Doch das groteske Geflügel bleibt roh und wird zum leibhaftigen Zeichen dafür, dass der Tod Einzug gehalten hat. Melancholie und Obszönität gehören zusammen in Franco Stelzers Roman. Dass in der Trauer zugleich eine befreiende Komik steckt, schildert der 48-jährige Italiener als eine der Grunderfahrungen seines Schreibens. Auch in seinem Leben folgte auf den Tod der Mutter ein Truthahn-Fiasko:
Dieser Truthahn war ein dickes Tier, ich glaube, der hat fünf Kilo gewogen, so ein enormes Ding. Das hat so eine Verwandlung erlebt, vom Essen ist der zu einer Leiche geworden. Aber es war da, und wir mussten irgendwie damit fertig werden. Und also, das war schon unsere Mutter. Die war da, und wir konnten sie nicht loswerden. Was wir natürlich einerseits nicht wollten, aber andererseits wollten wir uns auch von ihrer Figur befreien, weil wir weiterleben mussten. Das ist natürlich immer so bei Trauer.
Der Tod der Mutter holt alle Erinnerungen an die Bewusstseins-Oberfläche, die mit Körpersäften und Essritualen zu tun haben. "In Deckung zu gehen hat keinen Sinn", lautet das Motto des Romans, und deshalb lässt der Icherzähler keins der unheimlichen Details aus. Doch es geht Franco Stelzer nicht um den Schock-Effekt, sondern um eine Kinderperspektive, die das Anziehende in den Monstrositäten des Alltags entdeckt.
Dann habe ich gedacht, also als Kind sieht man schon etwas, was man später in dem Tod sehen kann. Nur kann man nicht das ganze Leben so die Sachen anschauen, das muss man irgendwann verdrängen, weil das wäre ansonsten unerträglich, dass man lebt und gleichsam gleichzeitig den Tod immer wieder sieht. Aber als Kind hat man diesen privilegierten Sichtpunkt und dazu wollte ich immer gehen, wenn ich darüber geschrieben habe, über Kindheit eben. Dieser Blick ist einfach phantastisch, hat etwas Harmloses, aber auch gleichzeitig unglaublich Sezierendes. Das ist etwas, das man dann eben im späteren Blick nicht mehr hat und nicht mehr haben kann.
Beeinflusst sieht sich der Autor, der in Trient als Lehrer und Übersetzer arbeitet, von Klassikern wie Dickens oder Salinger, aber auch vom Theater Werner Schwabs und Franz Xaver Kroetz'. Im Gegensatz zur "gioventù cannibale", einer Gruppe von italienischen Schriftstellern, die in den neunziger Jahren mit ihrem literarischen Kannibalentum bekannt wurde, rebelliert Franco Stelzer nicht gegen den guten Geschmack.
Interessiert bin ich nicht nur an den dunklen Seiten der Kindheit, sondern an den dunklen Seiten überhaupt. Es sind immer so diese kleinen Details, und winzige Erscheinungen, die mich interessieren, die meine Aufmerksamkeit so anziehen. Wie die Nase bei einer Leiche ein unglaubliches imposantes Aussehen hat oder die Ohren, oder die Augenlöcher.
"Das erste, merkwürdige, feierliche Weihnachten ohne sie" ist ein Roman, der dieses Schillern zwischen Faszination und Ekel auch formal kenntlich machen will. Viele Sätze fasern am Ende in drei Pünktchen aus und imitieren damit ein richtungsloses Tasten im Gedächtnis. Dieses Experiment gelingt nicht immer, denn die Bruchstücke zielen allzu oft auf den Ekel als Erinnerungsquelle. Am Ende wird überdeutlich, dass es der kindliche Forscherdrang speziell auf die Körperöffnungen im Gänsebraten abgesehen hat und dass die Cousinen grundsätzlich frühreif sind. Dennoch gelingt es dem Roman, eine Gefühlsmischung aus Neugier und Versagensängsten einzufangen, mit denen die Kindheit – oder besser: die Erinnerung daran – imprägniert ist.
Während das alles geschah, kam mir zu Bewußtsein, dass ich die ganze Zeit von nichts anderem geredet hatte als von verschiedenerlei Gestank und üblen Gerüchen. Von Fäkalien, Fleischbrühen, Waden, Schwappen ... von weißen hüpfenden Fleischmassen ... von fettigen Sehnen, von Töpfen und von Liebe ... von Truthähnen, Ratten, Versagern, verschrobenen Jungfrauen ... Und dabei ... Dabei wollte ich nur von Kindern reden.
Franco Stelzer: Das erste, merkwürdige, feierliche Weihnachten ohne sie. Roman. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Wagenbach, Berlin 2004. 128 S., 9,90 Euro.