Zu verwahren und auszustellen gibt es genug: Sechs bis siebentausend Museen zählt man allein in Deutschland, und zusammen ziehen sie pro Jahr 100 Millionen Besucher jährlich an - mehr als die Republik Einwohner hat. 17 Prozent aller Baumasse stehen hierzulande unter Denkmalschutz, historische Biographien verkaufen sich bestens, noch der entlegenste Weiler pflegt heute seine lokalgeschichtliche Bedeutsamkeit. Wozu soviel Erinnerung, jenseits der Interessen all jener, die von ihr leben: der Kuratoren, Chronisten, Museumsführer? Ihr vornehmster Zweck wohl immer noch: das Innehalten. Beschleunigung heißt ein zentrales Stichwort moderner Gesellschaften, und das gilt nicht nur für schnelle Autos, sondern mehr noch für die Erfahrung beschleunigter Zeit - sie rennt uns schlicht davon. Und doch: Mehr noch als die forteilende Zeit, so Jörn Rüsen, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, sieht sich die Gegenwart dem treibenden Rhythmus unvorhersehbarer Großereignisse ausgesetzt, die die Zeit in immer kleineren Abständen nach vorne drängen.
Also, die Tiefenstruktur unserer Zeiterfahrung hat sich nicht so dramatisch wie etwa zu Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Anbruch modernen Denkens verändert. Aber nehmen Sie doch nur das Jahr 1989 oder meinetwegen nehmen Sie den 11. September. Hier werden Erfahrungen gemacht, die doch unsere Gewohnheit der historischen Orientierung zumindest herausfordern. Und das stellt neue Orientierungsprobleme.
Wie also sich orientieren? Ist etwa der Philosoph Hermann Lübbe ein Nostalgiker, wenn er den größten Garanten einer geordneten Weltsicht vor allem in der Besinnung auf die eigene Herkunft sieht? Nicht unbedingt. Das Wissen um die eigene Vergangenheit, so Lübbe, gibt dem Handlungssinn die Richtung vor - und nicht etwa der forcierte, ungestüm drängende Gegenwartsbezug.
Seiner selbst herkunftsabhängig sicher zu werden, macht Sie nicht etwa immobil und zukunftsunfähig - das reine Gegenteil ist der Fall. Herkunftssicherheit erhöht - und schwächt nicht - die Mobilität. Das ist der grundlegende Irrtum, das verkannt zu haben, der Totalemanzipationsideologen.
Die Emanzipationsideologen: Lübbes liebste Feinde. Und den Verächtern der Historie kann er gewichtige Argumente entgegensetzen. Wer etwa eroberte Amerika? Waren es nicht eben jene, die sich ihrer Geschichte, ihrer Tradition bewusst waren, wie wenige andere sonst? Waren es nicht die, die ihren Glauben, ihre Religion gegen widrigste Umstände weiter pflegen wollten - und eben darum den Aufbruch wagten? Auch religiös Unmusikalische können Lübbes Argument schwer abschlagen: Am mobilsten ist, wer weiß, warum er sich bewegt. Gedanken fördern und formen die Zukunft. Und so gab sich ein weiterer Lübbe'scher Lieblingsfeind ein Stelldichein: Karl Marx, dem die Gedanken der Philosophen bekanntlich viel zu schwach waren, mitnichten in der Lage, die Welt auch nur im Geringsten voranzutreiben.
Ich meine, gegen Marx-Inschriften, auch wenn es Stuss-Sätze sind, wie der, dass die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert hätten, aber dass es darauf ankomme, darauf ankömmt, die Welt zu verändern, das steht ja im Eingang der Friedrichs-Wilhelm-Universität. Ich habe mich darüber dann mit leicht gespieltem Empörung geäußert: Was ist denn das, dieser Stuss-Satz in dieser Universität, in dieser großen Tradition? Ja, und dann war ich beruhigt: Es steht natürlich unter Denkmalschutz.
Nicht Alles, was alt ist, hat allein schon darum Sinn. Und doch schleicht Lübbe gern um die Historie, sucht die Spuren des Jungen vor allem im Alten, in gesicherten Traditionsbeständen. Die nämlich hatten das Glück, den Wettstreit der Ideen in längst nicht solchem Tempo austragen zu müssen, wie heutige Dichter, Denker, Deuter, deren intellektuelle Halbwertzeit - der Markt ist unbarmherzig - ungeheuer zunimmt. Und weil die Emanzipationsideologen nun einmal Lübbes liebste Feinde sind, beschloss er seinen Vortrag mit einem pointierten Angriff auf einen weiteren, seinerseits historisch längst verdauten Gegenwartsbesessenen: auf Filippo Tomaso Marinetti, der 1909 in seinem "Futuristischen Manifest" ja ebenfalls den Glanz der Welt allein in der Gegenwart aufblitzen sah - einer Gegenwart, gegenüber der alles nur irgendwie Alte unweigerlich verblassen musste.
Ein Rennwagen ist schöner als Nicae von Samotracae. Und nun müssen Sie sich vergegenwärtigen, dass es sich um einen Rennwagen von1909 handelt. Welche hoch musealisierte Präziose in unseren technikhistorischen Museen, während die Nicae von Samotracae aus dem späten dritten nachchristlichen Jahrhundert stammt, in den seit Marinetti verabschiedeten gut 90 Jahren zusätzlich kaum veraltet ist. Das ist die Dauerhaftigkeit des Klassischen. Wer das verkennt, lebt sehr gefährdet, wie auch Marinetti, der nicht ganz zufällig dann als Kunstpapst eines faschistischen Diktators endete.
Obsessiver Gegenwartsbezug ist noch niemandem gut bekommen, in der großen Politik nicht und auch nicht ein paar Stufen darunter. Kein Zufall, dass die kleinen großen Barbaren sich heute am liebsten in den Talkshows tummeln. Alles darf, denn alles verdampft, die Gegenwart als diskursiver Hochdruckkessel, dem der Dampf niemals entweicht. Dass das nicht gesund ist, hat Lübbe überzeugend gezeigt. Ab wann aber historisches Gedenken zur Marotte, zum konservativen Tick, ab wann sie zur Ideologie verhärtet, vielleicht gar zu religiös grundiertem Fundamentalismus verkommt, wie es die großen Bösen und großen Guten der Weltpolitik es derzeit gerade vorexerzieren - dies hat der Philosoph nicht erkennen lassen. Die alte Welt mag gut sein. Es komme aber darauf an, sie neu zu denken.
Also, die Tiefenstruktur unserer Zeiterfahrung hat sich nicht so dramatisch wie etwa zu Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Anbruch modernen Denkens verändert. Aber nehmen Sie doch nur das Jahr 1989 oder meinetwegen nehmen Sie den 11. September. Hier werden Erfahrungen gemacht, die doch unsere Gewohnheit der historischen Orientierung zumindest herausfordern. Und das stellt neue Orientierungsprobleme.
Wie also sich orientieren? Ist etwa der Philosoph Hermann Lübbe ein Nostalgiker, wenn er den größten Garanten einer geordneten Weltsicht vor allem in der Besinnung auf die eigene Herkunft sieht? Nicht unbedingt. Das Wissen um die eigene Vergangenheit, so Lübbe, gibt dem Handlungssinn die Richtung vor - und nicht etwa der forcierte, ungestüm drängende Gegenwartsbezug.
Seiner selbst herkunftsabhängig sicher zu werden, macht Sie nicht etwa immobil und zukunftsunfähig - das reine Gegenteil ist der Fall. Herkunftssicherheit erhöht - und schwächt nicht - die Mobilität. Das ist der grundlegende Irrtum, das verkannt zu haben, der Totalemanzipationsideologen.
Die Emanzipationsideologen: Lübbes liebste Feinde. Und den Verächtern der Historie kann er gewichtige Argumente entgegensetzen. Wer etwa eroberte Amerika? Waren es nicht eben jene, die sich ihrer Geschichte, ihrer Tradition bewusst waren, wie wenige andere sonst? Waren es nicht die, die ihren Glauben, ihre Religion gegen widrigste Umstände weiter pflegen wollten - und eben darum den Aufbruch wagten? Auch religiös Unmusikalische können Lübbes Argument schwer abschlagen: Am mobilsten ist, wer weiß, warum er sich bewegt. Gedanken fördern und formen die Zukunft. Und so gab sich ein weiterer Lübbe'scher Lieblingsfeind ein Stelldichein: Karl Marx, dem die Gedanken der Philosophen bekanntlich viel zu schwach waren, mitnichten in der Lage, die Welt auch nur im Geringsten voranzutreiben.
Ich meine, gegen Marx-Inschriften, auch wenn es Stuss-Sätze sind, wie der, dass die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert hätten, aber dass es darauf ankomme, darauf ankömmt, die Welt zu verändern, das steht ja im Eingang der Friedrichs-Wilhelm-Universität. Ich habe mich darüber dann mit leicht gespieltem Empörung geäußert: Was ist denn das, dieser Stuss-Satz in dieser Universität, in dieser großen Tradition? Ja, und dann war ich beruhigt: Es steht natürlich unter Denkmalschutz.
Nicht Alles, was alt ist, hat allein schon darum Sinn. Und doch schleicht Lübbe gern um die Historie, sucht die Spuren des Jungen vor allem im Alten, in gesicherten Traditionsbeständen. Die nämlich hatten das Glück, den Wettstreit der Ideen in längst nicht solchem Tempo austragen zu müssen, wie heutige Dichter, Denker, Deuter, deren intellektuelle Halbwertzeit - der Markt ist unbarmherzig - ungeheuer zunimmt. Und weil die Emanzipationsideologen nun einmal Lübbes liebste Feinde sind, beschloss er seinen Vortrag mit einem pointierten Angriff auf einen weiteren, seinerseits historisch längst verdauten Gegenwartsbesessenen: auf Filippo Tomaso Marinetti, der 1909 in seinem "Futuristischen Manifest" ja ebenfalls den Glanz der Welt allein in der Gegenwart aufblitzen sah - einer Gegenwart, gegenüber der alles nur irgendwie Alte unweigerlich verblassen musste.
Ein Rennwagen ist schöner als Nicae von Samotracae. Und nun müssen Sie sich vergegenwärtigen, dass es sich um einen Rennwagen von1909 handelt. Welche hoch musealisierte Präziose in unseren technikhistorischen Museen, während die Nicae von Samotracae aus dem späten dritten nachchristlichen Jahrhundert stammt, in den seit Marinetti verabschiedeten gut 90 Jahren zusätzlich kaum veraltet ist. Das ist die Dauerhaftigkeit des Klassischen. Wer das verkennt, lebt sehr gefährdet, wie auch Marinetti, der nicht ganz zufällig dann als Kunstpapst eines faschistischen Diktators endete.
Obsessiver Gegenwartsbezug ist noch niemandem gut bekommen, in der großen Politik nicht und auch nicht ein paar Stufen darunter. Kein Zufall, dass die kleinen großen Barbaren sich heute am liebsten in den Talkshows tummeln. Alles darf, denn alles verdampft, die Gegenwart als diskursiver Hochdruckkessel, dem der Dampf niemals entweicht. Dass das nicht gesund ist, hat Lübbe überzeugend gezeigt. Ab wann aber historisches Gedenken zur Marotte, zum konservativen Tick, ab wann sie zur Ideologie verhärtet, vielleicht gar zu religiös grundiertem Fundamentalismus verkommt, wie es die großen Bösen und großen Guten der Weltpolitik es derzeit gerade vorexerzieren - dies hat der Philosoph nicht erkennen lassen. Die alte Welt mag gut sein. Es komme aber darauf an, sie neu zu denken.