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Mythen der EU (2/5)
Die selbstverordnete Bürokratie-Entschlackungskur

Weniger, dafür aber bessere Gesetze - mit diesem Versprechen ist die aktuelle EU-Kommission angetreten. Im laufenden "Refit"-Verfahren können Bürger, aber auch Lobbyisten melden, welche Gesetze sie für zu kompliziert halten. Allerdings könnten weniger Regeln auch weniger Schutz für Bürgerinnen und Bürger bedeuten.

Von Benjamin Dierks | 12.06.2018
    Jens Hedström leitet beim Arbeitgeber-Lobbyverband "BusinessEurope" die Arbeitsgruppe "Better Regulation"
    Jens Hedström leitet beim Arbeitgeber-Lobbyverband "BusinessEurope" die Arbeitsgruppe "Better Regulation" (Deutschlandradio / Benjamin Dierks)
    Im Büro von Jens Hedström herrscht ein reges Kommen und Gehen. Im Halbstundentakt geben sich Besucher die Klinke in die Hand. Hedström erkundigt sich gerade bei allerlei Wirtschaftsvertretern, was sie von einer europaweit angepassten Mehrwertsteuer erwarten würden. Die Europäische Kommission will sie vereinfachen. Und wenn es darum geht, Unternehmen das Leben leichter zu machen, sind die Lobbyisten wie Hedström nicht weit.
    "Das Wichtigste für Unternehmen ist ein gutes Geschäftsklima und das hängt davon ab, wie gut die Gesetzgebung ist. Deswegen verbringe ich meine Zeit damit, es Unternehmen in Europa leichter zu machen."
    Jens Hedström sitzt aufrecht in einem roten Drehsessel. Sein goldenes Einstecktuch wirkt nahezu glamourös im geschäftigen Grau-Blau der Stadt. Der Konferenzraum seines Büros ist an zwei Seiten vollständig verglast. Vom angrenzenden Balkon aus kann der Wirtschaftsvertreter aufs Europaparlament schauen.
    Hedström ist der Brüsseler Büroleiter einer schwedischen Unternehmervertretung. Und er ist bei "BusinessEurope", dem europaweiten Arbeitgeberverband, einer der mächtigsten Lobbyorganisationen in Brüssel. Dort leitet er eine Arbeitsgruppe zur besseren Rechtsetzung der EU-Kommission, auf Englisch: "Better Regulation".
    "Die Kommission nimmt eine Generalüberholung vor"
    Hedström ist dafür da, unliebsame Gesetze aus dem Weg zu räumen. Und momentan ist die Zeit dafür gut. Der Lobbyist gehört zu einer kleinen Gruppe von Interessenvertretern, die einen wesentlichen Einfluss darauf haben, welche Regeln bleiben und welche zusammengestrichen werden.
    "Die Kommission nimmt eine Generalüberholung vor. Sie gucken sich die gesamte Gesetzgebung an. Das ist die Chance für Bürger und Unternehmen, auf die Dinge hinzuweisen, die zu kompliziert sind, damit sich jemand darum kümmert."
    Die Gurkenkrümmung, die Glühbirnen, die Duschköpfe und Ölkännchen, die Staubsauger, Kaffeemaschinen und Traktorensitze haben Eindruck gemacht in der Europäischen Kommission - oder besser gesagt der Spott darüber, dass Brüssel festlegen wolle, wie sie aussehen und funktionieren sollen. Hinzu kamen die fortwährenden Klagen von Unternehmen, dass die Brüsseler Bürokratie zu viel von ihrer Zeit und ihrem Geld verschlinge. Also lenkte die Kommission ein: Weniger Gesetze sollten fortan geschrieben und die bestehenden entschlackt werden.
    "Mich freut es, dass die Kommission etwas Neues versucht, anstatt einfach alle sagen zu lassen, was sie wollen. Jetzt besprechen wir gemeinsam, was für alle akzeptabel ist und wie wir unnötige Last abbauen können."
    Bürger können überfrachtete Gesetze online melden
    Die Kommission hat dafür die sogenannte "Refit-Plattform" geschaffen. Refit bedeutet: überholen oder ausbessern. In einem Online-Portal können Bürger, Unternehmen oder Verbände Gesetze melden, die ihrer Ansicht nach überfrachtet oder gar überflüssig sind. Rund 100 Vorschläge haben die Plattform bislang erreicht.
    Diese Hinweise schaut sich zuerst die Gruppe von Interessenvertretern an, zu der Jens Hedström gehört. Mit 17 anderen, darunter Vertreter einzelner Unternehmensbranchen, Gewerkschafter oder Umweltschützer, soll er entscheiden, welche Gesetze intakt sind und welche eine Überarbeitung brauchen.
    Das Besondere am Vorgehen der Kommission: Die Lobbyisten sollen nicht mehr einzeln versuchen, ihre oft entgegengesetzten Interessen durchzusetzen, sondern gemeinsam entscheiden.
    "Danach senden wir es zur Gruppe der Regierungsvertreter. Bislang hat uns die Mehrheit der Mitgliedsstaaten unterstützt, manchmal sogar alle von ihnen. Danach ist es für die Kommission glasklar: Wenn sich alle einig sind, dann sollten sie tätig werden und versuchen, die Last zu beseitigen."
    Das Risiko eines "Deregulationsprogramms"
    Jens Hedström redet fast ausschließlich von Bürde und Belastung, wenn er über Gesetze spricht. Und diese einseitige Sicht sei auch das Problem der Refit-Plattform, sagt Ursula Pachl.
    Ursula Pachls Büro liegt nur einige Straßenecken weiter. Pachl ist so etwas wie die Lobbyistin der Bürger - Vizechefin des Dachverbands der europäischen Verbraucherschützer. Sie vertritt schon ihr ganzes Berufsleben lang Verbraucherinteressen. Und um die gehe es im Zuge der besseren Rechtsetzung viel zu selten, klagt Pachl. Auch sie sitzt in der Interessenvertretergruppe der Refit-Plattform.
    "Better regulation könnte eigentlich sehr vieles heißen und ein sehr interessantes Programm sein, aber es ist eben leider ein Konzept, dass ausgerichtet ist, um — ich sage es jetzt verkürzt — Unternehmen Bürokratie zu ersparen, was ja vollkommen in Ordnung ist, was aber oft ausufert in eine Deregulationsprogramm."
    Ursula Pachl vom Dachverbands der europäischen Verbraucherschützer sieht im Refit-Programm der EU auch die Gefahr einer Deregulierung
    Ursula Pachl vom Dachverband der europäischen Verbraucherschützer sieht im Refit-Programm der EU auch die Gefahr einer Deregulierung (Deutschlandradio / Benjamin Dierks)
    Eigentlich sei sie stets dabei, Vorstöße der Wirtschaftsvertreter wie Jens Hedström abzuwehren. Das Autorisierungsverfahren für gefährliche Chemikalien etwa wollten sie erleichtern oder die Zulassung von Medizinprodukten. Aber das wollte Pachl nicht zulassen.
    "Was aus unserer Sicht den einen schützt, die Gesundheit schützt, den Verbraucher schützt, die Grundrechte schützt, einen fairen Markt sichert, faire Bedingungen sichert, das ist natürlich für die anderen eventuell eine Bürde."
    Nur noch 25 Gesetze pro Jahr statt wie früher 150
    Die EU-Kommission ist stolz auf ihr Bemühen um weniger Bürokratie. Nur 25 neue Gesetze bringe sie pro Jahr auf den Weg, bei der Vorgängerkommission seien es noch 150 gewesen. Die Kommission ist sicher, dass sie damit an Akzeptanz gewinnt.
    Aus Verbrauchersicht heiße bessere Gesetzgebung aber nicht unbedingt weniger Gesetze, sagt Ursula Pachl. Immerhin: Die EU-Kommission hat vor kurzem angekündigt, dass sie Sammelklagen ermöglichen wolle. Damit gäbe es mal wieder ein neues Gesetz, das den Verbrauchern hilft.