Wolfgang Labuhn: Es war keine glanzvolle Woche für die Große Koalition, Herr Müntefering – mäßige bis schlechte Ergebnisse bei den Wahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, Meinungsumfragen, die Ihre Partei, die SPD, aber auch die Union, bei jeweils 30 Prozent ansiedeln, und dann auch noch ein ziemlich handfester Krach zwischen Unionspolitikern und SPD-Politikern wegen der geplanten Reform des Gesundheitswesens. Da war dann von einer Koalitionskrise die Rede, schließlich am Freitag ein Krisengespräch zwischen SPD-Chef Kurt Beck und Bundeskanzlerin Angela Merkel, der CDU-Chefin. Wo ist die Große Koalition eigentlich nach zehn Monaten angekommen?
Franz Müntefering: Im Augenblick sicher in einer schwierigen Phase, das kann man überhaupt nicht verkennen. Aber ich bin da ganz zuversichtlich, man darf das auch nicht dramatisieren. Wir haben uns bei dieser Gesundheitsreform nicht ganz glücklich bewegt, aber jetzt kommt es darauf an, dass wir in den nächsten Tagen und Wochen – das darf nicht allzu lange dauern – zu den Ergebnissen kommen. Das Ziel muss ganz klar bleiben, das ist der entscheidende Punkt, der vielleicht ein bisschen verloren gegangen ist: Alle Menschen müssen in der Krankenversicherung sein, alle müssen frei wählen können, wo sie drin sein wollen, und alle müssen das bestmögliche, hochqualifizierte Angebot des Gesundheitswesens erhalten. Dafür machen wir die Reform.
Labuhn: Der aktuelle Streit dreht sich ja um den Zusatzbeitrag, den die gesetzlichen Krankenversicherungen künftig von ihren Mitgliedern verlangen können, wenn sie mit den Mitteln aus dem geplanten Gesundheitsfonds nicht auskommen. Dieser Zusatzbeitrag soll auf ein Prozent – so steht es in den Eckpunkten für die Reform – auf ein Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens begrenzt werden, um soziale Härten zu vermeiden. Daran stoßen sich viele in der Union. Ist das für Sie – ist diese Ein-Prozentklausel für Sie verhandelbar?
Müntefering: Die ein Prozent sind vereinbart, und wir gehen davon aus, dass das die angemessene Größenordnung ist. Das eigentliche Ziel ist ja nicht, dass diese Überforderungsklausel in Anspruch genommen wird, sondern das eigentliche Ziel ist, dass der einheitliche Krankenversicherungsbeitrag, den es geben soll ab 2008, dass der dann auch für alle gilt. Das ist ja nur die Ausnahmesituation, um die es da geht. Und deshalb müssen wir uns konzentrieren – was können wir dafür tun, dass dieser einheitliche Versicherungsbeitrag kommt, dazu gibt es die Entschuldung der Krankenversicherungen. Und dann hoffen wir, dass es diese Überforderungsklausel nie geben muss – oder jedenfalls viele Jahre nicht geben muss. Die ein Prozent sind für uns aber eine feste Größe.
Labuhn: Nach ihrem Treffen am Freitag haben Angela Merkel und Kurt Beck aber auffällig häufig davon gesprochen, dass der Zusatzbeitrag "praktikabel" sein müsse. Das soll nun von Experten zunächst einmal geprüft werden. Was bedeutet es für Sie, für die SPD, wenn diese Experten zu der Auffassung gelangen, die 1-Prozent-Grenze sei nicht praktikabel?
Müntefering: Na ja, die Praktikabilität macht sich ja nicht fest an der Höhe eines Prozents, sondern da geht es um die Frage, wer muss das einziehen, wie organisiert man das Ganze. Also, das ist keine Frage, die Praktikabilität, die sich auf das eine Prozent richtet. Und ich gehe davon aus, dass es bei dem einen Prozent bleibt.
Labuhn: Das heißt, eine höher angesetzte Begrenzung der Zusatzprämie auf zwei, zweieinhalb oder vielleicht auch auf drei Prozent, wie es von einigen Unionsministerpräsidenten angeregt wurde, das kommt für Sie nicht in Frage?
Müntefering: Das ist genau so wenig praktikabel oder genau so viel praktikabel wie die ein Prozent auch. Die ein Prozent ist eine soziale Dimension, um die es da geht. Wir möchten, dass die Krankenkassen mit den Krankenversicherungsbeiträgen, die sie nehmen dürfen, auskommen. Die sollen sich anstrengen und sollen nicht von Anfang an denken: Och, dann nehmen wir den Leuten noch ein bisschen Geld ab, sondern wir wollen die dazu drängen, dass sie mit dem Krankenversicherungsbeitrag auskommen. Und die Krankenkassen, die sparsam sind mit ihrer Verwaltung, die können das auch. Und deshalb muss das Ganze auch so angelegt sein, dass die Krankenversicherungen möglichst diese Überforderungsklausel auch überhaupt nicht in Anspruch nehmen.
Labuhn: War es denn, Herr Müntefering, im Rückblick besonders klug, diese starre ein-Prozent-Überforderungsklausel in den Eckpunkten festzuschreiben?
Müntefering: Ja, das ist richtig, denn das hat genau die Motivation, die ich gerade beschrieben habe. Es soll den Krankenkassen nicht leicht gemacht werden, nochmal was nachzuholen, und die Versicherten sollen auch nicht viel zuzahlen müssen, falls es dazu kommt. Also nochmal: Die Überforderungsklausel ist der Ausnahmetatbestand. Das eigentlich Normale ist: Krankenversicherungsbeiträge fest. Und damit müssen die Krankenversicherungen auch auskommen.
Labuhn: Diese Überforderungsklausel – das ist nur einer von mehreren strittigen Punkten. Wir brauchen jetzt nicht in die Einzelheiten zu gehen, aber es geht ja auch um die Zukunft der privaten Krankenversicherung. Sind überhaupt einzelne Eckpunkte dieses gesamten Reformpakets für Sie verhandelbar, oder pocht die SPD jetzt auf die Umsetzung des Gesamtpakets, so wie es am 4. Juli vereinbart wurde?
Müntefering: So ist es, denn da hängt ja eines mit dem andern zusammen. Und da haben alle gegeben und genommen, das war ja keine leichte Prozedur, da haben wir ja lange, lange drangesessen. Und deshalb sind die Eckpunkte uns alle gleich wichtig, und ich nehme an, der Union auch, denn ein ganzer Teil der Eckpunkte sind ja auch von dort gekommen. Und jetzt geht es darum, dass die Gruppen der Koalition das umsetzen, dass sie daraus ein praktisches, ein praktikables Gesetz machen. Da redet man über das eine oder andere Detail noch, aber diese Eckpunkte, die Grundideen bleiben. Und die sind – ich sage es noch einmal – gerichtet darauf: Wir wollen ein hochqualifiziertes Gesundheitswesen geben. Manche reden im Augenblick so, als wenn man eventuell auch auf eine Reform verzichten könnte. Das kann man nicht. Wenn man das macht, dann muss man sehen, dass die Kostenlawine im Gesundheitswesen auf eine Explosion hinausläuft. Und das darf nicht sein. Und deshalb ist die Reform unverzichtbar.
Labuhn: Das heißt: Steht und fällt die Große Koalition mit der Reform des Gesundheitswesens?
Müntefering: Das ist eine Dramatisierung, die ich so nicht unterstreichen würde. Ich glaube schon, dass der Streit, der da an einigen Stellen ausgebrochen ist, ernst ist. Aber das halte ich nicht für eine Existenzfrage der Koalition. Ich bin unverändert sicher, dass beide Partner – alle drei, muss man sagen – wollen, dass die Koalition diese Legislaturperiode erfolgreich bestreitet.
Labuhn: Ihre Parteifreundin Andrea Nahles, immerhin SPD-Präsidiumsmitglied, die hat die Gesundheitsreform bereits für gescheitert erklärt, zumindest im ersten Anlauf.
Müntefering: Das habe ich nicht gehört. Wenn sie es gesagt haben sollte, dann hat sie sich geirrt.
Labuhn: Kann der jetzige Zeitplan für das Inkrafttreten der Reform am 1. April 2007 noch eingehalten werden?
Müntefering: Das muss möglich sein. Es geht ja darum, dass es dann in den Gesetzesblättern steht, die eigentlich große Reform wird im Jahre 2008 ja erst kommen. Und wenn wir im Oktober den ganzen Vorgang im Kabinett haben, dann ist, glaube ich, hinreichend Zeit, das Ganze auch im Bundestag und Bundesrat zu behandeln. Und der Bundesrat muss ja auch nicht alle Zeit der Ewigkeit nehmen, um das zu beraten, sondern der kann ja auch die Fristen dann ein bisschen knapp halten.
Labuhn: Bleiben wir mal beim Stichwort "Bundesrat". Kritik an dieser geplanten Reform des Gesundheitswesens, die kommt ja vor allem aus der Riege der CDU-Ministerpräsidenten, die das Projekt mit ihrer Mehrheit im Bundesrat ja auch, zumindest teilweise, billigen müssen. Sie haben vor einer Woche ein Verfahren im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat nicht ausgeschlossen. Die Kanzlerin hat diesen Ball dann ebenfalls aufgegriffen. Käme es jetzt tatsächlich zu einem Verfahren im Vermittlungsausschuss, dann müsste Frau Merkel als CDU-Bundeskanzlerin ja sozusagen mit den CDU-Länderchefs ringen – eine eigentlich ziemlich absurde Vorstellung. Kann das vermieden werden?
Müntefering: Ich weiß nicht. Ich halte das nicht für absurd. Ich wollte einfach mit meinem Hinweis darauf hinwirken, deutlich zu machen, was das normale demokratische Verfahren ist bei uns. Die Bundesregierung macht einen Vorschlag, wir haben eine Eckpunkte-Formulierung hingelegt auf der Basis dessen, was die Koalition vereinbart hat. Der Bundestag macht einen Beschluss, und dann kommt der Bundesrat dran. Der Bundesrat ist ein Gremium des Bundes, der Bundesgesetzgebung. Und die Ministerpräsidenten haben dort zu entscheiden. Und diese Abfolge, die muss auch im Respekt vor Bundestag und Bundesrat akzeptiert werden. Wir können nicht erwarten, dass Bundesregierung und Bundestag und Bundesrat, bevor sie in die Gesetzgebung gehen, alles miteinander vereinbaren. Das wäre sozusagen der ganz, ganz große Vermittlungsausschuss vorne vorweg. Und deshalb habe ich darauf hingewiesen, wenn es keine Einvernehmlichkeit gibt, dann muss man sich halt darauf verlassen: Die Eckpunkte sind besprochen, die Ministerpräsidenten sind – zumindest teilweise – mit am Tisch, auf der anderen Seite Herr Stoiber. Und dann wird der Bundestag beschließen. Wenn es dann noch Probleme gibt im Bundesrat, dann haben die Ministerpräsidenten dort die Möglichkeit, diese anzusprechen und dann für ihre Ideen zu werben. Aber die Demokratie hat da bestimmte Spielregeln, und die Spielregel, die im Moment versucht wird, dass, bevor überhaupt das Gesetz fertig ist, alle auf allen Ebenen mitreden und auf die Entscheidung Einfluss nehmen wollen, halte ich nicht für die Opportune. Sondern wir müssen die Reihenfolge beachten. Wer Respekt hat vor den Entscheidungsgremien der Demokratie, der muss auch dafür sorgen, dass die Bundesregierung und der Bundestag entscheiden können, ohne dass vorher der Bundesrat schon in die Meinungs- und Entscheidungsbildung sich einmischt.
Labuhn: Wie handlungsfähig ist denn eine Bundesregierung, Herr Müntefering, eine Große Koalition, die über 73 Prozent der Bundestagsmandate verfügt, über 44 von 69 Stimmen im Bundesrat im Moment – wie handlungsfähig kann eine solche Bundesregierung sein, wenn schon im Vorfeld eines Gesetzgebungsverfahrens eine Krise ausgelöst wird durch die Möglichkeit, dass der Bundesrat hier störend wirken könnte?
Müntefering: Nun ja, das muss man vielleicht mal wieder einüben. Ich meine, wir haben jetzt 35 oder 36 Jahre lang in einer anderen Situation gelebt. Die strukturelle Möglichkeit ist jetzt deutlich verbessert. Aber ich kann nur empfehlen, dass wir lernen aus dem ganzen Vorgang – lernen, dass, wenn die Koalition Eckpunkte beschließt, diese Eckpunkte getragen werden müssen von allen Beteiligten, ganz gleich, auf welchen politischen Ebenen sie agieren, und dass wir dann die Reihenfolge einer ordentlichen Gesetzgebung in Deutschland beachten, und dass es keine Kungelei gibt, die man vorher organisiert, sondern das ist Bundesregierung, Bundestag und dann der Bundesrat.
Labuhn: Stimmt es Sie nachdenklich, dass die Bundeskanzlerin, die ja auch CDU-Vorsitzende ist, nachts stundenlang mit ihren CDU-Ministerpräsidenten ringen muss, um zu einer gemeinsamen Haltung, etwa bei der Reform des Gesundheitswesens, zu kommen?
Müntefering: Ach, das gehört zur Demokratie mit dazu. Wissen Sie, das ist in jeder Koalition so. Ich war mal in einer Regierung in Nordrhein-Westfalen unter Johannes Rau, da waren wir nur Sozialdemokraten. Da haben wir uns auch gestritten, weil es eben unterschiedliche Interessen gibt. Keiner hat von Anfang an die Wahrheit auf seiner Seite. Dass man um den richtigen Weg streitet, damit habe ich kein Problem. Nur – man muss die Reihenfolge und die Kompetenz der einzelnen Gremien akzeptieren. Und da will ich schon drauf bestehen, dass die Bundesregierung und deren Handlungsfähigkeit und deren Signalfähigkeit und Funktion ganz wichtig ist für das Ansehen der Demokratie und für die Frage, ob Demokratie und Politik für das Land gelingen kann, ja oder nein. Die Reihenfolge, die ist schon ganz wichtig.
Labuhn: Anders gefragt, erwarten Sie von der Kanzlerin mehr Führungsstärke?
Müntefering: Nein, daran liegt es nicht, sondern es liegt ja daran, dass einzelne Ministerpräsidenten offensichtlich in Verkennung ihrer Funktion sich da einmischen zu einem Zeitpunkt, wo es nicht angemessen ist. Das können die ja in ihren Parteigremien machen. Aber sozusagen unter Verweis auf den Bundesrat sich da einzumischen, das finde ich nicht angemessen. Alle, die sich da melden, habe Gelegenheit, in den Gremien der Parteien mitzumischen. Das ist bei uns so. Das ist bei der Union so. Und das kann ich auch nur empfehlen, dass man das macht: Türen zu, drüber sprechen und nicht öffentlich zur falschen Zeit die Möglichkeiten des Bundesrates einbringen.
Labuhn: Noch einmal nachgefragt: Vermissen Sie auf Seiten der Union manchmal an oberster Stelle das Wörtchen "Basta"?
Müntefering: Da gibt es unterschiedliche Temperamente bei den Menschen, das ist schon wahr. Aber das müssten die Betroffenen ja dann auch selbst einsehen. Die wollen ja das "Basta" offensichtlich nicht. Aber wer das nicht will, der muss dann auch wissen, dass er nicht im falschen Augenblick Forderungen stellen kann, die nicht zeitgemäß sind.
Labuhn: Herr Müntefering, auf Seiten der SPD-Riege der Bundesminister steht Ulla Schmidt, die Bundesgesundheitsministerin, im Mittelpunkt der Kritik zur Zeit. CSU-Chef Edmund Stoiber, der bayerische Ministerpräsident, hat ihr z.B. vorgeworfen, das Vertrauen stark zu belasten. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel soll im CDU-Vorstand immerhin das Wörtchen "dramatisch" benutzt haben, um klar zu stellen, dass aus dem Gesundheitsministerium noch immer kein Referentenentwurf für die Reform des Gesundheitswesens gekommen sei. Hat da jemand im Gesundheitsministerium die Hausaufgaben nicht gemacht?
Müntefering: Nein, das ist völlig falsch. Wir hatten den Auftrag an die in der Kommission Befindlichen von beiden Seiten gegeben, auf der Grundlage der Eckpunkte zu diskutieren, wie denn der Gesetzentwurf aussehen soll. Jetzt ist ja die Frage: Was will man denn eigentlich an der Stelle? Man will doch diskutieren über den Gesetzentwurf. Das kann doch nicht sein, dass man erwartet, dass die Gesundheitsministerin einen fix fertigen Entwurf hinlegt, der ja überhaupt nicht abgestimmt ist. Also, der Gesetzentwurf in all seinen Feinheiten muss entwickelt werden aus den Gesprächen und mit den Gesprächen, die es in der Koalitionsarbeitsgruppe gibt. Und deshalb ist die Idee, da wird vorneweg ein Entwurf auf den Tisch gelegt und daran arbeitet man sich dann ab, eine, die ja auch an der Lebenswirklichkeit vorbei geht. Die Ministerin wird ja letztlich ihre Position auch erst machen können, wenn die Debatte in dem entsprechenden Verhandlungsgremium dann gelaufen ist. Ich sehe die Reihenfolge als vernünftig an. Das ist ein breites Gesetz, ein großes, das dauert seine Zeit, das ist wahr. Aber insgesamt ist ganz eindeutig, dass die Ministerin die Aufgaben, die sie hat, auch erfüllt und sie hat auch unser volles Vertrauen.
Labuhn: Der Streit, der die Koalition im Moment belastet, ist ja darauf zurückzuführen, dass aus dem Hause von Frau Schmidt ständig neue Papiere an die Öffentlichkeit kommen, die keine Referentenentwürfe sind, wohlgemerkt, sondern irgendwelche Arbeitspapiere, bei denen die Union eben Eckpunkte vermisst. Was geschieht dort, welche Spielchen werden da gespielt?
Müntefering: Also, alles, was da kommt, basiert auf den Eckpunkten. Und alles, was da kommt, was ja auch ausdrücklich nicht als Meinung der Leitung des Hauses deklariert ist, sind Ergebnisse der Beratung. Das geht üblicherweise so, dass in einer solchen Gruppe, die da zusammen sitzt in der Koalition, Ideen entstehen, wie man es denn lösen kann. Und weil die Kompetenz dafür, so etwas aufzuschreiben und es auch gesetzesfest zu machen, in dem Ministerium liegt, geht der Auftrag an das Ministerium, schreibt doch mal auf, wie das eigentlich sei. Das wird dann gemacht. Das ist dann aber noch nicht die Positionierung der Ministerin, sondern das ist Formulierungshilfe für die, die in der Gruppe da zusammen sitzen. Dass dann der eine oder andere von denen solche Schriftstücke missbraucht und nach draußen gibt, das ist sehr bedauerlich. Aber das ist nichts, was man der Gesundheitsministerin anrechnen kann.
Labuhn: Ist sie als Ministerin gefährdet?
Müntefering: Überhaupt nicht.
Labuhn: In diesem Herbst, Herr Müntefering, sollen noch weitere heiße Eisen angepackt werden, die Einkommensgestaltung im unteren Bereich zum Beispiel, aber auch Harz IV-Nachbesserungen und eine Reform der Unternehmensbesteuerung. Bleiben wir einmal bei den Niedriglöhnen. Dieses Thema berührt ja Ihr Ressort direkt, und Sie wollen dazu demnächst auch einen Gesetzentwurf vorlegen. Was schwebt Ihnen vor?
Müntefering: Dass die Geringqualifizierten, viele davon sind die Langzeitarbeitslosen, eine Chance haben, Arbeit zu finden in Deutschland, dass wir Arbeitsplätze dafür aktivieren, dass wir sie suchen, dass wir aber auch dafür sorgen, dass im unteren Segment die Löhne existenzsichernd sind. Leider haben wir in Deutschland da eine Bewegung, dass manche Unternehmer – längst nicht alle, Gott sei Dank, aber doch manche – die Löhne in eine sittenwidrige Dimension drücken. 400.000, die den vollen Job fahren, den ganzen Monat jeden Tag, und anschließend so wenig Geld in der Tasche haben, dass sie sich noch ergänzend Arbeitslosengeld II holen müssen, da sage ich, das kann man nicht so machen, da kann man nicht so zugucken. Die Gewerkschaften haben in diesem untersten Bereich nicht die Macht, etwas dagegen zu tun, also müssen wir darüber sprechen. Dass es einen untersten Lohn geben muss, darüber sind sich alle einig in der Koalition. Der eine versucht es mit Kombilohn, der andere versucht es mit Tarifverträgen, der andere versucht es mit gesetzlichem Mindestlohn. Darüber sprechen wir nun in diesen Wochen. Wir machen Anhörungen zu Kombilohn, zu Mindestlohn, zu Zuverdienst, zum drittem Arbeitsmarkt, zu der Effizienzverbesserung der ARGEN, und ich glaube, dass wir im November/Dezember dann auch vernünftige Vorschläge machen können. Die Menschen sollen einen fairen Lohn haben in Deutschland.
Labuhn: Sind Sie für die Einführung eines nationalen gesetzlichen Mindestlohns?
Müntefering: Das ist eine Idee, die dabei eine Rolle spielt. Ich persönlich glaube, wir sollten respektieren und auch würdigen, dass es in Deutschland eine Tradition gibt der Tarifparteien, diese Dinge zu entscheiden, dass es unterschiedliche Lohnhöhen gibt in den einzelnen Branchen und manchmal auch Regionen, dass die Hitze beim Stahl anders finanziert und bezahlt wird mit den Löhnen als die Hitze in der Frittenbude. Da gibt es ein großes Gefälle und das muss sich auch niederschlagen. Und deshalb glaube ich, dass viel dafür spricht, dass man eine tarifliche Lohnregelung sucht. Das heißt, dass die Tarifparteien miteinander beschließen, das soll die unterste Marge sein und dass wir dann mit einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung, mit einer Verordnung dafür sorgen, dass das dann auch für alle gilt in einer Branche und dass das auch der Lohn ist, den Unternehmer oder Arbeitgeber zahlen müssen, die mit Dumpinglöhnen aus dem Ausland zu uns kommen. Das ist der ganze Vorgang, so wie das jetzt mit Gebäudereinigern gemacht wird. Das ist zwischen den Tarifparteien vereinbart. Wir erklären das für verbindlich, und zwar so verbindlich, dass auch, wenn Arbeitnehmer aus dem Ausland kommen, Firmen aus dem Ausland kommen, sie sich an diese Löhne gebunden fühlen müssen. Und das muss auch kontrolliert werden. Das ist die Idee, um die es da geht.
Labuhn: Nun hat ja auch der SPD-Gewerkschaftsrat gerade festgestellt, dass, wenn diese Instrumente, die Sie gerade beschrieben haben, nicht funktionieren, als dritter und letzter Schritt wahrscheinlich doch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns unabdingbar ist.
Müntefering: Da ist eine Stufung nach der Wertigkeit beschrieben, die ich im Prinzip teile. Aber ich möchte mich doch zunächst mal konzentrieren auf die Frage, was kann im Bereich von Kombilohn, was kann im Bereich tariflicher Lohn denn garantiert werden? Mit welchen Instrumenten können wir das hinbekommen? Wenn wir das Ganze machen mit den Tarifparteien zusammen, ist das sicher die sinnvollste Lösung, die wir haben und das ist dann auch der nötige Respekt vor der Tarifautonomie. Was die Kombilöhne angeht, glaube ich – ich habe ja etwas vorgeschlagen für über 50jährige –, dass man das bei den unter 25jährigen unter bestimmten Aspekten noch mal berücksichtigen soll, dass es aber einen flächendeckenden Kombilohn, also einen staatlichen Zuschuss zu Löhnen dauerhaft für ganz viele so nicht geben kann.
Labuhn: Noch einmal zum Erscheinungsbild der Großen Koalition, Herr Müntefering. Eigentlich könnten die Deutschen ja mit ihrer jetzigen Regierung sehr zufrieden sein. Die Wirtschaft wächst wieder, die Arbeitslosenzahlen gehen zurück, langsam aber sicher. Und doch ist das Image der Regierung ziemlich miserabel. Da liest man Ausdrücke wie "Große Koalition der Abkassierer" – wegen der beschlossenen Mehrwertsteuererhöhung und der Anhebung der Rentenversicherungsbeiträge im kommenden Jahr. Und viele Bürger fragen sich, ob jetzt angesichts der munter sprudelnden Steuereinnahmen die Mehrwertsteuer überhaupt noch angehoben werden muss. Warum beharrt die Bundesregierung darauf?
Müntefering: Nun ja, diese Formulierung, die Sie gebrauchen – das ist ja nicht Otto Normalverbraucher, der die gebraucht, sondern das sind natürlich Journalisten. Ich will hier keine allgemeine Medienschelte praktizieren, aber ich glaube, da gibt es schon einen Unterschied zwischen dem, was die Menschen erfahren, und dem, was manche spektakulär in ihren Zeitungen veröffentlichen. Und deshalb glaube ich, dass wir uns an den Realitäten bewegen, den Menschen zeigen müssen, was wir da tun. In der Tat, es gibt eine ganze Menge von guten Ergebnissen in diesem einen Jahr des Regierens, die wir vorzeigen können. Wenn wir nicht immer in Deutschland so relativ depressiv wären, dann würden wir uns sogar ein bisschen freuen darüber, glaube ich: 426.000 Arbeitslose weniger als vor einem Jahr, 126.000 davon auch sozialversicherungspflichtig.
Labuhn: Während die Große Koalition jetzt, wie Sie sagen, erste Erfolge verbuchen kann und sich gleichzeitig an schwierigen Reformvorhaben abmüht, scheinen viele doch schon an die Zeit danach zu denken. Da soll es informelle Gespräche zwischen SPD-Politikern, Liberalen und Grünen geben. Bahnt sich da etwas an, was Jürgen Trittin von den Bündnisgrünen als "Senegal-Koalition" bezeichnet hat, nämlich Rot-Gelb-Grün?
Müntefering: Also, diese Koalition steht bis zur Bundestagswahl 2009. Dann werden die Wählerinnen und Wähler entscheiden, so wie das beim letzten Mal auch entschieden worden ist. Dass alle Parteien miteinander sprechen – alle demokratischen Parteien, die NPD ist da außen vor natürlich – das ist aus meiner Sicht selbstverständlich. Dass auf der Bundesebene eine Zusammenarbeit mit der PDS ausscheidet, das ist auch selbstverständlich. Und alle anderen, die sollten vernünftigerweise auch miteinander sprechen, was wir ja in den Ausschüssen und in der Praxis des Parlamentsalltags auch oft tun. Es ist ja nicht so, als ob da sich Feinde gegenüber ständen, sondern man redet über gemeinsame Perspektiven. Ich habe das gelesen und ich finde das unkompliziert und eigentlich ganz normal, dass Freunde von uns aus meiner Partei auch mit denen aus anderen Parteien reden.
Labuhn: Auch mit der FDP unter einem Vorsitzende Guido Westerwelle?
Müntefering: Ich bin da nicht dabei, aber wer da Geschmack daran hat, der soll das ruhig machen.
Labuhn: Könnten Sie sich eine Neuauflage einer sozialliberalen Bundesregierung vorstellen?
Müntefering: Das ist nicht akut, nicht aktuell, das ist von der Mehrheit her gar nicht möglich. Ich habe ja nach der Bundestagswahl alle Fraktionen des Deutschen Bundestag, alle Parteien muss man sagen, angeschrieben. Wir haben damals ja auch Gespräche geführt. Vor ziemlich genau vor einem Jahr haben wir dann begonnen, mit der CDU zu sprechen. Das war am 22. September. Und die einzige Partei, die mir geschrieben hat, sie ist an Gesprächen nicht interessiert, das war die FDP, das war Westerwelle. Und das merkt man sich natürlich.
Labuhn: Sind Sie zuversichtlich, dass die Große Koalition angesichts der vielen Probleme, die noch zu bewältigen sind, wirklich bis 2009, bis zur nächsten Bundestagswahl, durchhalten wird?
Müntefering: Ja. Wir müssen uns aber alle konzentrieren auf diese Aufgabe. Erst das Land, dann die Partei. Wir dürfen nicht jeden Tag gegenseitig uns beobachten, wer hat denn jetzt ein Pünktchen mehr gewonnen. Wir dürfen nicht uns von jeder Umfrage beeindrucken lassen. Wir dürfen uns nicht freuen, wenn der politische Konkurrent in der Regierung nicht so gut aussieht. Die Sozialdemokraten müssen wollen, dass die Bundeskanzlerin, die von der CDU kommt, erfolgreich ist. Die CDU muss wollen, dass wir erfolgreich sind in der Bundesregierung. Wenn wir das so miteinander machen und nicht jeden Tag kleinkariert uns beobachten und versuchen, die Vorteile des anderen zu reduzieren, dann werden wir überzeugen in der Beantwortung der Probleme des Landes, und dann werden die Menschen sagen: Das ist toll. Eigentlich wollen die Menschen, dass wir nicht diesen kleinkarierten Kampf untereinander führen, sondern dass wir ihre Probleme lösen. Der Bundespräsident hat zur Bildungsfrage eine wichtige Rede gehalten in der vergangenen Woche. Und ich empfehle allen, die es nicht gehört haben, sehr, es noch einmal nachzulesen. Er trifft den Punkt. Und er hat nicht über die Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden gesprochen, die hat er gar nicht erwähnt, sondern er hat über die Interessenlage der Menschen gesprochen, des einzelnen Individuums. Und wir verhaken uns so oft in der Frage der Zuständigkeiten. Wir müssen die Probleme lösen in diesem Land. Das ist es, was die Menschen von uns erwarten.
Labuhn: Herr Müntefering, letzte Frage: Vor ziemlich genau einem Jahr fanden ja die vorgezogenen Bundestagswahlen statt, die zur jetzigen Großen Koalition führten. Wünschen Sie sich in stillen Stunden manchmal, Gerhard Schröder hätte ein bisschen länger durchgehalten und sich erst in diesem Jahr zur Wiederwahl gestellt bei viel besseren Konjunktur- und Arbeitsmarktdaten als 2005?
Müntefering: Na gut, da war ich ja damals auch mit dabei. Das haben wir ja beraten miteinander. Ich glaube, dass im Herbst des letzten Jahres schon die Stunde der Wahrheit gekommen wäre. Die Bedingungen waren damals so, dass man sehen konnte, da gibt es keine große Handlungsfähigkeit mehr. Ich glaube, dass die Entscheidung richtig war, und ich glaube, dass sie insgesamt für das Land eine richtige Entscheidung war, wenn wir daraus jetzt Gutes machen. Und das heißt, noch einmal gesagt, dass wir uns nicht verlieren in parteitaktischen Manövern, sondern die Probleme des Landes im Blick haben.
Labuhn: Herr Müntefering, vielen Dank.
Müntefering: Ich bedanke mich auch.
Franz Müntefering: Im Augenblick sicher in einer schwierigen Phase, das kann man überhaupt nicht verkennen. Aber ich bin da ganz zuversichtlich, man darf das auch nicht dramatisieren. Wir haben uns bei dieser Gesundheitsreform nicht ganz glücklich bewegt, aber jetzt kommt es darauf an, dass wir in den nächsten Tagen und Wochen – das darf nicht allzu lange dauern – zu den Ergebnissen kommen. Das Ziel muss ganz klar bleiben, das ist der entscheidende Punkt, der vielleicht ein bisschen verloren gegangen ist: Alle Menschen müssen in der Krankenversicherung sein, alle müssen frei wählen können, wo sie drin sein wollen, und alle müssen das bestmögliche, hochqualifizierte Angebot des Gesundheitswesens erhalten. Dafür machen wir die Reform.
Labuhn: Der aktuelle Streit dreht sich ja um den Zusatzbeitrag, den die gesetzlichen Krankenversicherungen künftig von ihren Mitgliedern verlangen können, wenn sie mit den Mitteln aus dem geplanten Gesundheitsfonds nicht auskommen. Dieser Zusatzbeitrag soll auf ein Prozent – so steht es in den Eckpunkten für die Reform – auf ein Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens begrenzt werden, um soziale Härten zu vermeiden. Daran stoßen sich viele in der Union. Ist das für Sie – ist diese Ein-Prozentklausel für Sie verhandelbar?
Müntefering: Die ein Prozent sind vereinbart, und wir gehen davon aus, dass das die angemessene Größenordnung ist. Das eigentliche Ziel ist ja nicht, dass diese Überforderungsklausel in Anspruch genommen wird, sondern das eigentliche Ziel ist, dass der einheitliche Krankenversicherungsbeitrag, den es geben soll ab 2008, dass der dann auch für alle gilt. Das ist ja nur die Ausnahmesituation, um die es da geht. Und deshalb müssen wir uns konzentrieren – was können wir dafür tun, dass dieser einheitliche Versicherungsbeitrag kommt, dazu gibt es die Entschuldung der Krankenversicherungen. Und dann hoffen wir, dass es diese Überforderungsklausel nie geben muss – oder jedenfalls viele Jahre nicht geben muss. Die ein Prozent sind für uns aber eine feste Größe.
Labuhn: Nach ihrem Treffen am Freitag haben Angela Merkel und Kurt Beck aber auffällig häufig davon gesprochen, dass der Zusatzbeitrag "praktikabel" sein müsse. Das soll nun von Experten zunächst einmal geprüft werden. Was bedeutet es für Sie, für die SPD, wenn diese Experten zu der Auffassung gelangen, die 1-Prozent-Grenze sei nicht praktikabel?
Müntefering: Na ja, die Praktikabilität macht sich ja nicht fest an der Höhe eines Prozents, sondern da geht es um die Frage, wer muss das einziehen, wie organisiert man das Ganze. Also, das ist keine Frage, die Praktikabilität, die sich auf das eine Prozent richtet. Und ich gehe davon aus, dass es bei dem einen Prozent bleibt.
Labuhn: Das heißt, eine höher angesetzte Begrenzung der Zusatzprämie auf zwei, zweieinhalb oder vielleicht auch auf drei Prozent, wie es von einigen Unionsministerpräsidenten angeregt wurde, das kommt für Sie nicht in Frage?
Müntefering: Das ist genau so wenig praktikabel oder genau so viel praktikabel wie die ein Prozent auch. Die ein Prozent ist eine soziale Dimension, um die es da geht. Wir möchten, dass die Krankenkassen mit den Krankenversicherungsbeiträgen, die sie nehmen dürfen, auskommen. Die sollen sich anstrengen und sollen nicht von Anfang an denken: Och, dann nehmen wir den Leuten noch ein bisschen Geld ab, sondern wir wollen die dazu drängen, dass sie mit dem Krankenversicherungsbeitrag auskommen. Und die Krankenkassen, die sparsam sind mit ihrer Verwaltung, die können das auch. Und deshalb muss das Ganze auch so angelegt sein, dass die Krankenversicherungen möglichst diese Überforderungsklausel auch überhaupt nicht in Anspruch nehmen.
Labuhn: War es denn, Herr Müntefering, im Rückblick besonders klug, diese starre ein-Prozent-Überforderungsklausel in den Eckpunkten festzuschreiben?
Müntefering: Ja, das ist richtig, denn das hat genau die Motivation, die ich gerade beschrieben habe. Es soll den Krankenkassen nicht leicht gemacht werden, nochmal was nachzuholen, und die Versicherten sollen auch nicht viel zuzahlen müssen, falls es dazu kommt. Also nochmal: Die Überforderungsklausel ist der Ausnahmetatbestand. Das eigentlich Normale ist: Krankenversicherungsbeiträge fest. Und damit müssen die Krankenversicherungen auch auskommen.
Labuhn: Diese Überforderungsklausel – das ist nur einer von mehreren strittigen Punkten. Wir brauchen jetzt nicht in die Einzelheiten zu gehen, aber es geht ja auch um die Zukunft der privaten Krankenversicherung. Sind überhaupt einzelne Eckpunkte dieses gesamten Reformpakets für Sie verhandelbar, oder pocht die SPD jetzt auf die Umsetzung des Gesamtpakets, so wie es am 4. Juli vereinbart wurde?
Müntefering: So ist es, denn da hängt ja eines mit dem andern zusammen. Und da haben alle gegeben und genommen, das war ja keine leichte Prozedur, da haben wir ja lange, lange drangesessen. Und deshalb sind die Eckpunkte uns alle gleich wichtig, und ich nehme an, der Union auch, denn ein ganzer Teil der Eckpunkte sind ja auch von dort gekommen. Und jetzt geht es darum, dass die Gruppen der Koalition das umsetzen, dass sie daraus ein praktisches, ein praktikables Gesetz machen. Da redet man über das eine oder andere Detail noch, aber diese Eckpunkte, die Grundideen bleiben. Und die sind – ich sage es noch einmal – gerichtet darauf: Wir wollen ein hochqualifiziertes Gesundheitswesen geben. Manche reden im Augenblick so, als wenn man eventuell auch auf eine Reform verzichten könnte. Das kann man nicht. Wenn man das macht, dann muss man sehen, dass die Kostenlawine im Gesundheitswesen auf eine Explosion hinausläuft. Und das darf nicht sein. Und deshalb ist die Reform unverzichtbar.
Labuhn: Das heißt: Steht und fällt die Große Koalition mit der Reform des Gesundheitswesens?
Müntefering: Das ist eine Dramatisierung, die ich so nicht unterstreichen würde. Ich glaube schon, dass der Streit, der da an einigen Stellen ausgebrochen ist, ernst ist. Aber das halte ich nicht für eine Existenzfrage der Koalition. Ich bin unverändert sicher, dass beide Partner – alle drei, muss man sagen – wollen, dass die Koalition diese Legislaturperiode erfolgreich bestreitet.
Labuhn: Ihre Parteifreundin Andrea Nahles, immerhin SPD-Präsidiumsmitglied, die hat die Gesundheitsreform bereits für gescheitert erklärt, zumindest im ersten Anlauf.
Müntefering: Das habe ich nicht gehört. Wenn sie es gesagt haben sollte, dann hat sie sich geirrt.
Labuhn: Kann der jetzige Zeitplan für das Inkrafttreten der Reform am 1. April 2007 noch eingehalten werden?
Müntefering: Das muss möglich sein. Es geht ja darum, dass es dann in den Gesetzesblättern steht, die eigentlich große Reform wird im Jahre 2008 ja erst kommen. Und wenn wir im Oktober den ganzen Vorgang im Kabinett haben, dann ist, glaube ich, hinreichend Zeit, das Ganze auch im Bundestag und Bundesrat zu behandeln. Und der Bundesrat muss ja auch nicht alle Zeit der Ewigkeit nehmen, um das zu beraten, sondern der kann ja auch die Fristen dann ein bisschen knapp halten.
Labuhn: Bleiben wir mal beim Stichwort "Bundesrat". Kritik an dieser geplanten Reform des Gesundheitswesens, die kommt ja vor allem aus der Riege der CDU-Ministerpräsidenten, die das Projekt mit ihrer Mehrheit im Bundesrat ja auch, zumindest teilweise, billigen müssen. Sie haben vor einer Woche ein Verfahren im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat nicht ausgeschlossen. Die Kanzlerin hat diesen Ball dann ebenfalls aufgegriffen. Käme es jetzt tatsächlich zu einem Verfahren im Vermittlungsausschuss, dann müsste Frau Merkel als CDU-Bundeskanzlerin ja sozusagen mit den CDU-Länderchefs ringen – eine eigentlich ziemlich absurde Vorstellung. Kann das vermieden werden?
Müntefering: Ich weiß nicht. Ich halte das nicht für absurd. Ich wollte einfach mit meinem Hinweis darauf hinwirken, deutlich zu machen, was das normale demokratische Verfahren ist bei uns. Die Bundesregierung macht einen Vorschlag, wir haben eine Eckpunkte-Formulierung hingelegt auf der Basis dessen, was die Koalition vereinbart hat. Der Bundestag macht einen Beschluss, und dann kommt der Bundesrat dran. Der Bundesrat ist ein Gremium des Bundes, der Bundesgesetzgebung. Und die Ministerpräsidenten haben dort zu entscheiden. Und diese Abfolge, die muss auch im Respekt vor Bundestag und Bundesrat akzeptiert werden. Wir können nicht erwarten, dass Bundesregierung und Bundestag und Bundesrat, bevor sie in die Gesetzgebung gehen, alles miteinander vereinbaren. Das wäre sozusagen der ganz, ganz große Vermittlungsausschuss vorne vorweg. Und deshalb habe ich darauf hingewiesen, wenn es keine Einvernehmlichkeit gibt, dann muss man sich halt darauf verlassen: Die Eckpunkte sind besprochen, die Ministerpräsidenten sind – zumindest teilweise – mit am Tisch, auf der anderen Seite Herr Stoiber. Und dann wird der Bundestag beschließen. Wenn es dann noch Probleme gibt im Bundesrat, dann haben die Ministerpräsidenten dort die Möglichkeit, diese anzusprechen und dann für ihre Ideen zu werben. Aber die Demokratie hat da bestimmte Spielregeln, und die Spielregel, die im Moment versucht wird, dass, bevor überhaupt das Gesetz fertig ist, alle auf allen Ebenen mitreden und auf die Entscheidung Einfluss nehmen wollen, halte ich nicht für die Opportune. Sondern wir müssen die Reihenfolge beachten. Wer Respekt hat vor den Entscheidungsgremien der Demokratie, der muss auch dafür sorgen, dass die Bundesregierung und der Bundestag entscheiden können, ohne dass vorher der Bundesrat schon in die Meinungs- und Entscheidungsbildung sich einmischt.
Labuhn: Wie handlungsfähig ist denn eine Bundesregierung, Herr Müntefering, eine Große Koalition, die über 73 Prozent der Bundestagsmandate verfügt, über 44 von 69 Stimmen im Bundesrat im Moment – wie handlungsfähig kann eine solche Bundesregierung sein, wenn schon im Vorfeld eines Gesetzgebungsverfahrens eine Krise ausgelöst wird durch die Möglichkeit, dass der Bundesrat hier störend wirken könnte?
Müntefering: Nun ja, das muss man vielleicht mal wieder einüben. Ich meine, wir haben jetzt 35 oder 36 Jahre lang in einer anderen Situation gelebt. Die strukturelle Möglichkeit ist jetzt deutlich verbessert. Aber ich kann nur empfehlen, dass wir lernen aus dem ganzen Vorgang – lernen, dass, wenn die Koalition Eckpunkte beschließt, diese Eckpunkte getragen werden müssen von allen Beteiligten, ganz gleich, auf welchen politischen Ebenen sie agieren, und dass wir dann die Reihenfolge einer ordentlichen Gesetzgebung in Deutschland beachten, und dass es keine Kungelei gibt, die man vorher organisiert, sondern das ist Bundesregierung, Bundestag und dann der Bundesrat.
Labuhn: Stimmt es Sie nachdenklich, dass die Bundeskanzlerin, die ja auch CDU-Vorsitzende ist, nachts stundenlang mit ihren CDU-Ministerpräsidenten ringen muss, um zu einer gemeinsamen Haltung, etwa bei der Reform des Gesundheitswesens, zu kommen?
Müntefering: Ach, das gehört zur Demokratie mit dazu. Wissen Sie, das ist in jeder Koalition so. Ich war mal in einer Regierung in Nordrhein-Westfalen unter Johannes Rau, da waren wir nur Sozialdemokraten. Da haben wir uns auch gestritten, weil es eben unterschiedliche Interessen gibt. Keiner hat von Anfang an die Wahrheit auf seiner Seite. Dass man um den richtigen Weg streitet, damit habe ich kein Problem. Nur – man muss die Reihenfolge und die Kompetenz der einzelnen Gremien akzeptieren. Und da will ich schon drauf bestehen, dass die Bundesregierung und deren Handlungsfähigkeit und deren Signalfähigkeit und Funktion ganz wichtig ist für das Ansehen der Demokratie und für die Frage, ob Demokratie und Politik für das Land gelingen kann, ja oder nein. Die Reihenfolge, die ist schon ganz wichtig.
Labuhn: Anders gefragt, erwarten Sie von der Kanzlerin mehr Führungsstärke?
Müntefering: Nein, daran liegt es nicht, sondern es liegt ja daran, dass einzelne Ministerpräsidenten offensichtlich in Verkennung ihrer Funktion sich da einmischen zu einem Zeitpunkt, wo es nicht angemessen ist. Das können die ja in ihren Parteigremien machen. Aber sozusagen unter Verweis auf den Bundesrat sich da einzumischen, das finde ich nicht angemessen. Alle, die sich da melden, habe Gelegenheit, in den Gremien der Parteien mitzumischen. Das ist bei uns so. Das ist bei der Union so. Und das kann ich auch nur empfehlen, dass man das macht: Türen zu, drüber sprechen und nicht öffentlich zur falschen Zeit die Möglichkeiten des Bundesrates einbringen.
Labuhn: Noch einmal nachgefragt: Vermissen Sie auf Seiten der Union manchmal an oberster Stelle das Wörtchen "Basta"?
Müntefering: Da gibt es unterschiedliche Temperamente bei den Menschen, das ist schon wahr. Aber das müssten die Betroffenen ja dann auch selbst einsehen. Die wollen ja das "Basta" offensichtlich nicht. Aber wer das nicht will, der muss dann auch wissen, dass er nicht im falschen Augenblick Forderungen stellen kann, die nicht zeitgemäß sind.
Labuhn: Herr Müntefering, auf Seiten der SPD-Riege der Bundesminister steht Ulla Schmidt, die Bundesgesundheitsministerin, im Mittelpunkt der Kritik zur Zeit. CSU-Chef Edmund Stoiber, der bayerische Ministerpräsident, hat ihr z.B. vorgeworfen, das Vertrauen stark zu belasten. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel soll im CDU-Vorstand immerhin das Wörtchen "dramatisch" benutzt haben, um klar zu stellen, dass aus dem Gesundheitsministerium noch immer kein Referentenentwurf für die Reform des Gesundheitswesens gekommen sei. Hat da jemand im Gesundheitsministerium die Hausaufgaben nicht gemacht?
Müntefering: Nein, das ist völlig falsch. Wir hatten den Auftrag an die in der Kommission Befindlichen von beiden Seiten gegeben, auf der Grundlage der Eckpunkte zu diskutieren, wie denn der Gesetzentwurf aussehen soll. Jetzt ist ja die Frage: Was will man denn eigentlich an der Stelle? Man will doch diskutieren über den Gesetzentwurf. Das kann doch nicht sein, dass man erwartet, dass die Gesundheitsministerin einen fix fertigen Entwurf hinlegt, der ja überhaupt nicht abgestimmt ist. Also, der Gesetzentwurf in all seinen Feinheiten muss entwickelt werden aus den Gesprächen und mit den Gesprächen, die es in der Koalitionsarbeitsgruppe gibt. Und deshalb ist die Idee, da wird vorneweg ein Entwurf auf den Tisch gelegt und daran arbeitet man sich dann ab, eine, die ja auch an der Lebenswirklichkeit vorbei geht. Die Ministerin wird ja letztlich ihre Position auch erst machen können, wenn die Debatte in dem entsprechenden Verhandlungsgremium dann gelaufen ist. Ich sehe die Reihenfolge als vernünftig an. Das ist ein breites Gesetz, ein großes, das dauert seine Zeit, das ist wahr. Aber insgesamt ist ganz eindeutig, dass die Ministerin die Aufgaben, die sie hat, auch erfüllt und sie hat auch unser volles Vertrauen.
Labuhn: Der Streit, der die Koalition im Moment belastet, ist ja darauf zurückzuführen, dass aus dem Hause von Frau Schmidt ständig neue Papiere an die Öffentlichkeit kommen, die keine Referentenentwürfe sind, wohlgemerkt, sondern irgendwelche Arbeitspapiere, bei denen die Union eben Eckpunkte vermisst. Was geschieht dort, welche Spielchen werden da gespielt?
Müntefering: Also, alles, was da kommt, basiert auf den Eckpunkten. Und alles, was da kommt, was ja auch ausdrücklich nicht als Meinung der Leitung des Hauses deklariert ist, sind Ergebnisse der Beratung. Das geht üblicherweise so, dass in einer solchen Gruppe, die da zusammen sitzt in der Koalition, Ideen entstehen, wie man es denn lösen kann. Und weil die Kompetenz dafür, so etwas aufzuschreiben und es auch gesetzesfest zu machen, in dem Ministerium liegt, geht der Auftrag an das Ministerium, schreibt doch mal auf, wie das eigentlich sei. Das wird dann gemacht. Das ist dann aber noch nicht die Positionierung der Ministerin, sondern das ist Formulierungshilfe für die, die in der Gruppe da zusammen sitzen. Dass dann der eine oder andere von denen solche Schriftstücke missbraucht und nach draußen gibt, das ist sehr bedauerlich. Aber das ist nichts, was man der Gesundheitsministerin anrechnen kann.
Labuhn: Ist sie als Ministerin gefährdet?
Müntefering: Überhaupt nicht.
Labuhn: In diesem Herbst, Herr Müntefering, sollen noch weitere heiße Eisen angepackt werden, die Einkommensgestaltung im unteren Bereich zum Beispiel, aber auch Harz IV-Nachbesserungen und eine Reform der Unternehmensbesteuerung. Bleiben wir einmal bei den Niedriglöhnen. Dieses Thema berührt ja Ihr Ressort direkt, und Sie wollen dazu demnächst auch einen Gesetzentwurf vorlegen. Was schwebt Ihnen vor?
Müntefering: Dass die Geringqualifizierten, viele davon sind die Langzeitarbeitslosen, eine Chance haben, Arbeit zu finden in Deutschland, dass wir Arbeitsplätze dafür aktivieren, dass wir sie suchen, dass wir aber auch dafür sorgen, dass im unteren Segment die Löhne existenzsichernd sind. Leider haben wir in Deutschland da eine Bewegung, dass manche Unternehmer – längst nicht alle, Gott sei Dank, aber doch manche – die Löhne in eine sittenwidrige Dimension drücken. 400.000, die den vollen Job fahren, den ganzen Monat jeden Tag, und anschließend so wenig Geld in der Tasche haben, dass sie sich noch ergänzend Arbeitslosengeld II holen müssen, da sage ich, das kann man nicht so machen, da kann man nicht so zugucken. Die Gewerkschaften haben in diesem untersten Bereich nicht die Macht, etwas dagegen zu tun, also müssen wir darüber sprechen. Dass es einen untersten Lohn geben muss, darüber sind sich alle einig in der Koalition. Der eine versucht es mit Kombilohn, der andere versucht es mit Tarifverträgen, der andere versucht es mit gesetzlichem Mindestlohn. Darüber sprechen wir nun in diesen Wochen. Wir machen Anhörungen zu Kombilohn, zu Mindestlohn, zu Zuverdienst, zum drittem Arbeitsmarkt, zu der Effizienzverbesserung der ARGEN, und ich glaube, dass wir im November/Dezember dann auch vernünftige Vorschläge machen können. Die Menschen sollen einen fairen Lohn haben in Deutschland.
Labuhn: Sind Sie für die Einführung eines nationalen gesetzlichen Mindestlohns?
Müntefering: Das ist eine Idee, die dabei eine Rolle spielt. Ich persönlich glaube, wir sollten respektieren und auch würdigen, dass es in Deutschland eine Tradition gibt der Tarifparteien, diese Dinge zu entscheiden, dass es unterschiedliche Lohnhöhen gibt in den einzelnen Branchen und manchmal auch Regionen, dass die Hitze beim Stahl anders finanziert und bezahlt wird mit den Löhnen als die Hitze in der Frittenbude. Da gibt es ein großes Gefälle und das muss sich auch niederschlagen. Und deshalb glaube ich, dass viel dafür spricht, dass man eine tarifliche Lohnregelung sucht. Das heißt, dass die Tarifparteien miteinander beschließen, das soll die unterste Marge sein und dass wir dann mit einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung, mit einer Verordnung dafür sorgen, dass das dann auch für alle gilt in einer Branche und dass das auch der Lohn ist, den Unternehmer oder Arbeitgeber zahlen müssen, die mit Dumpinglöhnen aus dem Ausland zu uns kommen. Das ist der ganze Vorgang, so wie das jetzt mit Gebäudereinigern gemacht wird. Das ist zwischen den Tarifparteien vereinbart. Wir erklären das für verbindlich, und zwar so verbindlich, dass auch, wenn Arbeitnehmer aus dem Ausland kommen, Firmen aus dem Ausland kommen, sie sich an diese Löhne gebunden fühlen müssen. Und das muss auch kontrolliert werden. Das ist die Idee, um die es da geht.
Labuhn: Nun hat ja auch der SPD-Gewerkschaftsrat gerade festgestellt, dass, wenn diese Instrumente, die Sie gerade beschrieben haben, nicht funktionieren, als dritter und letzter Schritt wahrscheinlich doch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns unabdingbar ist.
Müntefering: Da ist eine Stufung nach der Wertigkeit beschrieben, die ich im Prinzip teile. Aber ich möchte mich doch zunächst mal konzentrieren auf die Frage, was kann im Bereich von Kombilohn, was kann im Bereich tariflicher Lohn denn garantiert werden? Mit welchen Instrumenten können wir das hinbekommen? Wenn wir das Ganze machen mit den Tarifparteien zusammen, ist das sicher die sinnvollste Lösung, die wir haben und das ist dann auch der nötige Respekt vor der Tarifautonomie. Was die Kombilöhne angeht, glaube ich – ich habe ja etwas vorgeschlagen für über 50jährige –, dass man das bei den unter 25jährigen unter bestimmten Aspekten noch mal berücksichtigen soll, dass es aber einen flächendeckenden Kombilohn, also einen staatlichen Zuschuss zu Löhnen dauerhaft für ganz viele so nicht geben kann.
Labuhn: Noch einmal zum Erscheinungsbild der Großen Koalition, Herr Müntefering. Eigentlich könnten die Deutschen ja mit ihrer jetzigen Regierung sehr zufrieden sein. Die Wirtschaft wächst wieder, die Arbeitslosenzahlen gehen zurück, langsam aber sicher. Und doch ist das Image der Regierung ziemlich miserabel. Da liest man Ausdrücke wie "Große Koalition der Abkassierer" – wegen der beschlossenen Mehrwertsteuererhöhung und der Anhebung der Rentenversicherungsbeiträge im kommenden Jahr. Und viele Bürger fragen sich, ob jetzt angesichts der munter sprudelnden Steuereinnahmen die Mehrwertsteuer überhaupt noch angehoben werden muss. Warum beharrt die Bundesregierung darauf?
Müntefering: Nun ja, diese Formulierung, die Sie gebrauchen – das ist ja nicht Otto Normalverbraucher, der die gebraucht, sondern das sind natürlich Journalisten. Ich will hier keine allgemeine Medienschelte praktizieren, aber ich glaube, da gibt es schon einen Unterschied zwischen dem, was die Menschen erfahren, und dem, was manche spektakulär in ihren Zeitungen veröffentlichen. Und deshalb glaube ich, dass wir uns an den Realitäten bewegen, den Menschen zeigen müssen, was wir da tun. In der Tat, es gibt eine ganze Menge von guten Ergebnissen in diesem einen Jahr des Regierens, die wir vorzeigen können. Wenn wir nicht immer in Deutschland so relativ depressiv wären, dann würden wir uns sogar ein bisschen freuen darüber, glaube ich: 426.000 Arbeitslose weniger als vor einem Jahr, 126.000 davon auch sozialversicherungspflichtig.
Labuhn: Während die Große Koalition jetzt, wie Sie sagen, erste Erfolge verbuchen kann und sich gleichzeitig an schwierigen Reformvorhaben abmüht, scheinen viele doch schon an die Zeit danach zu denken. Da soll es informelle Gespräche zwischen SPD-Politikern, Liberalen und Grünen geben. Bahnt sich da etwas an, was Jürgen Trittin von den Bündnisgrünen als "Senegal-Koalition" bezeichnet hat, nämlich Rot-Gelb-Grün?
Müntefering: Also, diese Koalition steht bis zur Bundestagswahl 2009. Dann werden die Wählerinnen und Wähler entscheiden, so wie das beim letzten Mal auch entschieden worden ist. Dass alle Parteien miteinander sprechen – alle demokratischen Parteien, die NPD ist da außen vor natürlich – das ist aus meiner Sicht selbstverständlich. Dass auf der Bundesebene eine Zusammenarbeit mit der PDS ausscheidet, das ist auch selbstverständlich. Und alle anderen, die sollten vernünftigerweise auch miteinander sprechen, was wir ja in den Ausschüssen und in der Praxis des Parlamentsalltags auch oft tun. Es ist ja nicht so, als ob da sich Feinde gegenüber ständen, sondern man redet über gemeinsame Perspektiven. Ich habe das gelesen und ich finde das unkompliziert und eigentlich ganz normal, dass Freunde von uns aus meiner Partei auch mit denen aus anderen Parteien reden.
Labuhn: Auch mit der FDP unter einem Vorsitzende Guido Westerwelle?
Müntefering: Ich bin da nicht dabei, aber wer da Geschmack daran hat, der soll das ruhig machen.
Labuhn: Könnten Sie sich eine Neuauflage einer sozialliberalen Bundesregierung vorstellen?
Müntefering: Das ist nicht akut, nicht aktuell, das ist von der Mehrheit her gar nicht möglich. Ich habe ja nach der Bundestagswahl alle Fraktionen des Deutschen Bundestag, alle Parteien muss man sagen, angeschrieben. Wir haben damals ja auch Gespräche geführt. Vor ziemlich genau vor einem Jahr haben wir dann begonnen, mit der CDU zu sprechen. Das war am 22. September. Und die einzige Partei, die mir geschrieben hat, sie ist an Gesprächen nicht interessiert, das war die FDP, das war Westerwelle. Und das merkt man sich natürlich.
Labuhn: Sind Sie zuversichtlich, dass die Große Koalition angesichts der vielen Probleme, die noch zu bewältigen sind, wirklich bis 2009, bis zur nächsten Bundestagswahl, durchhalten wird?
Müntefering: Ja. Wir müssen uns aber alle konzentrieren auf diese Aufgabe. Erst das Land, dann die Partei. Wir dürfen nicht jeden Tag gegenseitig uns beobachten, wer hat denn jetzt ein Pünktchen mehr gewonnen. Wir dürfen nicht uns von jeder Umfrage beeindrucken lassen. Wir dürfen uns nicht freuen, wenn der politische Konkurrent in der Regierung nicht so gut aussieht. Die Sozialdemokraten müssen wollen, dass die Bundeskanzlerin, die von der CDU kommt, erfolgreich ist. Die CDU muss wollen, dass wir erfolgreich sind in der Bundesregierung. Wenn wir das so miteinander machen und nicht jeden Tag kleinkariert uns beobachten und versuchen, die Vorteile des anderen zu reduzieren, dann werden wir überzeugen in der Beantwortung der Probleme des Landes, und dann werden die Menschen sagen: Das ist toll. Eigentlich wollen die Menschen, dass wir nicht diesen kleinkarierten Kampf untereinander führen, sondern dass wir ihre Probleme lösen. Der Bundespräsident hat zur Bildungsfrage eine wichtige Rede gehalten in der vergangenen Woche. Und ich empfehle allen, die es nicht gehört haben, sehr, es noch einmal nachzulesen. Er trifft den Punkt. Und er hat nicht über die Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden gesprochen, die hat er gar nicht erwähnt, sondern er hat über die Interessenlage der Menschen gesprochen, des einzelnen Individuums. Und wir verhaken uns so oft in der Frage der Zuständigkeiten. Wir müssen die Probleme lösen in diesem Land. Das ist es, was die Menschen von uns erwarten.
Labuhn: Herr Müntefering, letzte Frage: Vor ziemlich genau einem Jahr fanden ja die vorgezogenen Bundestagswahlen statt, die zur jetzigen Großen Koalition führten. Wünschen Sie sich in stillen Stunden manchmal, Gerhard Schröder hätte ein bisschen länger durchgehalten und sich erst in diesem Jahr zur Wiederwahl gestellt bei viel besseren Konjunktur- und Arbeitsmarktdaten als 2005?
Müntefering: Na gut, da war ich ja damals auch mit dabei. Das haben wir ja beraten miteinander. Ich glaube, dass im Herbst des letzten Jahres schon die Stunde der Wahrheit gekommen wäre. Die Bedingungen waren damals so, dass man sehen konnte, da gibt es keine große Handlungsfähigkeit mehr. Ich glaube, dass die Entscheidung richtig war, und ich glaube, dass sie insgesamt für das Land eine richtige Entscheidung war, wenn wir daraus jetzt Gutes machen. Und das heißt, noch einmal gesagt, dass wir uns nicht verlieren in parteitaktischen Manövern, sondern die Probleme des Landes im Blick haben.
Labuhn: Herr Müntefering, vielen Dank.
Müntefering: Ich bedanke mich auch.