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Monolog einer Sprachlosen

Eine junge alleinstehende Mutter zieht mit ihren drei Kindern in eine kleine Wohnung, arbeitet als Aushilfsfriseurin: In ihrem neuen Roman, "Die Haarschublade", gelingt es Emmanuelle Pagano, Lebens- und Liebesumstände, Wünsche und Obsessionen der Protagonistin zu schildern, ohne gönnerhaft sentimental zu werden.

Von Wolfram Schütte | 27.11.2009
    Als sie mit 15 Jahren Pierre, ihr erstes Kind, bekommt, muss sie von der Schule abgehen. Ohnehin hatte sie der Unterricht und die Bücher angeödet, denn sie wollte doch später nur eines: Friseuse werden. Als sie aber mit knapp 18 Jahren Titouan, ihren zweiten Sohn, in einer Neujahrsnacht zur Welt bringt, zieht die junge alleinstehende Mutter in eine winzige Bleibe im fünften Stück eines Hauses im "Zigeunerviertel" ihres mittelalterlichen Geburtsorts in Südfrankreich, durch dessen enge Gassen Touristen stolpern.

    Als sie 20 Jahre alt ist, hebt Emmanuelle Paganos schmaler Roman "Die Haarschublade” zu erzählen an: vom prekären Alltag der einsamen jungen Mutter, die als Aushilfsfriseurin arbeitet, aus einer örtlichen Polizistenfamilie stammt, und deren Mutter sich vornehmlich um Pierre gekümmert hat, nun aber den schwer gewordenen Fünfjährigen in ein Heim geben will.

    Denn Pierre, zu spät durch Kaiserschnitt in die Welt gekommen, ist ein sabbernder autistischer Idiot, den seine junge Mutter dennoch genauso liebt wie den quirligen Titouan - und den sie sich nicht wegnehmen lassen will. Pierre ist ein zwar schönes Kind, aber es hört und sieht und bewegt sich nicht, wimmert nur, wenn es nicht stumm ist. "Pierre ist ein Toter, der nicht tot ist. Ich frage mich, was leben heißt, wenn man so ist wie er”, äußert seine Mutter einmal im Verlauf ihres facettenreichen inneren Monologs, in dem sie ihre Lebens- und Liebesumstände, ihre Wünsche und Obsessionen, ihre Herkunft und ihre Zukunft als Sozialhilfeempfängerin vor uns skizziert.

    Das Buch besteht aus einer Schnittfolge kurzer sprachlicher Schraffuren. Sie sind teils erinnernden, teils gegenwärtigen Charakters, wobei die Erzähltempi so abrupt wechseln wie die Emotionen und Gedanken der ebenso selbstbezogenen wie zeitweise verwilderten jungen Solipsistin in der grauen Tristesse der südfranzösischen Provinz. Sie hat eine Obsession: Haare - die ihrer Kinder oder ihrer vorübergehenden Liebhaber oder die der Kundschaft im Frisiersalon. Eine eigene Haarsträhne wird ihr zum Fetisch, den sie in der Nachttischschublade versteckt.

    Die 40-jährige Emmanuelle Pagano, die eben den neu geschaffenen "Europäischen Literaturpreis” für ihre bislang fünf Romane erhalten hat, lebt selbst in Südfrankreich und ist Mutter von drei Kindern. Wollte sie einer Verwechslung des Romans mit ihren autobiografischen Erfahrungen entgegenwirken, indem sie das Buch ihrer "Nachbarin” widmet, "die es nicht mehr ist”? In einem hochtönigen Epilog bekundet sie ihre Bewunderung für deren Mut, Schweigsamkeit und Einsamkeit. Sie habe, erklärt Pagano schließlich, "diese Geschichte ohne jede Erlaubnis geschrieben - allein damit ich beim Überqueren des Hofs, bevor ich das Tor öffne, endlich - wenn auch verspätet - sagen kann, er ist schön, dein Sohn”.

    Im Roman selbst hat sie das nicht gesagt, obwohl sie ihrerseits als "Nachbarin”, die aufs Gymnasium geht und ständig in Büchern liest, von der Erzählerin immer wieder wahrgenommen und erwähnt, aber nicht angesprochen wird. Wahrscheinlich will Emmanuelle Pagano durch diese nachbarliche Spiegelung ihre literarische Scham bekunden, mit der "Haarschublade” ein authentisches Leben in ihrer nächsten Nähe literarisch "ausgebeutet” zu haben. Dabei hat sie es doch - in ihrer schlüssigen sprachlichen und gedanklichen Anverwandlung - eher erhoben und erhaben gemacht. Manchmal hat sie dabei die Rollenprosa eines simplen Herzens und Kopfes, deren Ton, Vokabular und emotionalen Haushalt sie doch so treffend beschwört, zugunsten poetischer Überhöhungen verlassen, wie zum Beispiel in solchen Metaphern: "Ihr Lächeln sinkt unter den Tisch” - "ein kleiner Luftmond wandert durch meinen Bauch” - "der mit schmutzigen Gewässern durchtränkte September” oder "Augen, die hinter Wolken versteckt bleiben”. Da bürdet die disziplinierte Autorin der handfest-schlichten "Nachbarin” momentweise zu viel von ihrer eigenen Sprachmächtigkeit auf.

    Aber Emmanuelle Paganos skrupulöse Poetik der Empathie bewahrt denn doch die menschliche Würde und den lakonischen Stolz ihrer Heldin; und sie schützt sie gegen einen literarischen Zugriff, der paternalistisch immer in Gefahr ist, bei der Hinwendung des Intellektuellen zu einem "gewöhnlichen Menschen” gönnerhaft sentimental zu werden. Emmanuelle Pagano "Die Haarschublade” ist ein unsentimentaler Bericht aus dem Lebensinnern der Sprachlosigkeit.

    Emmanuelle Pagano: Die Haarschublade
    Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger
    Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009, 135 Seiten, 16,90 Euro