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Musik in Birnenform

Cabaret-Pianist und Sektengründer, Phonometrograph und Skandal-Komponist: Der Franzose Erik Satie war eine der eigenwilligsten und skurrilsten Gestalten der Musikgeschichte. Ein Wegbereiter der Moderne, der von Claude Debussy und Jean Cocteau ebenso bewundert wurde wie von John Cage und der Fluxus-Avantgarde der 1960er Jahre.

Von Michael Stegemann | 01.07.2005
    Wer in den späten 1880er Jahren regelmäßig das berühmte Pariser Cabaret Le Chat-Noir besuchte, begegnete dort zuweilen einem schmächtigen, spitzbärtigen Mann mit Kneifer, der als zweiter Pianist für die musikalische Unterhaltung des Etablissements zuständig war und zwischen zwei Couplets oder Conférencen eigene Kompositionen vortrug...

    ... merkwürdig statische Stücke in ostinatem Rhythmus, mit ebenso merkwürdigen Titeln wie Ogives, Gymnopédies oder Gnossiennes. Faszinierend, aber völlig formlos, wie sein Freund und Bewunderer Claude Debussy ihm vorhielt - woraufhin der Spitzbart kurzerhand seine nächste Sammlung Trois Morceaux en forme de poire nannte, "Drei Stücke in Birnenform”. Und überhaupt, er sei gar kein Musiker, sondern "Phonometrograph”: Es mache ihm mehr Freude, einen Klang zu messen, als ihn zu hören. Andere seiner Klavierwerke tragen Titel wie "Vertrocknete Embryonen” (Embryons desséchés), "Wahrhaft schlaffe Präludien (für einen Hund)” (Véritables Préludes flasques (pour un chien)) oder "Melodien zum Weglaufen” (Airs  faire fuir); und vielen von ihnen sind kleine, gleichermaßen skurril-unverständliche Texte und Vortragsanweisungen beigegeben: "Ziemlich blau. Dreimal genau hinsehen. Nicht zu gierig. Ohne mit der Wimper zu zucken. Zum Lutschen. Wie eine Nachtigall mit Zahnschmerzen.” Einen Pseudo-Choral widmete er "den Verschrumpelten und Verblödeten” - wohl in Erinnerungen an das Konservatorium, von dem er wegen ungenügender Leistungen relegiert worden war. (Später studierte er immerhin einige Jahre lang - und durchaus erfolgreich - an der renommierten Pariser Schola Cantorum.) Ein anderes Werk trägt den Titel Vexations ("Quälereien”): Ein paar Takte Musik, die 840-mal wiederholt werden sollen. Eine autobiographische Skizze trägt den Titel Mémoires d’un amnésique, "Memoiren eines Mannes, der sein Gedächtnis verloren hat”.

    Eine Zeitlang schrieb er die Musik zu den Theater-Phantastereien des "Sâr” Joséphin Péladan, der - im Geiste Richard Wagners und in Anlehnung an die Illuminaten - einen Orden der "Rosenkreuzer vom Tempel und vom Heiligen Gral” gegründet hatte; dann sagte er sich von Péladan los und gründete seine eigene Sekte, die Eglise Métropolitaine d’art de Jésus Conducteur, die "Metropolitankirche der Kunst Unseres Lenkers Jesus Christus”. Nach ein paar Jahren war es auch damit vorbei, und der spitzbärtige Herr (der sich gerne "Monsieur le Pauvre” nannte und tatsächlich in bitterer Armut in einer winzigen Wohnung im Pariser Vorort Arcueil lebte) wandte sich einer neuen Idee zu: der Musique d’ameublement, der "Mobiliar-Musik”: Eine Musik, die endlich der "Unsitte des zwecklosen Musik-Machens” Einhalt gebietet und lediglich die 'nützlichen’ Bedürfnisse des Menschen befriedigt - so wie das Licht, die Heizung und anderer Komfort des täglichen Lebens.

    Dadaisten, Surrealisten, Kubisten und Modernisten jedweder Couleur - die gesamte künstlerische Avantgarde der Zeit verehrte diesen (mittlerweile 50jährigen) Querdenker wie einen Propheten. Auch die Komponisten-Gruppe der "Sechs” rund um den Dichter Jean Cocteau verdankte ihm ihr Entstehen. Für die legendären "Ballets russes” Sergej Diaghilews komponierte er - nach einem Libretto von Cocteau und in den Bühnenbildern und Kostümen Pablo Picassos - 1916 das Ballett Parade, das einen der größten Theater-Skandale aller Zeiten entfesselte. Er war und blieb das absolute enfant terrible der Musik.

    Sein Name war Erik Satie. Er starb am 1. Juli 1925 in Arcueil.