Gene haben sinnvolle und sinnlose Abschnitte. Wir nehmen nur die sinnvollen, für das Protein nötigen Abschnitte, sie umfassen etwa zwölftausend Basenpaare. Diese Genpartien setzen wir im Labor zusammen, dann versehen wir sie mit einem Vektor, der sie in die Zellen schleust und injizieren das Gen in den kranken Organismus. In der Zelle wandert das Gen zum Zellkern, und dort fängt das gesunde Gen an zu arbeiten.
Jedes Gen ist wie eine Kordel strukturiert: Zwei ineinander verwundene Stränge, die über Basen, das sind chemische Verbindungen wie Säuren, nur mit gegensätzlicher Polarität, miteinander quer verbunden sind. Jeweils drei dieser Basenpaare enthalten die Information für eine Struktureinheit in dem entsprechenden Protein. Das von diesem Gen kodierte Protein Dystrophin setzt sich also aus etwa viertausend Struktureinheiten zusammen. Allein die Abfolge der Basen entscheidet über die Struktur der Proteine. Da diese Kombinationen bei allen Pflanzen und Tieren genau sowie bei allen Menschen aus nur fünf unterschiedlichen Basen gebildet werden, sagt man, der genetische Code ist universell.
Im Zellkern angekommen, spalten Enzyme die gepaarten Basen und teilen die beiden Gen-Stränge längs, sowie man auch eine Kordel aufdrillen würde. Andere Enzyme fertigen eine erste Abschrift eines Gen-Strangs. Dieses Boten-Gen, auch messenger RNA, trägt die Information aus dem Zellkern zurück in das Zellplasma. Dort wird noch mal abgeschrieben, und diese zweite Kopie bildet das Protein. Alles funktioniert so wie immer, das heißt, fast alles:
Einige der Vektoren, die die Gene am besten in die Zellen trugen, stimulierten gleichzeitig die Immunantwort des Empfängers und wurden angegriffen. Der Organismus merkt natürlich, dass die Vektoren aus abgeschwächten Viren bestehen und behandelt sie deshalb als feindliche Eindringlinge, selbst wenn sie weniger aggressiv sind. Aber wir haben dieses Problem überwunden, indem wir die Vektoren noch weiter verändert haben, so dass die Immunantwort zwar nicht ganz ausbleibt, aber minimiert ist. Das ist nicht das große Problem.
Ein großes Problem war dagegen, dass das Immunsystem des kranken Organismus niemals Kontakt mit dem Protein Dystrophin hatte. Wenn das neue Gen anfängt, das fehlende Protein herzustellen, stuft es der kranke Organismus genau so schädlich wie zuvor die Virus-Vektoren ein. Es erscheint nicht körpereigen und wird deshalb mit den ganz normalen Abwehrmechanismen entfernt.
Die Forscher wichen auf ein anderes Protein aus mit Namen Utrophin. Es ist etwa so groß wie Dystrophin und hat zwei Eigenschaften, die es hervorragend qualifizieren: Erstens ist es bei allen Menschen in kleinen Mengen im Muskel vorhanden, das bedeutet, dass auch DMD-Kranke keine Immunreaktion gegen dieses Protein zeigen. Und zweitens kann es die Funktionen von Dystrophin übernehmen, also Schäden reparieren und den Muskel entspannen. Alles, was Forscher noch tun müssten, so Karpati, sei, den muskelkranken Körper soviel wie möglich von dem Protein Utrophin herstellen zu lassen.
Normalerweise tritt Utrophin nur in ganz winzigen, abgegrenzten Bezirken der Muskeln auf, in den neuromuskulären Synapsen. Es scheint dort einige Moleküle zusammenzuhalten wie ein Anker, es wird aber nicht auf der Muskeloberfläche hergestellt, wo es sein sollte. Aber wenn man einen anderen Promoter benutzt, einen sehr starken Promoter, wird überall Utrophin produziert. Und es ersetzt Dystrophin mit demselben Resultat: Keine Zerstörung der Muskulatur.
Die Synapsen sind die Kontaktstellen zwischen Nerv und Muskel. Hier entscheidet sich, ob der Muskel angespannt wird. Als Promoter werden Proteine bezeichnet, die die Menge, die von dem Protein hergestellt werden soll, und seine Verteilung kontrollieren.
Injektionen des Utrophin-Gens samt der Information für den stärkeren Promoter in die Muskulatur zeigen bei Mäusen exzellente Ergebnisse, so der Neurologe. Augenblicklich untersuchen die Wissenschaftler, ob die Labor-Gene ins körpereigene Transport-, Verteil- und Versorgungssystem, die Arterien, injiziert werden können. Eine weitere Arbeitsgruppe versucht, nicht giftige Substanzen zu finden, die den körpereigenen Promoter zu erhöhter Proteinproduktion anregen. Daneben darf natürlich auch die Immunantwort kein Risiko mehr für den Patienten darstellen. Der ostkanadische Neurophysiologe George Karpati schätzt, in etwa einem Jahr ein Präparat für den Einsatz beim Menschen entwickelt zu haben.
Beitrag als Real Audio
011002-Muskelschwaeche.ram