"Erhabenes verehrend / Schönes geniesend / Gutes wirkend Förderte sie alles / was Menschheit /ehrt ziert und bestätigt"
Mit diesen Worten auf ihrem Grabstein ehrte Johann Wolfgang von Goethe Anna Amalia, die Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, die Mutter des Großherzogs Carl August. Mutter und Sohn haben in ihrem Herzogtum die freie Entfaltung der Künste und Wissenschaft gefördert. Goethe wurde hier Minister. Weimar war um 1800 die Keimzelle der klassischen Literatur, auch Schiller, Wieland und Herder wirkten hier. Daher stand am Anfang des DFG-Projekts die Aufarbeitung eines Mythos, der die Region Weimar-Jena auf die Wirkung ihrer Literatur reduziert, so der Geschichtswissenschaftler Alexander Schmidt:
"Für Historiker stellt dieses Ereignis Weimar-Jena ein besonderes Problem dar, als das die historische Erforschung immer im Schatten der großen Literaten steht, so dass in der Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts immer nach Besonderem, auch im historischen gesehen wurde, dass man versucht, die Politik, die in Weimar-Sachsen-Eisenach gemacht wurde, als besonders Modell anzusehen von kleinstaatlicher Politik. Das war das, womit man sich am Anfang erst einmal abarbeiten musste, das man versuchen wollte zu zeigen, sehr viel von dem, was als besonders dargestellt wurde, zum Beispiel diese Verbindung zwischen Literatur und Hof entspricht in sehr vieler Hinsicht der Normalität, die einfach um 1800 in einem deutschen Kleinstaat geherrscht hat."
Die Residenzstadt Weimar wurde, verbunden mit der 17 Kilometer entfernten Universitätsstadt Jena, zu dem "Ereignisraum Weimar-Jena". Ein frühes Zentrum der interdisziplinären Forschung mit vielen Facetten. Das ist eine der spannendsten Erkenntnisse des Projekts, findet Alexander Schmidt.
"Das war auch ganz viel ankämpfen gegen so was wie die Musenhoflegende, klar zu machen, das Hofstrukturen komplexer sind, als sie dargestellt werden, dass es da einen bestimmten Raum gibt innerhalb dieses Hofes, in dem solche Sachen stattfinden, ein Divertissement. Das aber die Realität des Hofes dadurch nicht einseitig bestimmt wird. Auch zu zeigen, wie beschränkte Möglichkeiten die Politik eigentlich hatte um 1800 in so einem Kleinstaat, wie sehr man darauf angewiesen war auf größere politische Einheiten, zum Beispiel die Anbindung an hausverwandte Staaten, also Sachsen und das politische System des Reichs. Das waren Sachen, die man erst mal zeigen musste, um zu zeigen, sehr viel ist hier Normalität. Literaturförderung ist da eben nur ein Feld, das hier stattfindet."
Weimar steht in Deutschland als Identität stiftendes Symbol für eine nicht machtpolitisch bestimmte Größe, Jena für die Wissenschaften und für den liberal-nationalen Aufbruch zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Als Einheit betrachtet sind beide Städte, so der zentrale Neuansatz dieses Sonderforschungsbereichs, allen anderen Orten in Deutschland um 1800 an politisch-kultureller Signalwirkung überlegen. Der Philosoph Reinhard Kosselek spricht von einer "Sattelzeit" und bezeichnet damit eine Epoche des Umbruchs sozialer und politischer aber auch geistesgeschichtlicher Verhältnisse. Schon Zeitgenossen wie Friedrich Schiller und Friedrich Schlegel bezeichneten die Entwicklung als "ästhetische Revolution", erläutert der Wissenschaftshistoriker Thomas Bach:
"Von der Anlage her hat man schon immer gesehen, dass weder Weimar allein noch Jena allein das Ereignis ausmachen, sondern dieses Wechselspiel zwischen beiden Städten. Was man natürlich sagen kann, ist, dass in Weimar die Literatur zu Hause ist und hier in Jena haben wir die Universität. Insofern gibt es quasi so ein Geben und Nehmen. Wenn Goethe zum Beispiel, ein Protagonist, der wirklich auch in beiden Hälften aktiv war, als Literat, Dichter, gestaltend als Politiker, als Minister und er ist natürlich auch als Wissenschaftler für uns von großem Interesse. Aber wenn Goethe Wissenschaft betreibt, kommt er oft nach Jena, spricht hier gezielt Professoren an, macht da anatomische Studien, in diesem Kontext kommen, dann die Entdeckungen vom Zwischenkieferknochen, er berät sich mit Chemikern, das heißt, er hat ein sehr direktes Zugehen auf Probleme, er nimmt sich die Leute, mit denen er reden will, um weiter zu kommen. Ähnliches ist es für die Kultur, zum Beispiel Theater, da gehen natürlich die Studenten und Professoren nach Weimar ins Theater. Damals noch viele zu Fuß."
Bach hat die Ausstellung zum "Ereignis Weimar-Jena" mit konzipiert. Sie ist in verschiedene Wissenschaftsfelder gegliedert.
"Hier ist es so ausgestellt, dass alle aktuell laufenden Projekte eine Vitrinenebene haben. Wenn wir jetzt hier hin gehen, wäre das die Ebene von E2 "Empirie versus Spekulation" über die Jenaer Medizin um 1800. Bei der Medizin geht es um die Gesundheitspolitik."
Einen hohen Stellenwert hatte in Jena auch die Elektrizitätsforschung. Sie ist vor allem mit dem Namen Johann Wilhelm Ritter verbunden. Hinter der Glasscheibe einer Vitrine ist eine kleine Säule, geschichtet aus drei verschiedenen Materialien, zu erkennen. Sie stellt eine plotaische Säule um 1800 dar.
"Es geht einfach darum, in der Abfolge, Kupfer, Zink und Pappe, das ist eine Lage immer und das sind 60 von diesen Trippeln übereinander gestapelt. Auf diese Weise erreicht man eben diese galvanische Elektrizität. Ritter ist hier in Jena der Säulenheilige für den Galvanismus. Er war Apotheker, kam nach Jena, hat studiert, wurde während seines Studiums aufgefordert, selbst Vorlesungen über Galvanismus anzubieten. Die Studenten sind an ihn herangetreten und haben gesagt, gib uns doch mal eine Vorlesung zu diesem Stoff, der sonst hier nicht angeboten wird. Dann gab es Probleme mit der Fakultät, die haben gesagt, der ist ja nicht promoviert, nicht fertig mit dem Studium. Da ging Ritter direkt zum Herzog und der hat gesagt: Dispense, er darf diese Vorlesung halten und so hat Ritter hier eine Vorlesung über Galvanismus gehalten."
Wissenschaftler aus verschiedenen Fakultäten tummelten sich zunehmend in Jena. Die Forschungsergebnisse machen deutlich, warum Jena als "Stapelstadt des Wissens" bezeichnet wurde. Um 1800 war Jena die Universität in Deutschland mit den meisten Studenten. Weimar und seine Geistesgrößen übten gleichermaßen eine Anziehungskraft aus. Das Herzogtum Anna Amalias und ihres Sohnes Carl August betrieb eine geschickte Politik, so Alexander Schmidt:
"Das es hier gelungen ist, diese einzigartigen Ressourcen sehr gut zu nutzen. Zum Beispiel auf Sachen zu setzen, die relativ billig sind, verglichen mit Höfen wie Dresden. Große Kunst kann man sich nicht anschaffen, aber Literaten wie Schiller, an der Universität für 200 Reichstaler Jahressalär zu beschäftigen, ist relativ billig und den dann noch zusätzlich Kolleggelder einwerben zu lassen. So eine Möglichkeit, mit der man relativ viel erreichen kann mit wenig Mitteln. Und das ist eigentlich dieses gelungene Geheimnis des Kleinstaates. Zum Beispiel in der Wissenschaftsförderung, auch an der Universität, dass mit außerordentlichen Professuren es gelingt, vielversprechende junge Köpfe an die Universität zu ziehen und die eine bestimmte Zeit zu halten. Zum Beispiel Hegel, Schelling und damit auch einen Namen zu schaffen, denn das ist es, was wir in diesem Projekt jetzt stärker beleuchten: diese Art von Selbstinszenierung des Ereignisraums – die Selbstinszenierung dieser Regierung und der Leistungen, die man hat, zum Teil durch Zeitschriften, durch Nachrichtenmagazine, auch durch Kontakte mit anderen Staaten."
Goethe, der selbst in verschiedensten Wissenschaftsbereichen geforscht hat, war ein besonders guter Vermittler für die zu dieser Zeit aufkommenden Naturwissenschaften. An Schiller schrieb er begeistert von seinen ersten Begegnungen mit dem Naturwissenschaftler Johann Wilhelm Ritter:
"Rittern habe ich gestern bei mir gesehen, es ist eine Erscheinung zum Erstaunen, ein wahrer Wissenshimmel auf Erden."
Anschließend hat der Dichter über ein Jahr gemeinsam mit Ritter an seiner Farbenlehre geforscht. Goethes Bewunderung galt im gleichen Maße dem Botaniker August Batsch, der ebenfalls in Jena lehrte und für seine neuen Erkenntnisse in der Floristik, speziell auf dem Gebiet der Pilzforschung bekannt war.
"Und so sahen wir denn auch unseren trefflichen Batsch dieses Jahr in thätiger Zufriedenheit. Der edle, reine, aus sich selbst arbeitende Mann bedurfte, gleich einer saftigen Pflanze, weder vieles Erdreich noch starke Bewässerung, da er die Fähigkeit besaß aus der Atmosphäre sich die besten Nahrungsstoffe zuzueignen."
Die naturforschende Gesellschaft wurde gegründet, das ist hier in dem Kontext ganz wichtig, der naturforschenden Gesellschaft Jena, die von dem Botaniker Batsch gegründet wurde, wurde von der Regensburger botanischen Gesellschaft, die erste botanische Gesellschaft überhaupt, ein Heft mit Pflanzenselbstdrucken geschenkt.
Das Pflanzenselbstdruckverfahren, bei dem Pflanzen auf Papierseiten gepresst werden, war ein Ausgangspunkt der Naturforschung. Nicht nur für Goethes botanische Studien, sondern auch für den botanischen Forschungsstandort Jena spielte der Pflanzenselbstdruck eine wichtige Rolle, erläutert die Kulturwissenschaftlerin Kerrin Klinger.
"Das ist der dritte Teil der Ausstellung. Ganz unten ist das berühmteste Buch mit Pflanzenselbstdrucken das es eigentlich gibt, und zwar ist es von dem Erfurter Professor Johannes Kniephoff, der zum ersten Mal den Naturselbstdruck kommerziell zu nutzen verstand: Botanika in Orginali – der Titel. Es stellt nur Kräuter, Pflanzenselbstdrucke um Erfurt herum vor. Die historischen Selbstdrucke sind alle im Kontext Botanik bzw. Pharmazie entstanden, weil vor allem Apotheker so was kauften. Sie gingen mit diesen Büchern in die Natur und haben Pflanzenbestimmung gemacht. Der Dozent hier an der Universität um 1800 hat konkret Pflanzenselbstdruck gemacht, wo dann zu jedem Pflanzenabdruck die Arzneiwirkung erklärt wird."
Eine Vitrine der Ausstellung zeigt verschiedene Modelle der Camera obscura, der Vorläufer unserer heutigen Fotoapparate. Ein visuelles Medium in einer Zeit, da die Technik begann, den sozialen Raum zu erobern. Auch Goethe entdeckte die neuen Möglichkeiten, die sich in dieser Form bildhafter Betrachtung boten, wie Kerrin Klinger feststellt.
Er selber nennt es seine Portativa, eine transportable Kamera. Mit der geht er auch in den Garten und beschreibt, dass die gemusterten Kleider der Passanten ganz vortrefflich in dieser Kamera aussehen. Man kann sich das so vorstellen, es ist eine gewisse Entfremdung durch dieses Cameraobscurabild. Die heutige Anmutung ist wie ein Videobild. Das muss für die damaligen Betrachter was ganz besonderes gewesen sein. ... wenn ein Spiegel in seine Kamera eingebaut ist, stehen sie zwar auf den Füßen, aber sie sind alle invertiert, das heißt alle spiegelverkehrt. Das ist natürlich sehr lustig, wenn die Geräusche von rechts kommen, aber im Bild die Kutsche von links anfährt.
Die naturphilosophische Forschung wurde im damaligen deutschen Reich maßgeblich von Johann Gottlieb Fichte und Johann Gottfried Herder geprägt. Beide lehrten in Weimar-Jena, von wo aus Herder auch seinen Disput mit dem Königsberger Philosophen Imanuel Kant führte.
"Kant hat ein transzendentales Modell für die Geschichte, das heißt, Geschichtsentwicklung wird deutbar in Hinblick auf die Freiheit, wie entfaltet sich Freiheit. Auch bei Herder spielt die Freiheit eine große Rolle. Aber der Unterschied zu Kant besteht darin, dass er sich viel stärker auf empirische Quellen einlässt. Für Herder ist es so, der Mensch ist durch seine Naturanlage zur Freiheit aufgefordert. Aufrechter Gang ist das Lieblingsbeispiel. Warum geht der Mensch aufrecht? Für Kant ist es klar, er geht aufrecht, weil er Vernunft hat und für Herder ist es vielleicht umgekehrt: weil er aufrecht geht, hat er Vernunft. Herder ist viel näher an den Ergebnissen der Naturforschungen seiner Zeit, und versucht die produktiv zu verwenden für seine Geschichtsphilosophie."
Die sich neu entwickelnde Wissenschaftslandschaft hatte nirgends im römischen Reich deutscher Nation eine größere innovative Kraft als im Ereignisraum Weimar-Jena, sagt Thomas Bach. Ihre Entwicklung ging aber über die die Epoche prägenden Strömungen des Idealismus und der Romantik weit hinaus.
"Aus der Perspektive Wissenschaftsgeschichte findet man eine Ausdifferenzierung, das heißt der kulturelle Umbruch ist eben auch schon zu sehen. Es gibt eine Ausdifferenzierung, eine Spezialisierung und in diesem Bezug gibt es Bestrebungen, wieder eine Einheit herzustellen. Also beispielsweise so ein Aspekt für die Naturphilosophie, ob sie nun idealistisch oder romantisch ist, spielt eigentlich keine Rolle. Das man versucht, was sich jetzt ausdifferenziert hat, wieder zusammen zu holen, das ist im Prinzip schon so eine Reaktion, so eine Kompensationserscheinung."
In Bezug auf Weimar-Jena sprechen die Wissenschaftler, die an dem Sonderforschungsprogramm mitgearbeitet haben, von einer "Leitkultur aus der Provinz". Der Wissenschaftsstandort entwickelte sich zu einem kulturwissenschaftlichen Zentrum, vergleichbar den Hauptstädten Paris oder Petersburg, so der Historiker Alexander Schmidt.
"Was schon deutlich ist, dass es unterschiedliche Formen von Aufbrüchen innerhalb dieses Zeitraums um 1800 gibt. Am Anfang dieser Reformenthusiasmus, der in den späten 1770er-und frühen 1780er-Jahren herrscht, der junge Herzog, der gerade die Macht angetreten hat, dass man mit jungen Geistern und Leuten relativ viel schaffen kann, dass man diesen aufgeklärten Reformstaat schaffen kann. Aber man merkt auch schnell die Grenzen und es gibt auch andere Aufbrüche: die Romantiker zum Beispiel, oder auch die jungen Wissenschaftler, die man in Jena hat, die von der kantischen Philosophie begeistert sind. Und eben diese eigenen Unternehmen, auch in einem nationalen und in einem weltbürgerlichen Kontext sehen, dass man sagt, die deutsche Nation, man hat das Gefühl, dass man anderen Nationen Europas hinterher läuft, das man keinen Montesquieu hat, dass man keinen Voltaire hat, aber das man mit Kant und anderen Entwicklungen, Goethe zum Beispiel, dabei ist, diesen Rückschritt aufzuholen. Das man jetzt mit einer jungen Truppe dabei ist, die Führung zu übernehmen. Dieses Gefühl hat man, auch an anderen Orten Deutschlands und Weimar-Jena kann dieses Gefühl bündeln. Ich glaub, das ist das was es hier so aus macht, wo man auch profitiert. Man kann hier von Mitte der 1770er Jahre bis zum Tod Goethes 1832 ansetzen, das wäre der Zeitraum, über den wir hier sprechen."
Alexander Schmidt benennt die Erfahrungen, die sich aus der Arbeit am Forschungsprojekt "Ereignis Weimar-Jena" ergeben haben:
"Was ich für wichtig halte, ist, dass man feststellt, wie Reflexionsprozesse in der Zeit ablaufen, dass man diese Inszenierung als ein kulturelles und nationales Zentrum bewusst betreibt, das man eben nicht selber hervorbringt, was gemacht wird. Dann ist wichtig, die Verbindung zwischen dem Problem einer Ressourcenknappheit und dem kreativen Umgang damit in einer Zeit des Umbruchs, wo genügend Köpfe zur Verfügung stehen, die man in den Dienst für verschiedene Sachen, wissenschaftliche, literarische, politische Projekte bringen kann und die man hier zusammenführt. Und man sollte auch sehen, dass es Bereiche gibt, die von dem Ereignis relativ wenig berührt bleiben. Dass es natürlich Bereiche des Sozialen gibt, die wenig von dem, was an literarischer Hochkultur passiert, betroffen sind."
Die innovativen Ansätze haben sich nicht auf der politischen Ebene durchsetzen können, der Ständestaat blieb erhalten. Der Aufbruch im Bereich der Kultur und der Wissenschaft, der von Weimar-Jena ausging, ist hingegen gelungen.
Informationen zum Projekt und der Ausstellung
www.uni-jena.de/ereignis
Mit diesen Worten auf ihrem Grabstein ehrte Johann Wolfgang von Goethe Anna Amalia, die Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, die Mutter des Großherzogs Carl August. Mutter und Sohn haben in ihrem Herzogtum die freie Entfaltung der Künste und Wissenschaft gefördert. Goethe wurde hier Minister. Weimar war um 1800 die Keimzelle der klassischen Literatur, auch Schiller, Wieland und Herder wirkten hier. Daher stand am Anfang des DFG-Projekts die Aufarbeitung eines Mythos, der die Region Weimar-Jena auf die Wirkung ihrer Literatur reduziert, so der Geschichtswissenschaftler Alexander Schmidt:
"Für Historiker stellt dieses Ereignis Weimar-Jena ein besonderes Problem dar, als das die historische Erforschung immer im Schatten der großen Literaten steht, so dass in der Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts immer nach Besonderem, auch im historischen gesehen wurde, dass man versucht, die Politik, die in Weimar-Sachsen-Eisenach gemacht wurde, als besonders Modell anzusehen von kleinstaatlicher Politik. Das war das, womit man sich am Anfang erst einmal abarbeiten musste, das man versuchen wollte zu zeigen, sehr viel von dem, was als besonders dargestellt wurde, zum Beispiel diese Verbindung zwischen Literatur und Hof entspricht in sehr vieler Hinsicht der Normalität, die einfach um 1800 in einem deutschen Kleinstaat geherrscht hat."
Die Residenzstadt Weimar wurde, verbunden mit der 17 Kilometer entfernten Universitätsstadt Jena, zu dem "Ereignisraum Weimar-Jena". Ein frühes Zentrum der interdisziplinären Forschung mit vielen Facetten. Das ist eine der spannendsten Erkenntnisse des Projekts, findet Alexander Schmidt.
"Das war auch ganz viel ankämpfen gegen so was wie die Musenhoflegende, klar zu machen, das Hofstrukturen komplexer sind, als sie dargestellt werden, dass es da einen bestimmten Raum gibt innerhalb dieses Hofes, in dem solche Sachen stattfinden, ein Divertissement. Das aber die Realität des Hofes dadurch nicht einseitig bestimmt wird. Auch zu zeigen, wie beschränkte Möglichkeiten die Politik eigentlich hatte um 1800 in so einem Kleinstaat, wie sehr man darauf angewiesen war auf größere politische Einheiten, zum Beispiel die Anbindung an hausverwandte Staaten, also Sachsen und das politische System des Reichs. Das waren Sachen, die man erst mal zeigen musste, um zu zeigen, sehr viel ist hier Normalität. Literaturförderung ist da eben nur ein Feld, das hier stattfindet."
Weimar steht in Deutschland als Identität stiftendes Symbol für eine nicht machtpolitisch bestimmte Größe, Jena für die Wissenschaften und für den liberal-nationalen Aufbruch zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Als Einheit betrachtet sind beide Städte, so der zentrale Neuansatz dieses Sonderforschungsbereichs, allen anderen Orten in Deutschland um 1800 an politisch-kultureller Signalwirkung überlegen. Der Philosoph Reinhard Kosselek spricht von einer "Sattelzeit" und bezeichnet damit eine Epoche des Umbruchs sozialer und politischer aber auch geistesgeschichtlicher Verhältnisse. Schon Zeitgenossen wie Friedrich Schiller und Friedrich Schlegel bezeichneten die Entwicklung als "ästhetische Revolution", erläutert der Wissenschaftshistoriker Thomas Bach:
"Von der Anlage her hat man schon immer gesehen, dass weder Weimar allein noch Jena allein das Ereignis ausmachen, sondern dieses Wechselspiel zwischen beiden Städten. Was man natürlich sagen kann, ist, dass in Weimar die Literatur zu Hause ist und hier in Jena haben wir die Universität. Insofern gibt es quasi so ein Geben und Nehmen. Wenn Goethe zum Beispiel, ein Protagonist, der wirklich auch in beiden Hälften aktiv war, als Literat, Dichter, gestaltend als Politiker, als Minister und er ist natürlich auch als Wissenschaftler für uns von großem Interesse. Aber wenn Goethe Wissenschaft betreibt, kommt er oft nach Jena, spricht hier gezielt Professoren an, macht da anatomische Studien, in diesem Kontext kommen, dann die Entdeckungen vom Zwischenkieferknochen, er berät sich mit Chemikern, das heißt, er hat ein sehr direktes Zugehen auf Probleme, er nimmt sich die Leute, mit denen er reden will, um weiter zu kommen. Ähnliches ist es für die Kultur, zum Beispiel Theater, da gehen natürlich die Studenten und Professoren nach Weimar ins Theater. Damals noch viele zu Fuß."
Bach hat die Ausstellung zum "Ereignis Weimar-Jena" mit konzipiert. Sie ist in verschiedene Wissenschaftsfelder gegliedert.
"Hier ist es so ausgestellt, dass alle aktuell laufenden Projekte eine Vitrinenebene haben. Wenn wir jetzt hier hin gehen, wäre das die Ebene von E2 "Empirie versus Spekulation" über die Jenaer Medizin um 1800. Bei der Medizin geht es um die Gesundheitspolitik."
Einen hohen Stellenwert hatte in Jena auch die Elektrizitätsforschung. Sie ist vor allem mit dem Namen Johann Wilhelm Ritter verbunden. Hinter der Glasscheibe einer Vitrine ist eine kleine Säule, geschichtet aus drei verschiedenen Materialien, zu erkennen. Sie stellt eine plotaische Säule um 1800 dar.
"Es geht einfach darum, in der Abfolge, Kupfer, Zink und Pappe, das ist eine Lage immer und das sind 60 von diesen Trippeln übereinander gestapelt. Auf diese Weise erreicht man eben diese galvanische Elektrizität. Ritter ist hier in Jena der Säulenheilige für den Galvanismus. Er war Apotheker, kam nach Jena, hat studiert, wurde während seines Studiums aufgefordert, selbst Vorlesungen über Galvanismus anzubieten. Die Studenten sind an ihn herangetreten und haben gesagt, gib uns doch mal eine Vorlesung zu diesem Stoff, der sonst hier nicht angeboten wird. Dann gab es Probleme mit der Fakultät, die haben gesagt, der ist ja nicht promoviert, nicht fertig mit dem Studium. Da ging Ritter direkt zum Herzog und der hat gesagt: Dispense, er darf diese Vorlesung halten und so hat Ritter hier eine Vorlesung über Galvanismus gehalten."
Wissenschaftler aus verschiedenen Fakultäten tummelten sich zunehmend in Jena. Die Forschungsergebnisse machen deutlich, warum Jena als "Stapelstadt des Wissens" bezeichnet wurde. Um 1800 war Jena die Universität in Deutschland mit den meisten Studenten. Weimar und seine Geistesgrößen übten gleichermaßen eine Anziehungskraft aus. Das Herzogtum Anna Amalias und ihres Sohnes Carl August betrieb eine geschickte Politik, so Alexander Schmidt:
"Das es hier gelungen ist, diese einzigartigen Ressourcen sehr gut zu nutzen. Zum Beispiel auf Sachen zu setzen, die relativ billig sind, verglichen mit Höfen wie Dresden. Große Kunst kann man sich nicht anschaffen, aber Literaten wie Schiller, an der Universität für 200 Reichstaler Jahressalär zu beschäftigen, ist relativ billig und den dann noch zusätzlich Kolleggelder einwerben zu lassen. So eine Möglichkeit, mit der man relativ viel erreichen kann mit wenig Mitteln. Und das ist eigentlich dieses gelungene Geheimnis des Kleinstaates. Zum Beispiel in der Wissenschaftsförderung, auch an der Universität, dass mit außerordentlichen Professuren es gelingt, vielversprechende junge Köpfe an die Universität zu ziehen und die eine bestimmte Zeit zu halten. Zum Beispiel Hegel, Schelling und damit auch einen Namen zu schaffen, denn das ist es, was wir in diesem Projekt jetzt stärker beleuchten: diese Art von Selbstinszenierung des Ereignisraums – die Selbstinszenierung dieser Regierung und der Leistungen, die man hat, zum Teil durch Zeitschriften, durch Nachrichtenmagazine, auch durch Kontakte mit anderen Staaten."
Goethe, der selbst in verschiedensten Wissenschaftsbereichen geforscht hat, war ein besonders guter Vermittler für die zu dieser Zeit aufkommenden Naturwissenschaften. An Schiller schrieb er begeistert von seinen ersten Begegnungen mit dem Naturwissenschaftler Johann Wilhelm Ritter:
"Rittern habe ich gestern bei mir gesehen, es ist eine Erscheinung zum Erstaunen, ein wahrer Wissenshimmel auf Erden."
Anschließend hat der Dichter über ein Jahr gemeinsam mit Ritter an seiner Farbenlehre geforscht. Goethes Bewunderung galt im gleichen Maße dem Botaniker August Batsch, der ebenfalls in Jena lehrte und für seine neuen Erkenntnisse in der Floristik, speziell auf dem Gebiet der Pilzforschung bekannt war.
"Und so sahen wir denn auch unseren trefflichen Batsch dieses Jahr in thätiger Zufriedenheit. Der edle, reine, aus sich selbst arbeitende Mann bedurfte, gleich einer saftigen Pflanze, weder vieles Erdreich noch starke Bewässerung, da er die Fähigkeit besaß aus der Atmosphäre sich die besten Nahrungsstoffe zuzueignen."
Die naturforschende Gesellschaft wurde gegründet, das ist hier in dem Kontext ganz wichtig, der naturforschenden Gesellschaft Jena, die von dem Botaniker Batsch gegründet wurde, wurde von der Regensburger botanischen Gesellschaft, die erste botanische Gesellschaft überhaupt, ein Heft mit Pflanzenselbstdrucken geschenkt.
Das Pflanzenselbstdruckverfahren, bei dem Pflanzen auf Papierseiten gepresst werden, war ein Ausgangspunkt der Naturforschung. Nicht nur für Goethes botanische Studien, sondern auch für den botanischen Forschungsstandort Jena spielte der Pflanzenselbstdruck eine wichtige Rolle, erläutert die Kulturwissenschaftlerin Kerrin Klinger.
"Das ist der dritte Teil der Ausstellung. Ganz unten ist das berühmteste Buch mit Pflanzenselbstdrucken das es eigentlich gibt, und zwar ist es von dem Erfurter Professor Johannes Kniephoff, der zum ersten Mal den Naturselbstdruck kommerziell zu nutzen verstand: Botanika in Orginali – der Titel. Es stellt nur Kräuter, Pflanzenselbstdrucke um Erfurt herum vor. Die historischen Selbstdrucke sind alle im Kontext Botanik bzw. Pharmazie entstanden, weil vor allem Apotheker so was kauften. Sie gingen mit diesen Büchern in die Natur und haben Pflanzenbestimmung gemacht. Der Dozent hier an der Universität um 1800 hat konkret Pflanzenselbstdruck gemacht, wo dann zu jedem Pflanzenabdruck die Arzneiwirkung erklärt wird."
Eine Vitrine der Ausstellung zeigt verschiedene Modelle der Camera obscura, der Vorläufer unserer heutigen Fotoapparate. Ein visuelles Medium in einer Zeit, da die Technik begann, den sozialen Raum zu erobern. Auch Goethe entdeckte die neuen Möglichkeiten, die sich in dieser Form bildhafter Betrachtung boten, wie Kerrin Klinger feststellt.
Er selber nennt es seine Portativa, eine transportable Kamera. Mit der geht er auch in den Garten und beschreibt, dass die gemusterten Kleider der Passanten ganz vortrefflich in dieser Kamera aussehen. Man kann sich das so vorstellen, es ist eine gewisse Entfremdung durch dieses Cameraobscurabild. Die heutige Anmutung ist wie ein Videobild. Das muss für die damaligen Betrachter was ganz besonderes gewesen sein. ... wenn ein Spiegel in seine Kamera eingebaut ist, stehen sie zwar auf den Füßen, aber sie sind alle invertiert, das heißt alle spiegelverkehrt. Das ist natürlich sehr lustig, wenn die Geräusche von rechts kommen, aber im Bild die Kutsche von links anfährt.
Die naturphilosophische Forschung wurde im damaligen deutschen Reich maßgeblich von Johann Gottlieb Fichte und Johann Gottfried Herder geprägt. Beide lehrten in Weimar-Jena, von wo aus Herder auch seinen Disput mit dem Königsberger Philosophen Imanuel Kant führte.
"Kant hat ein transzendentales Modell für die Geschichte, das heißt, Geschichtsentwicklung wird deutbar in Hinblick auf die Freiheit, wie entfaltet sich Freiheit. Auch bei Herder spielt die Freiheit eine große Rolle. Aber der Unterschied zu Kant besteht darin, dass er sich viel stärker auf empirische Quellen einlässt. Für Herder ist es so, der Mensch ist durch seine Naturanlage zur Freiheit aufgefordert. Aufrechter Gang ist das Lieblingsbeispiel. Warum geht der Mensch aufrecht? Für Kant ist es klar, er geht aufrecht, weil er Vernunft hat und für Herder ist es vielleicht umgekehrt: weil er aufrecht geht, hat er Vernunft. Herder ist viel näher an den Ergebnissen der Naturforschungen seiner Zeit, und versucht die produktiv zu verwenden für seine Geschichtsphilosophie."
Die sich neu entwickelnde Wissenschaftslandschaft hatte nirgends im römischen Reich deutscher Nation eine größere innovative Kraft als im Ereignisraum Weimar-Jena, sagt Thomas Bach. Ihre Entwicklung ging aber über die die Epoche prägenden Strömungen des Idealismus und der Romantik weit hinaus.
"Aus der Perspektive Wissenschaftsgeschichte findet man eine Ausdifferenzierung, das heißt der kulturelle Umbruch ist eben auch schon zu sehen. Es gibt eine Ausdifferenzierung, eine Spezialisierung und in diesem Bezug gibt es Bestrebungen, wieder eine Einheit herzustellen. Also beispielsweise so ein Aspekt für die Naturphilosophie, ob sie nun idealistisch oder romantisch ist, spielt eigentlich keine Rolle. Das man versucht, was sich jetzt ausdifferenziert hat, wieder zusammen zu holen, das ist im Prinzip schon so eine Reaktion, so eine Kompensationserscheinung."
In Bezug auf Weimar-Jena sprechen die Wissenschaftler, die an dem Sonderforschungsprogramm mitgearbeitet haben, von einer "Leitkultur aus der Provinz". Der Wissenschaftsstandort entwickelte sich zu einem kulturwissenschaftlichen Zentrum, vergleichbar den Hauptstädten Paris oder Petersburg, so der Historiker Alexander Schmidt.
"Was schon deutlich ist, dass es unterschiedliche Formen von Aufbrüchen innerhalb dieses Zeitraums um 1800 gibt. Am Anfang dieser Reformenthusiasmus, der in den späten 1770er-und frühen 1780er-Jahren herrscht, der junge Herzog, der gerade die Macht angetreten hat, dass man mit jungen Geistern und Leuten relativ viel schaffen kann, dass man diesen aufgeklärten Reformstaat schaffen kann. Aber man merkt auch schnell die Grenzen und es gibt auch andere Aufbrüche: die Romantiker zum Beispiel, oder auch die jungen Wissenschaftler, die man in Jena hat, die von der kantischen Philosophie begeistert sind. Und eben diese eigenen Unternehmen, auch in einem nationalen und in einem weltbürgerlichen Kontext sehen, dass man sagt, die deutsche Nation, man hat das Gefühl, dass man anderen Nationen Europas hinterher läuft, das man keinen Montesquieu hat, dass man keinen Voltaire hat, aber das man mit Kant und anderen Entwicklungen, Goethe zum Beispiel, dabei ist, diesen Rückschritt aufzuholen. Das man jetzt mit einer jungen Truppe dabei ist, die Führung zu übernehmen. Dieses Gefühl hat man, auch an anderen Orten Deutschlands und Weimar-Jena kann dieses Gefühl bündeln. Ich glaub, das ist das was es hier so aus macht, wo man auch profitiert. Man kann hier von Mitte der 1770er Jahre bis zum Tod Goethes 1832 ansetzen, das wäre der Zeitraum, über den wir hier sprechen."
Alexander Schmidt benennt die Erfahrungen, die sich aus der Arbeit am Forschungsprojekt "Ereignis Weimar-Jena" ergeben haben:
"Was ich für wichtig halte, ist, dass man feststellt, wie Reflexionsprozesse in der Zeit ablaufen, dass man diese Inszenierung als ein kulturelles und nationales Zentrum bewusst betreibt, das man eben nicht selber hervorbringt, was gemacht wird. Dann ist wichtig, die Verbindung zwischen dem Problem einer Ressourcenknappheit und dem kreativen Umgang damit in einer Zeit des Umbruchs, wo genügend Köpfe zur Verfügung stehen, die man in den Dienst für verschiedene Sachen, wissenschaftliche, literarische, politische Projekte bringen kann und die man hier zusammenführt. Und man sollte auch sehen, dass es Bereiche gibt, die von dem Ereignis relativ wenig berührt bleiben. Dass es natürlich Bereiche des Sozialen gibt, die wenig von dem, was an literarischer Hochkultur passiert, betroffen sind."
Die innovativen Ansätze haben sich nicht auf der politischen Ebene durchsetzen können, der Ständestaat blieb erhalten. Der Aufbruch im Bereich der Kultur und der Wissenschaft, der von Weimar-Jena ausging, ist hingegen gelungen.
Informationen zum Projekt und der Ausstellung
www.uni-jena.de/ereignis