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Nach dem Schock

Psychotherapie. - In Lübeck fand vom 4. bis 7. April der 4. Internationale Psychotherapiekongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde statt. Zu den Schwerpunktthemen gehörte in diesem Jahr die Behandlung von Schockopfern.

    Katastrophen wie das Zugunglück von Eschede 1998 lösen bei den Beteiligten häufig einen Schock aus. Um in einem solchen Fall psychologisch zu helfen, hat man bisher alle Betroffenen zusammengerufen, um nochmals über das Erlebte zu sprechen und über mögliche Schocksyndrome aufzuklären. Dieses aus dem militärischen Bereich stammende Verfahren hält man jedoch heute für verbesserungswürdig, weil es einzelnen Personen eher geschadet als genützt hat. Regina Steil von der Universität Jena: "Wir schlagen vor, nicht alle Menschen mit dem Gießkannenprinzip zu betreuen, sondern sehr genau auszuwählen. Man kann sehen, dass die Menschen, die kurz nach dem Trauma am stärksten reagieren und am meisten von auch körperlichen Symptomen geplagt werden, ein sehr hohes Risiko haben, langfristig zu erkranken. Wir sollten die wenigen Ressourcen, die wir haben, um frühzeitig Menschen Hilfestellung zu bieten, auf diese Menschen zuschneidern."

    Problematischer als bisher angenommen sind auch die Schockerlebnisse von kleinen Kindern, die einen Verkehrsunfall hatten. Während man bisher annahm, dass sie eher weniger Probleme bei der Verarbeitung eines solchen Erlebnisses haben, hat eine neue Studie mit 50 Kindern gezeigt, dass die Symptome um so schwerer waren, je jünger das Kind. "Wir haben gefunden, dass die Eltern einen wesentlichen Einfluss auf die Anpassung des Kindes nach dem Ereignis nehmen", berichtet Regina Steil. "Eltern, die das Kind sehr schützen wollen und ihm sagen 'Denk nicht mehr daran, lenk dich ab', unterstützen das Kind nicht so gut wie Eltern, die mit dem Kind darüber sprechen, mit ihm vielleicht die Unfallstelle wieder aufsuchen und ihm helfen, alles was geschehen ist, einzuordnen."

    Menschen mit so genannten Borderline-Störungen, die häufig innerhalb von wenigen Minuten extreme Gefühlsschwankungen durchlaufen, stehen im Mittelpunkt von anwendungsbezogenen Forschungen an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Lübeck. Um den aufgestauten inneren Druck zu entlasten, zerschneiden sich Betroffene die Arme, schlucken Tabletten oder Alkohol und in 50 Prozent aller Fälle wird übermäßig oder gar nicht gegessen. Ursachen sind häufig Gewalt oder eine schwierige familiäre Situation. Im Lübeck geht es zuerst darum, dass sich die Betroffenen nicht mehr verletzen und ihr Essverhalten normalisieren. Die Teilnehmer werfen damit eine Krücke weg, sagt Dr. Ulrich Schweiger von der Lübecker Klinik: "Man gibt etwas weg, was kurzfristig immer gut geholfen hat, und zahlt dafür den Preis, dass dann emotionale Spannungszustände kurzfristig erheblich zunehmen können. Diese Spannungszustände können wir in der stationären Behandlung besser auffangen."

    [Quelle: Gerd Schubert]