seine Legitimation.

    * Musikbeispiel: D. Schostakowitsch: - 3. Satz (Ausschnitt) aus dem Streichquartett Nr. 4 D-dur, op. 83

    Das war die neue Platte im Deutschlandfunk. Zum Schluss hörten Sie das Mandelring Quartett mit dem dritten Satz, Allegretto, aus dem vierten Streichquartett D-dur, op. 83 von Dmitri Schostakowitsch. Die CD ist bei audite erschienen. Außerdem ging es heute um neue Aufnahmen mit dem Cellisten Claudio Bohórquez und dem Pianisten Markus Groh, die bei Berlin Classics herausgekommen sind. Am Mikrofon bedankt sich Norbert Ely für Ihre Aufmerksamkeit.

    "modern milestones"
    Claudio Bohórquez, Violoncello
    Markus Groh, Klavier
    Label: BERLIN CLASSICS
    Labelcode: LC 6203
    Bestell-Nr.: CD 0017832BC

    "Shostakovich - Complete String Quartets Vol I."
    Mandelring Quartett
    Label: audite
    Labelcode: 04480
    Bestell-Nr.: 95.526