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Musiktheater
Novoflot lässt Mahlers "Lied von der Erde" völlig anders klingen

Das Berliner Musiktheaterkollektiv Novoflot hat sich Gustav Mahlers "Das Lied von der Erde" vorgenommen und mit der Menschheitsutopie der Philosophin Donna Haraway gekreuzt: Das Werk klingt mitunter fremd, aber auch reizvoll und entwirft eine ungewisse Zukunft für die Menschheit.

Von Matthias Nöther |
    Novoflot hat Mahlers "Lieds von der Erde" in dem ehemaligen Stummfilmtheater Delphi in Berlin-Prenzlauer Berg
    Novoflot hat Mahlers „Lieds von der Erde“ in dem ehemaligen Stummfilmtheater Delphi in Berlin-Prenzlauer Berg (Novoflot/Falko Siewert)
    Das Blasorchester Köpenick spielt unsichtbar hinter der Bühne. Von Gustav Mahler stammt die Musik nicht, aber diese Nummer hat etwas von den Mahlerschen Fernorchestern. In der Mitte des leergeräumten Saals steht eine Art Basteltisch für eine Geburtstagsfeier, Anlass ist der 110. Geburtstag einer gewissen Camille. Von innen leuchtende Globusse stehen überall herum, allerdings weiß, ohne Aufdruck der Kontinente und Meere. Auch wenn der Titel dieser rätselhaften Szenerie doch Mahlers "Lied von der Erde" ankündigt, sind unmittelbare Assoziationen an dieses Spätwerk des großen Sinfonikers zunächst nirgends zu erkennen. Das kommt erst später.
    Eine Tänzerin hat sich das Trinklied vom Jammer der Erde auf ihre Kopfhörer gelegt und singt begeistert mit. Der Sinn erschließt sich ihr offenbar nicht, sie vollzieht nur naiv die Laute nach. So könnte es klingen, wenn ferner Zukunft andere intelligente Wesen versuchen, sich die untergegangene Kultur der Menschheit zu eigen zu machen. Das vertraute Repertoirestück von Gustav Mahler fremd und völlig neu klingen zu lassen, ist sicherlich eines der Anliegen des musikalischen Leiters Vincent Larranaga an diesem Abend, allerdings kann dabei auch gediegene Kammermusik mit Gambe und Klavier herauskommen.
    Impuls zur Auseinandersetzung
    Es geht aber in gleichem Maße um die Ausdeutung des Textes, jener Nachdichtung altchinesischer Texte durch einen französischen Autor, die dann nochmal ins Deutsche übertragen wurde und schließlich Mahler zur Komposition in die Hände fiel. Der zweite Satz "Der Einsame im Herbst" oder auch "Von der Jugend" und "Von der Schönheit" halten bei Mahler Rückschau auf ein Leben, vielleicht auf das menschliche Leben überhaupt. Den Impuls zur Auseinandersetzung mit dem "Lied von der Erde" gab tatsächlich der Titel, sagt Novoflot-Dramaturg Malte Ubenauf.
    "Uns kam das so relevant vor, uns mit einem Stück zu beschäftigen, dass 'Das Lied von der Erde' heißt, angesichts all der Fragen, die derzeit eigentlich die Menschheit umtreiben in Bezug auf ihren Heimatplaneten. Und dann dachten wir, es ist irgendwie notwendig, dieses 'Lied von der Erde' von Gustav Mahler zu befragen: Was ist das eigentlich heute? Wenn man mal anguckt, woraus dieses 'Lied von der Erde' eigentlich besteht, dann entdeckt man, dass das eigentlich ein Lied der Menschen über die Erde ist. Im Prinzip sind diese Gedichte sehr eigenartige, aber sehr vom Menschen aus gedachte melancholische, depressive Betrachtungen ihrer selbst in bestimmten Zusammenhängen, die irgendwie mit der Erde zu tun haben. Aber es ist ganz bestimmt kein 'Lied von der Erde'."
    Donna Haraways Menschheitsutopie
    Novoflot kreuzt die selbstbezügliche Mahlersche Poetik in der Aufführung mit der Gedankenwelt von Donna Haraway. Ein neues Buch der US-amerikanischen Philosophin ist kürzlich auf deutsch unter dem Titel "Unruhig bleiben" erschienen, sie entwickelt darin eine Utopie.
    "Es geht darum, dass das Überleben der Menschheit nur glücken kann, wenn die Menschheit ihre Forschungsmöglichkeiten dazu nutzt, sich nicht immer nur unter sich selber fortzupflanzen, sondern durch genetische Verknüpfungen wirkliche symbiotische Verbindungen mit den anderen Lebewesen dieses Planeten einzugehen, also mit den Pflanzen, mit den Tieren. Und in dem Buch von der Donna Haraway wird das dadurch so schlüssig, dass sie eigentlich in Form von erzählender Literatur Szenarien aufbaut, in denen der Mensch in Verknüpfung mit den anderen Lebewesenformen existiert. Und das ist für uns zum Ausgangspunkt geworden für diesen Abend. Und im Grunde betrachten wir in unserer Version vom Lied von der Erde eine Gesellschaft sagen wir mal der übernächsten Generation, die sich im Sinne von Donna Harraway mit der Erde auf eine Weise verknüpft hat, wie das eben zu Mahlers Zeit nicht vorstellbar gewesen wäre."
    Und heute auch nur bedingt vorstellbar ist. Die freie Assoziation an die Menschheitsutopie einer Philosophin ist mutig, denn das Publikum wird von Beginn an überfordert - vielleicht diejenigen noch am wenigsten, die hier gar nicht erst in Ansätzen Mahlers "Lied von der Erde" erwarten.
    Sprecherstimme aus Lautsprecher: "Camille wurde vor genau 110 Jahren, also im Jahr 2025, in eine kleine Gruppe von fünf Kindern hineingeboren und war als einziges Kind mit einem Insekt verknüpft. Die anderen Kinder dieses ersten Geburtsjahrgangs waren Symbionten von Fischen, Vögeln, Krustentieren und Amphibien. Als Camille fünf Jahre alt war, war ihre Haut mit glänzenden Bändern in Gelb und Schwarz überzogen, wie bei der Raupe eines Monarchfalters im Spätstadium."
    Nicht alle Rätsel können entschlüsselt werden
    Wie bei vielen Abenden des Berliner Musiktheaterkollektivs Novoflot in den letzten 15 Jahren ist es auch bei der neuen Produktion des "Lieds von der Erde" unmöglich, alle Zusammenhänge, Assoziationen und Rätsel der Aufführung zu entschlüsseln. Genauso fremd und reizvoll wie die Verbindung von Gustav Mahler und Schmetterlingen aber ist die musikalische Schönheit dieser Version des "Lieds von der Erde". Novoflot hat hier Tora Augestad verpflichten können – eine brillante Sängerin der norwegischen Neue-Musik- und Jazzszene, die entscheidende Passagen von Mahlers Spätwerk genauso brüchig und unvorhersehbar präsentiert wie Novoflot die Zukunft der Menschheit.