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Muskelstimulation
Ein Autopilot für Fußgänger

Forscher der Universität Hannover steuern die Gehrichtung von Fußgängern mithilfe von Reizströmen. Sie wollen erproben, ob sich die elektrische Stimulation zum Navigieren eignet.

Von Friederike Maier | 08.07.2015
    Ein junger Mann in kurzen Hosen und mit einer Tasche um die Hüfte geht durch einen Park in Hannover. Im Abstand von etwa zehn Metern folgt der Informatiker Max Pfeiffer und steuert per Smartphone die Richtung in die der Vorausgehende geht. Der ferngesteuerte Mann bekommt die Befehle zur Richtungsänderung direkt auf die Muskeln seiner Beine übertragen. Unter der Hose versteckt hat er am Oberschenkel Elektroden befestigt, die einen bestimmten Muskel stimulieren erklärt Max Pfeiffer, der eine Videoaufnahme des Versuchs zeigt. Er arbeitet im Bereich der Mensch-Computer-Interaktion der Universität Hannover.
    "Wir verwenden einen relativ einfachen Trick, und zwar gibt es den sogenannten Sartorius-Muskel. Der geht von der Hüfte bis runter zum Knie. Wenn der aktuiert wird, dann bewegt sich das Bein nach außen, macht eine Auswärtsrotation und wenn diese Rotation beim Laufen passiert macht der Mensch automatisch eine Kurve. Das heißt, wir kleben zwei Elektroden auf den Sartorius-Muskel und kontrahieren den mit einem leichten Reizstrom."
    Dazu verwenden die Wissenschaftler ein handelsübliches Elektrostimulationsgerät, im Versandhandel für etwa 40 Euro erhältlich. Üblicherweise werden diese Geräte zur Massage oder Schmerztherapie verwendet. Das Stimulationsgerät ist mit einer kleinen Elektronikplatine verbunden, die per Bluetooth mit dem Smartphone kommuniziert. Wenn die steuernde Person auf dem Smartphone eine Rechtskurve eingibt, werden die Muskeln der Versuchsperson so stimuliert, dass sie nach rechts abbiegt. Die komplette Technik passt in eine kleine Hüfttasche.
    Das elektrische Signal ist dabei nur so stark, dass der Benutzer die Kontrolle über seine Beine jederzeit wiedererlangen kann. Pfeiffer:
    "Wenn jemand zum Beispiel nach rechts gesteuert wird, kann der Benutzer ohne Weiteres stehen bleiben, dann hat die Stimulation keine Auswirkung mehr auf das Bein. Oder er kann einfach das Signal überschreiben und nach links ausweichen."
    Die elektrische Stimulation erzeugt je nach Stärke ein Kribbeln oder Zwicken auf der Haut. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran, ganz unbemerkt bleibt der Reiz allerdings auch dann nicht. Andere haptische Navigations-Verfahren nutzen etwa Vibrationen auf der Seite, deren Richtung eingeschlagen werden soll. Um eine Vibration in eine Änderung der Bewegungsrichtung umzuwandeln ist allerdings immer ein Interpretationsschritt notwendig, der erst erlernt werden muss. Dieser Zwischenschritt entfällt bei der Elektrostimulation meint Max Pfeiffer:
    "Mit diesem Konzept kann man relativ einfach die Information direkt in eine Richtungsbewegung umändern. Und damit die Richtung so einschlagen, wie der Mensch das haben will, ohne drüber nachzudenken."
    Aber wer will sich überhaupt von anderen fernsteuern lassen? Ist das nicht eine etwas gruselige Idee?
    Max Pfeiffer meint: nicht unbedingt. Man könnte sich damit beispielsweise als Tourist vollständig auf die Sehenswürdigkeiten an einem Ort konzentrieren und müsste nicht an jeder Ecke auf die Karte schauen, in welche Richtung man am besten weiter geht.
    Allerdings haben viele, wenn sie hören, dass die Muskeln ferngesteuert werden, erst einmal unschöne Bilder aus Science-Fiction-Filmen im Kopf. Und auch die Hürde, sich vor der Stadtbesichtigung erst einmal Elektroden ans Bein zu kleben, ist recht hoch. Ob und wann das System zur praktischen Anwendung kommen könnte, scheint deshalb ungewiss, so Pfeiffer:
    "Ich glaube, dass das eher etwas in fernerer Zukunft sein könnte, wenn solche Elektroden zum Beispiel in Kleidung integriert sind, so wie es heutzutage schon in Fitnessstudios existiert."
    Ein anders Anwendungsszenario der Elektrostimulation, an dem die Wissenschaftler arbeiten, ist das haptische Feedback in virtuellen Welten. Wenn man etwa nach einem virtuellen Gegenstand greift. Hier wird das Prinzip umgekehrt. Statt eine Bewegung durch die Muskelstimulation auszulösen, wird eine Bewegung verhindert, der Muskel wird blockiert. Für den Benutzer fühlt sich das so an, als ob der Gegenstand, der ihm in der virtuellen Welt den Weg versperrt, auch tatsächlich seine Bewegung behindert.
    "In dem Bereich von virtueller Realität hat man das Problem, dass zum Beispiel bei 3D im Raum kein haptisches Feedback existiert oder die Technologie recht umfangreich, teuer und groß ist. In solchen Szenarien probieren wir eben auch die Objekte spürbar zu machen, den Objekten Eigenschaften zu geben wie sie die in der physikalischen Welt haben. Zum Beispiel dass sich ein Objekt hart anfühlt oder weich."
    Erste Versuche damit laufen und zeigen, dass es im Prinzip funktionieren könnte.