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Mord in Nahaufnahme

Seit vier Jahrzehnten läuft sonntags fast immer der Tatort. Der Münsteraner Stephan Völlmicke hat einen ganz besonderen Blick auf den Kultkrimi geworfen. In seiner Dissertation beschreibt der Kommunikationswissenschaftler die Rolle des Todes und ihren Wandel im Laufe von 40 Jahren "Tatort" in der ARD.

Von Ulrike Burgwinkel | 12.01.2012
    Stephan Völlmicke hat 81 Tatortfolgen aus 40 Jahren analysiert, daraus 2200 Kameraeinstellungen als Bilddatei eingefroren und seziert. Bilder vom Angesicht des Todes.

    "Er hat einige klassische Werkzeuge der Filmanalyse benutzt, also Filmeinstellungen untersucht. In diesen Einstellungen hat er Kameraperspektive, Nähe zum Objekt, den Bildausschnitt und Ähnliches untersucht, natürlich auch die Position des gezeigten Objekts, also in diesem Fall der Leichen und hat dann noch Textanalysen gemacht. Filmanalyse ist eine hochkomplexe Methode."

    Sein Doktorvater Professor Joachim Westerbarkey.

    "Das ist schon enorm, 81 Filme zu untersuchen, das geht über das hinaus, was die meisten Filmanalytiker machen, auch wenn man es unter selektiven Gesichtspunkten macht. Das ist eine unglaubliche Arbeit, das muss man sich mal vorstellen, wie viele Stunden man braucht, um dieses Material zu sichten und dann die Stellen herauszufinden und diese dann auch noch zu vermessen."

    "Im Tatort vor 30-40 Jahren war die Präsentation der Leiche sehr zaghaft. Sie lag in der Regel entweder im Hintergrund, auf der Seite, oder wurde aus einer größeren Entfernung gefilmt. Großaufnahmen gab es selten zu sehen; wenn, nur für einen kurzen Moment und an der Fundstelle war auch in der Regel noch kein Gerichtsmediziner anwesend, sondern allenfalls ein Arzt."

    Stephan Völlmickes Ergebnisse zeigen deutlich: In den Anfangsjahren des "Tatortes" wurde ein eher dezenter Umgang mit dem Tod gepflegt, der pietätvolle Abstand zu den Kriminalitätsopfern gewahrt; nicht zuletzt um die Gefühle der Zuschauer nicht zu verletzen. Doch das hat sich geändert.

    "Heute, damit meine ich die letzten zehn Jahre, sind die Zuschauer den Leichen im Fernsehen im Tatort so nahe wie nie zuvor. Die Kamera rückt also immer an den toten Menschen, an die Leiche heran. Die Toten werden meistens in Nah- und Großeinstellungen gefilmt, zu sehen sind Details wie Hämatome, Kratzspuren, Obduktionsnarben."

    "Die Livoren sind noch zum Teil wegdrückbar und von rötlicher Farbe. Ein Foto von den Hämatomen bitte, wir röntgen den Thorax. Und das Bonbon steckte in der Speiseröhre, das Bonbon hat die Sache nur beschleunigt, erstickt wurde sie mit einem weichen Gegenstand. Der Todeszeitpunkt liegt zwischen 19 und 21 Uhr." ("Tatort" vom 4.9.2011 "Plattgemacht")

    Der Trend hat sich auch im Tatort gefestigt: Pathologen fungieren als Spezialisten und Helfer der Kommissare. In amerikanischen Serien wie "CSI" oder "Crossing Jordan" gehen Forensiker seit Jahren auf Spurensuche, der tote Körper dient dabei der Demonstration modernster Ermittlungsmethoden.

    "Die Toten lehren die Lebenden. In ihrem zukünftigen Beruf als Arzt betrachten Sie den Tod als ihren Feind, aber hier, hier in der Anatomie, ist er ihr großer Lehrmeister." (Tatort 10.3.2011 "Eine Leiche zu viel")

    Welcher normale Mensch kennt Polizeiarbeit aus eigener Anschauung, war schon einmal in der Gerichtsmedizin? Kaum einer der Millionen Tatortzuschauer. Medienwissenschaftler Joachim Westerbarkey:

    "Also bildet das Fernsehen sozusagen ein Schlüsselloch, wo man so etwas meint, beobachten zu können, weil es so inszeniert ist, dass es glaubwürdig erscheint.
    Diese Inszenierungen insgesamt erzeugen so eine Art Vorstellung, so ein Schema oder ein Framing beim Publikum, das ist die Arbeit der Polizei, das ist die Arbeit der Pathologie oder der Gerichtsmediziner. So sieht das aus. Keiner hat jemals ne gefrorene Leiche aus dem Kühlfach gezogen oder gerochen, wie es da riecht. Das sind für uns fremde Räume."

    Das genaue Hinschauen der Nahaufnahme perfekt geschminkter Leichen sei aber nicht purer Voyeurismus, meint Völlmicke, sondern ein Kennzeichen,

    "dass die Pathologie im 'Tatort' ein Ausdruck der zunehmenden medizinischen und naturwissenschaftlich geprägten Definition des Todes in der Gesellschaft ist und dass die ausgeprägten und direkten Darstellungen des Todes der Leichen im Tatort auch ein Ausdruck der Verdinglichung und Profanisierung des Todes in der Gesellschaft sind."

    "Ethylenglykol in hoher Konzentration vermischt mit Weißwein, das heißt: Nierenversagen, Leberzerfallskoma, Exitus." (Tatort 3.5.2009 "Borowski und die heile Welt")

    Nicht nur von Verdinglichung, von Verdrängung spricht der Kommunikationswissenschaftler. Die gesamte Bestattungskultur habe sich deutlich geändert. Vor 40 Jahren waren das Sterben und die Verabschiedungskultur von den Toten noch fester Bestandteil des gesellschaftlichen Umgangs mit Tod.

    "Wir haben Trauerriten, Trauersitten, die sich deutlich verändert haben. Wir haben in einem ganz großen Teil der Gesellschaft den Verlust der religiösen Sinngebung, wir haben eine Medikalisierung des Todes, eine Institutionalisierung. Über 80 Prozent der Menschen sterben in Hospizen, beziehungsweise Krankenhäusern. In ihrem Alltag haben sie keinen Todkontakt mehr."

    Danach greift die Bestattungsmaschinerie: sprich Bürokratisierung und Institutionalisierung. Für den Kommunikationswissenschaftler Völlmicke ist das kennzeichend für die Verbannung einer Grundkonstante menschlichen Daseins, der Antizipation des Todes. Auch des eigenen Todes.
    Dieser weiße Fleck wird gefüllt mit medialen Todesbildern. Der "Tatort" gilt aufgrund seiner von Produzenten wie Rezipienten beschworenen Authentizität als besonders geeignet, solche Bilder im Kopf des Zuschauers zu verankern.

    "Die Todesbilder, die in den Medien präsentiert werden, werden kultiviert und sie gehen auch in unsere Sozialisation ein. Auch wenn der Zuschauer sich im Klaren darüber ist, dass die Leiche fiktiv ist, stellt er sich trotzdem vor, dass der Handlungsort, die Gerichtsmedizin, die Geräte, die dort liegen, die Ausstattung in der Realität auch so wären, dass eine Leiche, wenn sie Obduktionsnarben hätte, wenn sie in der Realität eine echte Leiche wäre, dass sie genau so aussehen würde wie die fiktive Leiche. Das heißt, eigentlich geht dieses naturwissenschaftlich geprägte Bild von der Leiche wieder in unseren Erfahrungsschatz ein und damit in unsere Mediensozialisation und somit auch in unsere Lebenswelt."

    Letztlich, resümiert Völlmicke, wird der medialen Todesdarstellung Wirklichkeitsstatus zugeschrieben. Es klingt paradox: Je mehr Tod und Sterben heute aus unserem Alltag verschwinden, desto präsenter sind sie in den Medien und werden auf diesem Vermittlungsweg wieder Teil des Alltags für Millionen von Fernsehzuschauern.