Es diskutieren:
- Jean Asselborn, Außenminister von Luxemburg
- Wolfgang Schäuble, Bundesfinanzminister
Aufzeichnung einer Podiumsdiskussion am 29. Juni 2016 mit Studenten der politikwissenschaftlichen Institute Sciences Po/Paris und Otto-Suhr/Berlin in der Akademie der Künste im Rahmen des Deutsch-Französischen Journalistenpreises, Pariser Platz 4, 10017 Berlin.
Das Deutschlandradio ist Mitveranstalter der Preisverleihung. In diesem Jahr wird Jean Asselborn für sein Engagement für die europäische Integration mit dem Deutsch-Französischen Medienpreis 2016 geehrt. Er ist damit der erste Träger des Deutsch-Französischen Medienpreises, der weder aus Deutschland noch aus Frankreich kommt.
Der mehrheitliche Wunsch der Briten nach einem Brexit dominiert die Debatten rund um die Vergabe eines der wichtigsten Medienpreise Europas. Noch bevor am Abend des 29. Juni herausragende journalistische Arbeiten in den Kategorien Audio, Multimedia, Textbeitrag, Video und Nachwuchspreis geehrt werden, diskutieren der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble über die Zukunft Europas ohne das Vereinigte Königreich, Austeritätspolitik und das immer noch allgegenwärtige Thema Flüchtlinge. Zentrale Frage: Was heißt das alles für die Jugend?
"Weniger Appelle!"
Birgit Wentzien (Deutschlandfunk) und Norbert Klein (Saarländischer Rundfunk) befragten die Gäste einer Diskussion im Vorfeld der Preisvergabe - und ließen dabei vor allem Raum für die Fragen junger Studierender der Freien Universität Berlin und der Sciences Po Paris. Europa solle weniger regeln, dafür aber schneller und effektiver handeln - "Weniger Appelle!", so das Credo von Schäuble in der Debatte. Er beharrte auf einer strengen Auslegung der europäischen Verträge. Asselborn, der in diesem Jahr den deutsch-französischen Medienpreis für seine Verdienste um die Europäische Integration und sein kompromissloses Eintreten für die Presse- und Meinungsfreiheit erhielt, stellte dem entgegen, dass man die konkreten Lebensumstände in den Krisenstaaten Europas nicht außer Acht lassen dürfe. Geschehe dies nicht, zerstöre man das Vertrauen in Europa.
Stimmungsbild: Deutsche und Franzosen wollen vertiefte europäische Zusammenarbeit
Zur Preisverleihung wurden die Ergebnisse einer Meinungsumfrage in Deutschland und Frankreich präsentiert. Allen europakritischen Debatten zum Trotz sprechen sich demnach 83 Prozent der Befragten in Deutschland und 77 Prozent in Frankreich für eine noch engere Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsländer aus. 85 Prozent der Deutschen halten den französischen Nachbarn für sympathisch, umgekehrt sind es drei Viertel. Unterschiede lassen sich bei der Flüchtlingspolitik und bei der Bewertung der jeweils anderen Regierungen erkennen. 61 Prozent der Franzosen sind mit der Arbeit Angela Merkels sehr zufrieden oder zumindest zufrieden, auf deutscher Seite wird die Politik von François Hollande lediglich von 38 Prozent positiv bewertet. Im Angesicht der Flüchtlingsdebatte sprechen sich 66 Prozent der Befragten in Frankreich für eine dauerhafte Wiedereinführung der Grenzkontrollen aus, was in Deutschland von 58 Prozent abgelehnt wird.
Stimmen zur Diskussion
Bernard Schembri, Student an der FU Berlin und der Sciences Po Paris, äußert sich kritisch gegenüber einer neuen Führungsrolle von Deutschland und Frankreich:
"Ich bin Europa gegenüber sehr föderalistisch eingestellt. Meiner Meinung nach müssen alle Länder zusammenarbeiten. Ein 'Leadership' von Deutschland und Frankreich halte ich nicht für so gut, das kann auch schlechte Effekte haben. Aber ich mag die Beziehung zwischen den beiden Ländern. Wenn Deutschland und Frankreich sich über ein Thema oder ein Projekt einig sind und die gleiche Meinung haben, ist es leichter, die anderen europäischen Staaten davon zu überzeugen."
Unsicher ist Schembri darüber, ob das Verhältnis von Deutschland und Frankreich tatsächlich noch so gut sei wie es von offizieller Seite beschworen wird:
"Ich studiere einen Doppelmaster in Deutschland und Frankreich, daher sind die deutsch-französischen Beziehungen für mich nicht nur Politik, sondern noch viel mehr. Viele Experten sagen im Moment, dass das Verhältnis nicht mehr so gut ist wie früher. Aber im nächsten Jahr sind Wahlen in Frankreich und Deutschland, vielleicht können wir das ändern."
Steven Bourgeois, Student an der FU Berlin und der Sciences Po Paris, sieht den Brexit nicht als Anfang vom Ende des europäischen Projekts:
"Ich glaube das ehrlich gesagt nicht. Wir müssen den Brexit als eine Möglichkeit betrachten - insbesondere für Frankreich, Deutschland und auch die anderen europäischen Länder - ein neues Europa aufzubauen und die gegenwärtige Lücke zu schließen. Warum hat sich Großbritannien dazu entschieden, aus der EU auszutreten? Auf diese Frage müssen wir eine Antwort finden, um ein besseres Europa aufzubauen und zu verhindern, dass weitere Länder folgen. Eventuell gibt es in Europa eine Art Kampf zwischen jungen und alten Leuten. Aber es ist gut zu wissen, dass die junge Generation mit dem europäischen Projekt einverstanden ist. Ich würde sagen, man sollte nicht von einer Revolution Jung gegen Alt sprechen, sondern von einer stärkeren Vereinbarung über und einer Vertiefung der europäischen Werte."
Benedict Becker, auch Student an der FU Berlin und der Sciences Po Paris, zur Frage, ob Europa an der Flüchtlingspolitik scheitert:
"Die Frage ist, wie man Scheitern definiert. Ob Europa daran zerbricht, weiß ich nicht. Aber dass bestimmte europäische Werte dabei verloren gehen können, sehe ich schon so." Deutschland könne dabei aber durchaus vom Einwanderungsland Frankreich lernen:
"Dass man sich bemüht - so wie das in Frankreich jahrzehntelang funktioniert hat - Menschen, die einen französischen beziehungsweise deutschen Pass haben, auch wirklich als die entsprechenden Staatsbürger zu sehen und nicht immer wieder zu fragen: Wo kommst du eigentlich her? In Frankreich würde niemand sofort fragen: Wo kommen denn deine Vorfahren her? Nur, weil jemand einen Namen hat, der nicht typisch französisch klingt. Sarkozy zum Beispiel ist auch kein typisch französischer Name und als Politiker wurde er nicht darauf reduziert, dass seine Familie ursprünglich mal aus Ungarn kam. Und wir sollten auch nicht bei jedem türkischstämmigen Politiker auf dessen Herkunft verweisen. Also ich würde sagen, Cem Özdemir ist wesentlich mehr Schwabe als Türke, wenn man ihn so hört. Ich glaube da könnte man etwas von Frankreich lernen."
Anna-Lena Schmidt studiert im Masterstudiengang an der Freien und der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Potsdam. Sie erwartet nicht, dass Europa durch die Flüchtlingspolitik infrage gestellt wird:
"Ich glaube nicht, dass Europa direkt an der Flüchtlingsfrage scheitert, sondern eher den fehlenden Werten, die dahinter stehen. Durch die Flüchtlingskrise tritt jetzt mehr oder weniger zutage, was sich schon viel länger im Untergrund manifestiert hat."
In Frankreich gebe es ein völlig anderes Bild von Migration:
"Dort ist das mehr Teil des Alltags als in Deutschland. Obwohl es geschichtlich gesehen eigentlich keine großen Unterschiede gibt, glaube ich, dass die Deutschen Migration immer noch kritischer gegenüber stehen. Ehrlich gesagt weiß ich allerdings nicht, was man sich von Frankreich abschauen kann, gerade im Hinblick auf die Banlieues, in denen sich viele Migranten konzentrieren."
Studentin Jeanne Meyer sieht eine neue deutsch-französische Führungsrolle in der EU kritisch:
"So simpel ist das nicht. Klar gibt es starke Verbindungen zwischen Frankreich und Deutschland, als französische Erasmus-Studentin finde ich das natürlich gut. Aber die Europäische Union ist eine Gemeinschaft. Wenn es unter den Ländern eine Hierarchie gibt, ist es keine europäische Union mehr. Kooperation muss zwischen allen Ländern erfolgen, nicht nur Deutschland und Frankreich dürfen allein die Entscheidungen treffen. Das wäre für die anderen Länder zu Recht ein Grund zu protestieren."
Die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich bewertet Meyer trotz mancher politischer Differenzen als sehr gut:
"Ich komme aus dem Elsass, für uns sind deutsch-französische Beziehungen sehr wichtig. Und ich finde, dass Deutschland und Frankreich sehr gute Verbindungen haben. Zwar gibt es zwischen Hollande und Merkel manchmal auch Differenzen und für die Politik und die Älteren kann ich nicht sprechen, aber vor allem bei den jungen Leuten ist die Stimmung untereinander sehr gut."