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Moralisch im Recht

Susanne Schädlich ist die Tochter des Schriftstellers Hans Joachim Schädlich, der 1977 die DDR verlassen hat, und die Nichte des DDR-Historikers und Stasizuträgers Karlheinz Schädlich, der unter anderen Günter Grass bespitzelt hat. In "Immer wieder Dezember - Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich" stellt sie ihre Sicht der Dinge dar und liefert zugleich den Erfahrungsbericht einer Mitausgereisten und Mitbespitzelten, die mit den Entscheidungen ihrer Eltern zu leben lernen musste.

Von Ralph Gerstenberg | 14.05.2009
    Erstaunlich oft waren es die letzten vier Wochen eines Jahres, in denen das Leben von Susanne Schädlich eine entscheidende Wendung nehmen sollte. "Immer wieder Dezember" nannte sie deshalb ihr Buch, in dem sie über Ereignisse schreibt, die zu Eckpunkten ihrer Biografie wurden. Es geht um den Riss, den sie nach einem unfreiwilligen Leben in beiden deutschen Staaten noch immer spürt, um Fragen, die sie bis heute nicht loslassen.

    "Wo gehöre ich hin, wo komme ich her? Mir geht es um das, was war, und darum, wie es war. Davor und danach. Was hat das alles aus mir gemacht? In zwei Systemen zu leben, erst in der DDR, dann in der Bundesrepublik. Wie ist das einzuordnen?"

    Es begann im Dezember 1977, als Susanne Schädlichs Vater, der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich, als systemkritischer Autor und Biermann-Sympathisant mit seiner Familie die DDR verließ. 30 Jahre später, ebenfalls im Dezember, erschoss sich ihr 1992 als Stasimitarbeiter enttarnter Onkel Karlheinz Schädlich auf einer Berliner Parkbank.

    Dazwischen ein Leben mit Entscheidungen, die Susanne Schädlich nicht selbst getroffen hat, und die Suche nach neuen Wurzeln. Bereits in den zwölf Jahren, die sie in der DDR verbracht hat, lebte sie in einer Welt, die sie nur mit wenigen Gleichaltrigen teilen konnte. Leute wie Günter Grass, Uwe Johnson und Nicolas Born gingen in der elterlichen Wohnung ein und aus. Der Vater organisierte deutsch-deutsche Schriftstellertreffen, während die Tochter im Nebenzimmer mit anderen Schriftstellerkindern gespielt hat. Im Westen dann das Gefühl von Fremdheit und Sprachlosigkeit.

    "Ich fühlte mich als Halbmensch. Die eine Hälfte war in der DDR, die andere in der Bundesrepublik. Darüber redete ich nicht. Niemand redete darüber. Es war ein Kampf gegen die Sehnsucht nach dem vertrauten Leben, nach dem Einfach-mal-rum-Kommen, nach dem Klingeln nur so an der Tür, nach dem Blick in den Kühlschrank, ob man aus Resten noch ein Essen kochen konnte, nach unangemeldeten Besuchen. Wie oft musste ich mit der Mutter in Köpenick in der kleinen Küche stehen und schnell beim Broteschmieren oder Kartoffelschälen helfen. Hier musste man angemeldet sein, pünktlich erscheinen, nicht zu früh, nicht zu spät, entsprechend angezogen. Fast nie privat, sondern in Restaurants, und man wusste nicht zu bestellen, weil man die Gerichte nicht kannte."

    Die Passagen, in denen Susanne Schädlich ihre Verlorenheit in Westdeutschland beschreibt, gehören zu den eindringlichsten des Buches. Hier ist sie nicht auf die Erzählungen der Eltern, des Schriftstellers Hans-Christoph Buch oder von Lilo Fuchs, der Witwe des verstorbenen Regimekritikers Jürgen Fuchs, angewiesen, die sie für das Buch befragt hat, sondern beobachtet mit den Augen einer Heranwachsenden das langsame Zerbrechen der Familie - den Vater, der unter Schreibblockaden leidet, sich in seinem Arbeitszimmer verbarrikadiert und immer häufiger abwesend ist, die Mutter, die arbeitslos wird und für eine Stelle als Lektorin die Städte wechseln muss. Andere "Ausgereiste" wie der Liedermacher Gerulf Pannach werden in Westberlin zur Ersatzfamilie, der Onkel schafft die Verbindung zur alten Heimat. Von den Telefongesprächen und Treffen berichtet er - wie zuvor schon in Ostberlin - dem Ministerium für Staatssicherheit. Dort entwickelt man den Plan, Hans-Joachim Schädlich und später auch dessen Tochter Susanne zurück in die DDR zu locken.

    "Ich war froh, wenn er Zeit hatte, Besuche in Ost-Berlin trösteten mich über die Ungewissheit meiner Zukunft hinweg. Café Moskau, die Espresso-Bar, seine Wohnung. Seine Wege wurden meine Wege. Und außerdem, es war immer noch meine Stadt. Er wusste, dass ich Kostümbildnerin werden und dafür endlich schneidern lernen wollte. Dass ich immer noch keine Lehrstelle gefunden hatte in Westberlin. Dass ich ihn vermisste, und all die anderen auch. Dass ich hin- und hergerissen war. Ich bat ihn um Rat. Er sagte, er müsse darüber nachdenken.
    Als er nachgedacht hatte, sagte er: "Vielleicht könntest du einen Brief an den Oberbürgermeister von Ostberlin schreiben? In Prag kann man schließlich auch gegen Devisen studieren."


    Der Verrat des Onkels, der nicht nur seine Nichte der Stasi in die Hände gespielt, sondern die gesamte Familie und deren Freundeskreis - unter anderen auch Günter Grass - über Jahre bespitzelt hat, wird zum zentralen Thema in Susanne Schädlichs Buch mit dem etwas reißerischen Untertitel: "Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich". Die heute 43-jährigen Autorin, die elf Jahre in den USA gelebt hat, schreibt über den unter dem Decknamen IM "Schäfer" geführten Verwandten mit einer mitleidlosen Unversöhnlichkeit, die angesichts des Vertrauensmissbrauchs zwar verständlich erscheint, aber in ihrer Härte dennoch erschreckt. Susanne Schädlichs Buch ist weniger Reflexion als Reaktion - auf den öffentlichen Selbstmord des Onkels, den sie als "lauten Tod" bezeichnet, und auf Zeitungsartikel, die danach über ihn erschienen sind.

    "Ich bin bestürzt über die Bereitschaft, Entschuldigungen zu finden. Nach allem, was ich gelesen habe, macht mir die Nachsicht für solche wie den Onkel Angst, weil Fakten unter den Tisch fallengelassen, weil die Dinge kleingeredet werden, weil es zwischen Täter und Opfer sehr wohl einen Unterschied gibt. IM "Schäfer" hat kein Rätsel aufgegeben. Er hat uns unser Vertrauen gestohlen. Wir versuchten, mit dem Verrat fertig zu werden, unser Misstrauen nicht auch auf andere zu übertragen. Der Onkel war ein Dieb, er hat sich uns gestohlen."

    In den Artikeln, auf die sich Susanne Schädlich bezieht, die unter anderem in der "Berliner Zeitung" und im "Tagesspiegel" erschienen sind, liest man Fakten, die in der Täter-Opfer-Sicht der Autorin keinen Platz finden - dass der Onkel 1968 gegen den Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die CSSR protestiert hat, dass er daraufhin von der Stasi zur Zusammenarbeit erpresst wurde.

    Susanne Schädlich will keine Differenzierungen, keine Annäherung, zumal ihre Familie nach der Beerdigung des Onkels, an der sie nicht teilgenommen hat, sich dem Vorwurf der Kaltherzigkeit ausgesetzt sah. Sie weiß, dass sie moralisch im Recht ist. Aus dieser Haltung heraus erzählt sie ihre Geschichte. Ihr mit sperrigen Stasiprotokollen durchsetzter Erfahrungsbericht ist ein Beleg dafür, wie tief und unverheilt die Wunden auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall noch sein können.

    Susanne Schädlich "Immer wieder Dezember - Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich", Droemer Verlag, 240 Seiten, 16,95 Euro