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Muttermord

Ein verlorener Sohn kehrt heim. Der 50jährige Bruno Legrand ist Teilhaber der Firma EuroTransFair, die mit dem Segen der Bundesregierung als Unterhaltungselektronik getarnte Waffen vertreibt. 1990, nach 27jähriger Abwesenheit, besucht Bruno erstmals wieder seine fast achzigjährige Mutter. Zwei Tage später bringt er sie um, und es wird aussehen wie ein Freitod. "Muttermord", der neue Roman von Jürgen Lodemann, beschreibt eine deutsche Familiengeschichte - und aus der Kenntnis anderer Arbeiten dieses Autor legt sich nahe, daß hier das Private das Politische ist, und umgekehrt. Jürgen Lodemann, Jahrgang 1936, veröffentlichte neben seiner Arbeit als Literaturkritiker und Redakteur Romane wie "Anita Drögemöller" und "Essen Viehofer Platz"; in seiner Autobiografie "Der Solljunge" wird die Sozialisation eines Jungen während der Nazizeit beschrieben, die Zu- und Abrichtung durch "Sprucherziehung", durch mehr oder weniger offen nazis-tische Stereotypen. Auch der Roman "Muttermord" kommt auf den Faschismus zurück, aber hier geht es Lodemann um Strukturen, um deutsche Traditionslinien, die nicht erst 1933 begonnen haben und die sich bis heute fortsetzen. Das Buch beschreibt die zweitägige Begegnung zwischen Mutter und Sohn; und es handelt sich, auch wenn Bruno gelegentlich monologisiert, hier im Grunde um einen einzigen Dialog auf 320 Seiten.

Sabine Peters |
    Elfriede Legrand, Jahrgang 1910, verkörpert einen nicht so seltenen weiblichen Typus aus dem bürgerlichen Milieu: Sie konnte ein Musikstudium nicht abschließen, weil ihre Arbeit über Gustav Mahler schon in den ersten Jahren des Faschismus nicht mehr opportun war - so wenig wie ihre Liebe zu einem jüdischen Sänger. Elfriede streckte sich nach der Decke, nahm einen Geschäftsmann zum Gatten und bezog mit ihm eine Villa, die vorher Juden gehört hatte. Zwei Söhne wurden geboren, ihre berufliche Karriere war damit beendet. Nach Kriegsende, als man die Hitlerbilder abhängte, taufte die Mutter ihre Kinder nachträglich, und 1990 zählt sie zu den mehr oder weniger kritischen Christen; sie bedauert den deutschen "Kadavergehorsam" und sympathisiert mit Asylanten, um im selben Atemzug zu formulieren: "diese Leutchen sind nun mal unsere Armen". Bruno verwendet zwar, indem er von "gerechten Befreiungskriegen" spricht, eine eher linke Terminologie, aber das ist nur die Attitude eines zynischen Waffenschiebers - und im übrigen fällt der Sohn mit dem Besuch bei der Mutter zurück in die Rolle des ewigen Kindes. In der Beschreibung dessen, was zwischen den beiden abläuft, leistet Lodemann sprachlich und psychologisch Feinarbeit, aus der Perspektive des Sohnes. Ach, Mutters "Seelenmulm", ihre "fröhlichen Seufzerchen", ihre "erlesenen Verlogenheiten2, ihr "Hinüberschnellen ins Positive", ihr "Marmorblick", ihr "Strafschweigen" und die "eiskalte Muttermilch" ihrer Herrschaftssprache. Der Sohn stellt fest: "der Teufel sitzt im Häkeldeckchen". Und dieser Teufel reitet die Mutter wohl auch, wenn sie in regelmäßigen Abständen absolutionsheischend beklagt, sie habe wohl vieles falsch gemacht in ihrem Leben. Aus Brunos Sicht läßt sich nachvollziehen, daß er ihr entgegenwirft, Täter fühlten sich gern als Opfer. Und man krampft sich solidarisch mit ihm in den Stuhl, wenn er sich an ihre Versuche erinnert, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Muß eine Mutter ihrem erwachsenen Sohn, der offensichtlich seine Ruhe haben will, ein Paket mit Rheumadecke, Unterhosen, Kuchen und dem Bild von Max Ernst schicken, auf dem Maria das Jesuskind verdrischt? Muß das sein?

    Was Jürgen Lodemann in dieser Hinsicht auffächert, das überzeugt und macht in allem Schreck Vergnügen. Nur, der Roman als Ganzes wirkt stark konstruiert, und vielleicht ist er überdeterminiert. Daß dieser Sohn dieser Mutter gegenüber Mordgelüste hegen kann, glaubt man sofort. Aber der Roman will es komplizierter: Die Firma EuroTrans-Fair braucht ein sicheres Versteck für ihre Ware; Bruno hat Mutters Keller vorgeschlagen und ist beauftragt, die Villa "besenrein" zu machen, konkret, Elfriede so oder so aus dem Weg zu schaffen. Man stutzt. Dann ist es am Ende doch nur das kalte Geschäftsinteresse, das den Mord erfordert? Oder soll man diesen Roman tiefenpsychologisch lesen: Bruno hat sich eine Konstellation geschaffen, die ihn zwingt, das zu tun, was er sich allein nie erlauben würde? Natürlich gibt es das; natürlich funktionieren Leute so. Und trotzdem fragt man sich, ob nicht der Muttersohn-Konflikt als Mordmotiv ausgereicht hätte.

    Es gibt noch einen anderen Aspekt in diesem Roman, der einem die Bewertung schwer macht. Beide Figuren äußern ein gesellschafts- und kulturkritisches Wissen, mit dem man durchaus sympathisieren kann: Es geht unter anderem um die Anästhesierung durch die Massenmedien, um die Kirche als "kriminelle Vereinigung", bis heute; oder es geht um die Ideologie des grenzenlosen Wachstums. Mutter und Sohn vertreten teilweise durchaus radikale Einsichten. Aber ihre Positionen wirken ganz ungebrochen, sie wirken vorgetragen, in einem beschwörenden, oft beinahe agitatorischen Tonfall - am Ende steigert sich Bruno in einen Furor, mit dem er die Mutter buchstäblich in den Tod redet. Man fragt sich, ob Jürgen Lodemann sich mit diesem pathetischen Duktus nicht selbst ein Bein stellt. Und das fragt sich besonders dann, wenn man nicht der Auffassung ist, politische Literatur habe ausgespielt. Die Behauptung, ein Autor mit moralisch- politischen Positionen sei heute ein Anachronismus, mutet angesichts der ganzen gesellschaftlichen Widersprüche schon oft sehr seltsam an - als gebe es nicht zahlreiche Anlässe und Gründe, auch 1998 noch zum "Nestbeschmutzer" zu werden, wie etwa ein Heinrich Böll seinerzeit.

    Jürgen Lodemann nimmt auch in "Muttermord" wieder die Haltung des Kritikers ein; er gehört zu den seltener gewordenen Autoren, die sich von Wirklichkeit, von Zeitgeschichte herausgefordert sehen und ihren Protest literarisch zu formulieren versuchen. Literatur kann aber wahrscheinlich derzeit nur politisch wirken, wenn sie verletzt - und das ist in der, oberflächlich betrachtet, permissiven Gesellschaft allerdings extrem schwierig. Würde ein Heinrich Böll heute die Mechanik des Laufenden stören? Stört Jürgen Lodemann sie? Wohl kaum. Wenn überhaupt, dann ist das eher von den "bösen" Texten einer Elfriede Jelinek anzunehmen. - Unter all den postmodernen Büchern, die auch diesen Herbst wieder publiziert werden, wird Lodemanns Roman wohl sehr fremd stehen, sofern er ein Anliegen hat und aus einem Zorn entstanden ist. Gerade deshalb bedauert man es, daß "Muttermord" stellenweise so plakativ daherkommt.