Freitag, 19. April 2024

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"Morgen und Abend" in Berlin
Der Versuch, einen Blick hinter den Tod zu werfen

"Morgen und Abend" ist Georg Friedrich Haas siebte Oper. Er fühlt sich angezogen von dunklen Themen: Die Opern kreisen um Gewaltverbrechen, Krankheit, geistige Umnachtung und – immer wieder – um den Tod. Die deutsche Erstaufführung fand am Haus Deutsche Oper in Berlin statt.

Von Julia Spinola | 30.04.2016
    Nachtaufnahme der Deutschen Oper am 13.09.2012 in Berlin. Die Deutsche Oper feierte am 20. und 21. Oktober 2012 ihr hundertjähriges Jubiläum.
    Nachtaufnahme der Deutschen Oper Berlin im September 2012 (picture-alliance / dpa-ZB / Britta Pedersen)
    Das Leben beginnt mit einer Qual: Zu lautem Paukengetöse und glissandierenden Streicherklängen rutscht der kleine Johannes in die Welt. Offstage natürlich. Aber dennoch sind wir dabei. Denn Klaus Maria Brandauer erzählt uns im Melodram-Prolog der Oper mit melodiöser Sprechstimme von der Viecherei, die dieses vermeintliche Glück für Mutter und Kind in Wahrheit bedeutet: Schmerzen, Ängste, ein Trennungstrauma. Dann kommt das Schlimmste: Kaum geboren, ist das Leben auch schon wieder vorbei. Jedenfalls in dieser Oper. Denn von nun an wandelt der erwachsene Johannes als kalkweißes Gespenst über die karge Bühne, begegnet seiner ebenfalls schon gestorbenen Ehefrau Erna, läuft einmal durch seine erschaudernde Tochter Signe hindurch und entschwindet schließlich an der Hand seines toten Freundes Peter ins Nichts. Stimmlich immerhin erweisen sich die Figuren dank einer fabelhaften Premierenbesetzung, zu der die Sopranistin Sarah Wegener und der Bariton Christoph Pohl gehören, als höchst lebendig.
    Ausstattung spielt alle Varianten der Farblosigkeit durch
    Alles trägt sich in einem Niemandsland zwischen Leben und Tod zu, in einem Zustand der dauerhaften Dämmerung. Richard Hudsons Ausstattung spielt alle Varianten der Farblosigkeit durch, vom Kreideweiß der Möbel bis zum Aschgrau der Strickjacken. Regisseur Graham Vick lässt die Untoten vielsagend teilnahmslos aneinander vorbeiagieren. Ein Schifferboot, ein Bett und eine funktionslos auf der Bühne herumstehende Tür symbolisieren Orte des Übergangs. Bleibt noch ein rätselhafter Einkaufswagen, den die Tochter Signe einmal hin und herschiebt. Viel scheint man nicht vom Leben mitgenommen zu haben, denn er ist ganz leer.
    Jan Fosses Roman erzählt die Geschichte als Rückblick des greisen Johannes auf sein Leben ohne Punkt und Komma in einem einzigen Textstrom, der einen gewissen Sog entwickelt. In der Oper dagegen wirken die isoliert herausgestellten und zum Teil quälend oft wiederholten Sätze mitunter schrecklich banal: wenn etwa minutenlang vom Haareschneiden die Rede ist, das eigentlich hätte erfolgen sollen, nun aber nicht mehr möglich ist. Es hat etwas gewollt Depressives, wie hier das Leben auf ein Mindestmaß kreatürlicher Prozesse reduziert werden soll.
    Georg Friedrich Haas mißglückt der Blick ins Jenseits
    Geburt und Tod, die großen Mysterien des menschlichen Daseins und die Metaphysik waren immer schon privilegierte Themen in der Kunst. Von allen Kunstformen eignet sich die Musik in ihrer Fluidität besonders gut, um einen Blick ins Jenseits zu werfen – so wie es Haas in seiner Oper versucht. Das Ohr ist das erste Sinnesorgan, das im Mutterleib erwacht, und auch das letzte, das uns im Sterben verlässt. Trotz dieser Affinität der Musik zur Sphäre des Unendlichen, ist Haas sein Unternehmen missglückt. Dies vor allem, weil die Komposition auch ihre leicht groben, kunstgewerblichen Seiten hat -- bei aller klanglichen Raffinesse, die Michael Boder am Pult des Orchesters der Deutschen Oper zur Geltung bringt. Denn Haas verzichtet in dieser Partitur aus aufführungspragmatischen Gründen über weite Strecken auf die Differenzierung des Klangs durch Mikrotöne, wie er sie in anderen Werken eindrucksvoll verwendet hat. Die Klangflächen schieben hier sich in Clustern oder in auskomponierten Glissandi voran wie wuchtige Gletscher. Hier und da werden Quinten und Oktaven als diatonische Pflöcke ins Klangmassiv geschlagen. Das mag dem Ohr Halt bieten, trägt aber kaum einen Abend von 90 Minuten Dauer. Haas Musik badet eher obsessiv in Qual und Leid, als dass sie ins Metaphysische vordringe. Bis über die Schmerzgrenze sollen die gleißenden Orchestercluster im vierfachen Forte gehen, wenn Johannes ins Jenseits segelt. Doch es hat auch etwas Unappetitliches, wie hier die intimsten Momente im Leben eines Menschen voyeuristisch ins Rampenlicht gezerrt werden.