Was Jürgen Lodemann in dieser Hinsicht auffächert, das überzeugt und macht in allem Schreck Vergnügen. Nur, der Roman als Ganzes wirkt stark konstruiert, und vielleicht ist er überdeterminiert. Daß dieser Sohn dieser Mutter gegenüber Mordgelüste hegen kann, glaubt man sofort. Aber der Roman will es komplizierter: Die Firma EuroTrans-Fair braucht ein sicheres Versteck für ihre Ware; Bruno hat Mutters Keller vorgeschlagen und ist beauftragt, die Villa "besenrein" zu machen, konkret, Elfriede so oder so aus dem Weg zu schaffen. Man stutzt. Dann ist es am Ende doch nur das kalte Geschäftsinteresse, das den Mord erfordert? Oder soll man diesen Roman tiefenpsychologisch lesen: Bruno hat sich eine Konstellation geschaffen, die ihn zwingt, das zu tun, was er sich allein nie erlauben würde? Natürlich gibt es das; natürlich funktionieren Leute so. Und trotzdem fragt man sich, ob nicht der Muttersohn-Konflikt als Mordmotiv ausgereicht hätte.
Es gibt noch einen anderen Aspekt in diesem Roman, der einem die Bewertung schwer macht. Beide Figuren äußern ein gesellschafts- und kulturkritisches Wissen, mit dem man durchaus sympathisieren kann: Es geht unter anderem um die Anästhesierung durch die Massenmedien, um die Kirche als "kriminelle Vereinigung", bis heute; oder es geht um die Ideologie des grenzenlosen Wachstums. Mutter und Sohn vertreten teilweise durchaus radikale Einsichten. Aber ihre Positionen wirken ganz ungebrochen, sie wirken vorgetragen, in einem beschwörenden, oft beinahe agitatorischen Tonfall - am Ende steigert sich Bruno in einen Furor, mit dem er die Mutter buchstäblich in den Tod redet. Man fragt sich, ob Jürgen Lodemann sich mit diesem pathetischen Duktus nicht selbst ein Bein stellt. Und das fragt sich besonders dann, wenn man nicht der Auffassung ist, politische Literatur habe ausgespielt. Die Behauptung, ein Autor mit moralisch- politischen Positionen sei heute ein Anachronismus, mutet angesichts der ganzen gesellschaftlichen Widersprüche schon oft sehr seltsam an - als gebe es nicht zahlreiche Anlässe und Gründe, auch 1998 noch zum "Nestbeschmutzer" zu werden, wie etwa ein Heinrich Böll seinerzeit.
Jürgen Lodemann nimmt auch in "Muttermord" wieder die Haltung des Kritikers ein; er gehört zu den seltener gewordenen Autoren, die sich von Wirklichkeit, von Zeitgeschichte herausgefordert sehen und ihren Protest literarisch zu formulieren versuchen. Literatur kann aber wahrscheinlich derzeit nur politisch wirken, wenn sie verletzt - und das ist in der, oberflächlich betrachtet, permissiven Gesellschaft allerdings extrem schwierig. Würde ein Heinrich Böll heute die Mechanik des Laufenden stören? Stört Jürgen Lodemann sie? Wohl kaum. Wenn überhaupt, dann ist das eher von den "bösen" Texten einer Elfriede Jelinek anzunehmen. - Unter all den postmodernen Büchern, die auch diesen Herbst wieder publiziert werden, wird Lodemanns Roman wohl sehr fremd stehen, sofern er ein Anliegen hat und aus einem Zorn entstanden ist. Gerade deshalb bedauert man es, daß "Muttermord" stellenweise so plakativ daherkommt.